Warum The Nation zu Cindy Sheehans Austritt aus der Demokratischen Partei schweigt

Teil 3

Die Zeitschrift The Nation hat eine unrühmliche Geschichte. In den späten dreißiger Jahren war sie Sprachrohr eines Teils der liberalen "Freunde der Sowjetunion" in Amerika. Sie verteidigte die Moskauer Prozesse und die systematische Ausrottung der Sozialisten in der UdSSR durch das stalinistische Regime oder verhielt sich "neutral" dazu.

Wenige Jahre vor Beginn der Säuberungen schrieb der Korrespondent der Nation, Louis Fischer: "Stalin... inspiriert die Partei durch seine Willensstärke und seine Besonnenheit. Wer mit ihm in Kontakt kommt, staunt, mit welcher Kompetenz er zuhören und die Vorschläge und Entwürfe seiner äußerst intelligenten Untergebenen vervollkommnen kann."

Im Editorial ihrer Ausgabe vom 22. August 1936 kommentierte The Nation die bevorstehende Eröffnung des ersten Schauprozesses, des Auftakts zur Liquidierung der Generation von Sozialisten, die die Oktoberrevolution inspiriert und geführt hatten. Dazu erklärte die Zeitschrift: "Es war zu erwarten, dass sich im samtenen Handschuh der neuen sowjetischen Verfassung immer noch die feste eiserne Hand abzeichnen würde. Die Diktatur in Russland ist aber zweifellos am Absterben und die Geburt der neuen Demokratie schreitet langsam voran."

"Zweifellos" - eine neue Schätzung geht davon aus, dass in den Jahren 1937-1938 allein in der UdSSR 950.000 bis 1,2 Millionen Menschen hingerichtet wurden, nach meist nur fünf bis zehn Minuten dauernden Gerichtsverfahren.

In ihrem Bericht über die absurden Beschuldigungen, die während des Prozesses gegen die Alten Bolschewiken erhoben wurden, schrieben die Herausgeber weiter: "Es ist unmöglich, sich derzeit und aus dieser Entfernung ein Urteil darüber zu bilden, wie fundiert die Begründungen für die schwerwiegenden Anschuldigungen gegenüber Sinowjew, Kamenjew und den anderen Angeklagten sind."

Meister des "einerseits" und des "andererseits" bei der Abwägung politischer Fragen, schlug The Nation vor, es so zu sehen: "Es ist unvorstellbar, dass die Sowjetregierung einen öffentlichen Prozess führt, wenn die Schuld nicht nachgewiesen ist, und ebenso unvorstellbar, dass Leo Trotzki mit Agenten des faschistischen Deutschland konspiriert haben könnte, um das Sowjetregime zu stürzen." Im Zweifelsfall mutmaßt das Magazin schließlich doch zu Gunsten des stalinistischen Regimes und seiner Geheimpolizei GPU: "Es kann Mitglieder der locker als ‚Trotzkisten’ bezeichneten Gruppe gegeben haben, die zu Terrorismus und Konspiration gegriffen haben."

In derselben Ausgabe der Zeitschrift pries Fischer die Vorzüge der neuen sowjetischen Verfassung. Bemerkenswerterweise berief er sich dabei auf Wyschinski, den Chefankläger der UdSSR (ein ehemaliger Menschewik, Gegner der Oktoberrevolution und notorischer Karrierist), der am Ende des ersten Prozesses über die Alten Bolschewiken sagte: "Ich fordere, dass wir die tollwütigen Hunde erschießen - jeden einzelnen von ihnen!"

Wyschinski, schrieb der Korrespondent der Nation, "behauptete, die vorrangigen Prinzipien sowjetischer Gerichtsverfahren müssten öffentliche Anhörung, Freiheit der Diskussion, Garantie der Rechte der Angeklagten, Gleichheit aller streitenden Parteien (auch wenn der Staat eine der Parteien ist) und ungehinderte Tätigkeit der Anwälte der Verteidigung sein. Diese Richtlinie ist neu in der Sowjetunion. Sie ist Bestandteil der mit der Verfassung eingeführten Demokratie." Eine zynische Fiktion.

