Marxismus, Geschichte und sozialistisches Bewusstsein

Teile 17-19

Die World Socialist Web Site setzt heute die Veröffentlichung der deutschen Übersetzung von "Marxism, History & Socialist Consciousness" von David North fort. Es handelt sich um die Antwort auf eine Kritik der Politik des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, die von Alex Steiner und Frank Brenner unter dem Titel "Objektivismus oder Marxismus" verfasst wurde. Steiner und Brenner sind ehemalige Mitglieder der Workers League (der Vorgängerin der heutigen Socialist Equality Party). David North ist Nationaler Sekretär der Socialist Equality Party in den USA und Chefredakteur der WSWS.

Die englischsprachige Originalfassung von Norths Antwort ist kürzlich bei Mehring Books in Buchform erschienen und kann online bestellt werden.

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17. Bernstein, Wissenschaft und Sozialismus

Sowohl in deinem, Genosse Brenners Dokument, als auch in eurem gemeinsamen Brief behauptet ihr wiederholt, die Ablehnung des Utopismus in der Zeit der Zweiten Internationale sei weitgehend eine Folge des anwachsenden Opportunismus gewesen. Ihr schreibt: "‚Wissenschaft’ war in der Zweiten Internationale vor dem Krieg nicht einfach eine teilnahmslose Weiterentwicklung der Theorie, wie North zu glauben scheint; sie war in zunehmendem Maße ein Alibi für das Zurückweichen vor revolutionärer Verantwortung, für die angeblich die ‚objektiven Bedingungen’ Sorge tragen würden. Daher die Notwendigkeit, den Utopismus zu einem wahren Tabu zu machen: Er bedrohte nicht so sehr die Wissenschaft, als vielmehr diesen Objektivismus. In der wirklichen Entwicklung des Marxismus jedoch war der wissenschaftliche Sozialismus eben das dialektische ‚Aufheben’ [deutsch im Original] seiner utopischen Vorläufer; Utopie und Wissenschaft waren nicht so sehr eine rigide Dichotomie, sondern vielmehr eine Einheit der Gegensätze, wie leicht ersichtlich wird aus solch entscheidenden Werken wie der Kritik des Gothaer Programms oder Staat und Revolution, ganz zu schweigen von dem kleinen Juwel, Paul Lafargues Recht auf Faulheit."

Diese Darstellung der Ursprünge des Anti-Utopismus, unterfüttert mit pseudodialektischer Phrasendrescherei in zwei Sprachen, ist grundfalsch. [23] Bernstein war kein Feind des Utopismus - er wandte sich gegen die Auffassung, die sozialistische Bewegung müsse ihre Existenzberechtigung auf wissenschaftlicher Grundlage nachweisen. Er schrieb: "Während wir auf der Seite der praktischen Bewegung den Sozialismus in beständigem Aufstieg vor uns sehen, die sozialistischen Parteien in fast allen Ländern Erfolge über Erfolge erringen, die Arbeiterbewegung Position über Position gewinnt und immer sicherer auf bestimmte, selbstgesetzte Ziele vorrückt, ihre Forderungen immer klarer formuliert, scheint auf dem Gebiet der Wissenschaft der Sozialismus statt größerer Einheit der Zersetzung der Theorie entgegenzugehen, scheint statt Sicherheit Zweifel und Zerfahrenheit sich der theoretischen Vertreter des Sozialismus zu bemächtigen. Und so erhebt sich, wenn wir sehen, wie das eine das andere nicht hindert, ganz naturgemäß die Frage, ob überhaupt ein innerer Zusammenhang zwischen Sozialismus und Wissenschaft besteht, ob ein wissenschaftlicher Sozialismus möglich und - ich füge als Sozialist die Frage hinzu - ob ein wissenschaftlicher Sozialismus überhaupt nötig ist." [Eduard Bernstein, Wie ist wissenschaftlicher Socialismus möglich?, Berlin 1901, Verlag der Socialistischen Monatshefte, S. 17, Nachdruck in: Helmut Hirsch (Hrsg.), Ein revisionistisches Sozialismusbild. Drei Vorträge von Eduard Bernstein, Hannover 1966, Dietz Nachf., Hervorhebungen im Original.]

Bernstein glaubt nicht, es sei notwendig (oder auch nur wünschenswert), dass der Marxismus seine Verbindungen zum Utopismus bestreite, deren Präsenz er in der sozialistischen Bewegung für unausweichlich hielt: "Ob aber als Zustand, als Lehre oder Bewegung aufgefasst, immer ist der Sozialismus hierbei mit einem idealistischen Element versetzt, entweder selbst dieses Ideal oder die Bewegung nach einem solchen hin. Es ist so ein Stück Jenseits - selbstverständlich nicht jenseits unseres Planeten, auf dem wir leben, wohl aber jenseits von dem, worüber wir positive Erfahrung haben." [Ebenda, S. 19, Hervorhebungen im Original.]

Eure Behauptung, Bernstein habe die "Gegenüberstellung von Utopismus und Wissenschaft zu ihrer logischen Schlussfolgerung" geführt, ist ganz einfach eine Fehlinterpretation dessen, was der Begründer des modernen Revisionismus schrieb. Mit großer Sorgfalt erklärte er, dass er das Wort "Utopie" nicht "als gleichbedeutend mit überspannter träumerischer, ins Unrealisierbare fliegender Phantastik" verwende. Es wäre "die größte Ungerechtigkeit von der Welt", eine solche Auslegung des Worts "mit Leuten wie Robert Owen, Henry Saint-Simon, Charles Fourier in Verbindung zu bringen, diesen Vorläufern des modernen Sozialismus, die man gewöhnlich als die drei großen Utopisten des XIX. Jahrhunderts bezeichnet." [Ebenda, S. 22f.] Weit entfernt, Marxismus und Utopismus als Gegensätze darzustellen, schrieb Bernstein: "Betrachten wir nun im Verhältnis zu den Doktrinen der drei sogenannten Utopisten die marxistische Lehre, so werde wir finden, dass bei dieser das wissenschaftliche Element zwar bedeutend stärker fundiert und entwickelt ist, als in jenen, dass aber hier so wenig wie dort die Wissenschaft alles ist. Das Gebiet, das der von der Tendenz, dem Willen, geleiteten Phantasie freigelassen ist, ist enger gezogen und seine Richtung stärker abgegrenzt, aber es ist darum doch nicht völlig verschwunden." [Ebenda, S. 28, Hervorhebung im Original.]

Bernstein beschuldigte Engels, den Graben zwischen den Werken von Marx und seinen utopischen Vorläufern übertrieben tief dargestellt zu haben. "Nach der Seite der Owen, Fourier, Saint-Simon hin lässt es [das von Engels Gesagte] den Rang, in dem bei ihnen das Entdecken gegenüber dem Erfinden steht, als zu ungünstig