Trotzkis hatte ein klare Einschätzung der Nation und der sozialen Kräfte, deren Interessen sie artikulierte. 1938 schrieb er, The Nation und die New Republic, die "Orakel der ‚liberalen’ öffentlichen Meinung", hätten "keine eigenen Ideen". Die Depression habe sie unvorbereitet getroffen, und sie klammerten sich an die Sowjetunion "wie an einen Rettungsring". Trotzki fuhr fort: "Sie hatten keinerlei unabhängiges Aktionsprogramm für die Vereinigten Staaten, waren aber fähig, ihre Verwirrung mit einer idealisierten Vorstellung der UdSSR zu kaschieren." Daher verschleierten sie auch die ungeheuerlichen Verbrechen des Stalinismus.

Keine eigenen Gedanken, kein unabhängiges Aktionsprogramm, Verwirrung... Heute geht es weiter wie damals. Die fehlende Ernsthaftigkeit und die Hohlheit des amerikanischen Linksliberalismus ist zu spüren, wenn man The Nation liest, die Reden ihrer Repräsentanten anhört, oder sonst etwas mit ihnen zu tun hat. Ihren Standpunkten mangelt es an Substanz und ihrer Opposition zum Status Quo an jeder ernsthaften Begründung.

Die Einschätzungen der Editorials und der anderen Beiträge von The Nation sind zwar literarisch anspruchsvoll und perfekt gestylt, ihr intellektueller Gehalt kann jedoch nur als kümmerlich bezeichnet werden. An nicht einem Punkt unternimmt die Zeitschrift den Versuch, die in der amerikanischen Gesellschaft wirkenden sozialen Kräfte zu erklären, geschweige denn den Versuch, eine umfassende theoretische und historische Analyse vorzulegen.

Wie erklären ihre Autoren die schockierenden Veränderungen, die während der letzten anderthalb Jahrzehnte in den USA stattgefunden haben? Beispielsweise die Verwandlung der Republikanischen Partei in ein quasi-theokratisches politisches Instrument mit neofaschistischer Basis. Wie erklären sie den ständigen Rechtsruck der Demokraten; die permanenten Angriffe auf die in der Verfassung garantierten Rechte; das - von beiden Parteien getragene - ungebremste Bestreben der USA, mit Hilfe ihrer militärischen Überlegenheit die globale Hegemonie zu erobern?

The Nation bietet weder eine seriöse Analyse noch eine Erklärung. Im Gegenteil, die Autoren dieser Zeitschrift sind bestrebt, ihre Leser in den Schlaf zu wiegen. Kurz vor der Wahl 2006 war im Editorial zu lesen: "Wenn es den Demokraten gelingt, die Mehrheit im Repräsentantenhaus oder vielleicht sogar im Senat zu gewinnen, dann hat das Land die Chance, die grundlegende Aufgabe anzupacken, die Demokratie und die Verfassungsordnung wieder herzustellen, die Bush & Co. so sehr entweiht haben...

Eine Halbzeitwahl zum Kongress, die noch vor ein paar Monaten kaum jemanden in ihren Bann schlug, hat sich in eine potentiell günstige Gelegenheit verwandelt. Sie könnte zu einer Richtungsänderung der Politik führen, die niemand vorhergesehen hat. Sie könnte unvermittelt einen politischen Spielraum eröffnen, den es während des vergangenen Jahrzehnts nicht gab. Das wäre eine Menge. So hoffen wir."

Nachdem die Demokraten im Kongress die Mehrheit bekommen hatten, wurde der Krieg ausgeweitet, der Drang der Wirtschaftselite, riesige private Vermögen anzuhäufen, besteht weiter. Ordentliche Normalarbeitsplätze und Sozialleistungen werden weiterhin zerstört.... Kein einziger Tagtraum der Nation wurde verwirklicht. Die Herausgeber und die Autoren sind unfähig zu der Selbstkritik, die man braucht, um sich selbst Rechenschaft abzulegen. Ihre gesicherte soziale Position und ihre Selbstzufriedenheit halten sie davon ab, die höchst unerfreulichen und harten Tatsachen ans Tageslicht zu bringen.

Bush, der Krieg, die soziale Ungleichheit und was es sonst noch gibt, sind unerfreulich, vielleicht auch beunruhigend für die Redaktion von The Nation - aber es sind relativ zweitrangige Unannehmlichkeiten. Ihr tägliches Dasein wird dominiert vom Auf und Ab der Wahlen, der Politik der Demokratischen Partei, der Entwicklung der persönlichen Karriere und ihres gesellschaftlichem Status’ (Buchverträge, akademische Positionen, die Zugehörigkeit zu Seilschaften in bestimmten Think Tanks, Beförderung oder Degradierung bei verschiedenen Zeitschriften), die Lage am Immobilien- oder Aktienmarkt, und auch die inzestuösen Beziehungen und engstirnigen Rivalitäten, die derartige Kreise stets in Atem halten.

Die Autoren von The Nation kritisieren den Irakkrieg, aber worauf gründet ihre Opposition? Sie ist ihrer Beziehung zur Demokratischen Partei, zur Gewerkschaftsbürokratie und anderen Institutionen vollständig untergeordnet und daher genauso schwächlich wie die Demokraten selbst im Kongress.

Harry Reids und Nancy Pelosis Partei vertritt eine Fraktion der herrschenden Elite. Ihre Meinungsverschiedenheiten mit den Republikanern sind von taktischer Art und zweitrangiger Bedeutung. Es gibt keine andere Erklärung für ihr erbärmliches Verhalten. Angesichts der Massenopposition gegen Bush und den Krieg im Irak hat die Demokratische Partei vor der Regierung kapituliert und sich voll und ganz auf ihre Seite geschlagen.

Daraus müssen die notwendigen Schussfolgerungen gezogen werden: die zwei Parteien sind sich einig über die grundsätzlichen strategischen Fragen, mit denen der amerikanische Kapitalismus konfrontiert ist. Ernsthafte Opposition gegen den Krieg, die das Problem an der Wurzel packt, und eine Unterstützung der Demokratischen Partei schließen einander aus. Wie Cindy Sheehan haben auch viele andere dies durch schmerzhafte Erfahrungen herausgefunden.

Letztendlich ist das Engagement von The Nation so engstirnig und hohl wie das der tonangebenden Medien in den USA. Wie diese Medien ist die linksliberale Zeitschrift nicht fähig, oder nicht willens, politische Positionen im Zusammenhang mit Klassenfragen zu betrachten, oder wenigstens im Zusammenhang mit den politischen Positionen der Leute, die sie unterstützt oder zu beeinflussen hofft.

Sie sind sich dieser Fragen durchaus bewusst. Wenn eine Schmutzkampagne nützlich erscheint, kann auch The Nation auf gewisse empirische Tatsachen zugreifen - zum Beispiel machte ein kürzlich veröffentlichter Artikel deutlich, dass Hillary Clinton mächtigen Wirtschaftsinteressen verpflichtet ist. ("Hillary Inc.", 4. Juni 2007)

Aber daraus werden keine verallgemeinernden Schlussfolgerungen gezogen. Die Zeitschrift springt von einer katastrophalen Episode der Demokraten zur nächsten, streift die Oberfläche und huldigt dem schlimmsten journalistischen Impressionismus. Beispielsweise endet der Artikel zu Clinton lahm: "Sie versucht zu tricksen und zu manipulieren, wenn sie Teile der demokratischen Basis hofiert und gleichzeitig den rechten Wirtschaftsinteressen signalisiert, dass sie nicht am bestehenden System rütteln wird. Selbst als First Lady der Winkelzüge wird sie die Sache so nicht schmeißen können."

Die Linksliberalen haben weder eine zusammenhängende noch eine überzeugende theoretische Konzeption der amerikanischen Gesellschaft. Nichols kritisiert die Demokraten wegen ihrer angeblichen Fehltritte und unterstützt sie als Partei dennoch weiter. Welche Konzeption hat Nichols in Bezug auf die sozialen Klassen in den USA? Und für welche sozialen Strömungen stand zum Beispiel Cindy Sheehan?

Darüber lässt sich Nichols nicht aus und gibt lieber Banalitäten von sich: "Eine Mutter wurde durch schlimme Umstände und eine wunderbare Entschlossenheit an die Spitze einer Bewegung gespült, die auf der Suche nach einer Stimme war." Jetzt da Sheehan Nichols wichtigeren politischen Verpflichtungen in die Quere zu kommen droht, entledigt er sich ihrer und hofft, dass sie schnell in Vergessenheit gerät. Solche liberalen Elemente haben keine seriöse Antwort auf die soziale Krise, und ihre politischen Schlussfolgerungen lassen einem die Haare zu Berge stehen. Für Sheehan steht die Frage im Vordergrund, den Krieg zu beenden - was es auch kosten möge. Sie ist ehrlich und steht für Authentizität und eine gesunde Haltung, trotz ihrer unkorrekten Einschätzung der arbeitenden Menschen in den USA. Ihre Ehrlichkeit gerät in Konflikt mit der opportunistischen Agenda der Demokratischen Partei und ihres Umfeldes, das lediglich auf Positionen im Rahmen der bestehenden politischen Verhältnisse aus ist.

Zum Teil hat Sheehan diese Verhältnisse durchschaut. Sie bezeichnet (in einem Interview) die Vorstellung, dass der in MoveOn.org organisierte liberale Flügel der Demokraten die "linke Antikriegsbewegung in Amerika" repräsentieren soll, als "lachhaft". In ihrem offenen Brief an die Demokraten im Kongress, den Nichols lieber ignoriert, erklärt sie ihre Absicht, "einen Ausweg aus diesem mit der Kriegsmaschinerie verfilzten ‚Zwei’-Parteien-System zu finden, das alle Aspekte unseres Lebens im Würgegriff hat. Für mich heißt das, aus der Demokratischen Partei auszutreten."

Sheehan hat eine wichtige Erfahrung gemacht, die eine weitaus umfassendere gesellschaftliche Erfahrung vorausnimmt, nämlich einen entschiedenen Bruch der Masse der Bevölkerung mit der Demokratischen Partei. Die Zeitschrift The Nation ist darüber beunruhigt, und deshalb schweigt sie sich über ihre Stellungnahme aus.

In einem Essay mit dem Titel: "Die Priester der Halbwahrheit" gab Trotzki 1938 folgende Kritik an der Nation und ihrem Umfeld: "Ihre Philosophie spiegelt ihre eigene Welt wieder. Was ihr soziales Wesen betrifft, handelt es sich um intellektuelle Halb-Bourgeois. Ihre geistige Nahrung besteht aus Halb-Gedanken und Halb-Gefühlen. Sie haben vor, die Gesellschaft mit Halb-Maßnahmen zu kurieren. Da sie den historischen Prozess als ein zu instabiles Phänomen ansehen, weigern sie sich, sich mehr als fünfzig Prozent zu engagieren. Daher sind diese Leute, die mit Halb-Wahrheiten, den schlimmsten aller Lügen, leben, zu einer richtigen Bremse für wirklich fortschrittliches, d.h. revolutionäres Denken geworden.

Die Neuen Massen (eine stalinistische Publikation) ist schlicht ein Mülleimer, der die Menschen durch seinen Geruch zur Vorsicht mahnt. The Nation und die New Republic (Neue Republik) sind viel ‚ordentlicher’ und ‚netter’ und... riechen nicht so schlecht. Aber um so gefährlicher sind sie auch. Der beste Teil der neuen Generation amerikanischer Intellektueller kann auf der breiten Straße der Geschichte nur unter der Voraussetzung eines vollständigen Bruchs mit den Orakeln der ‚demokratischen’ Halb-Wahrheit vorwärts kommen."

Wenn das vor 70 Jahren zutraf, was ist unter Berücksichtigung der enormen und sozial ungesunden Verwandlung von The Nation und ihrer Umgebung heute zu sagen? Viertel-Wahrheit? Achtel-Wahrheit? Oder noch weniger?

Schluss

Siehe auch:
Warum The Nation zu Cindy Sheehans Austritt aus der Demokratischen Partei schweigt - Teil 1
(29. Juni 2007)
Warum The Nation zu Cindy Sheehans Austritt aus der Demokratischen Partei schweigt - Teil 2
(3. Juli 2007)
Amerikanische Antikriegs-Gruppen schweigen über Cindy Sheehans Austritt aus der Demokratischen Partei
(14. Juni 2007)
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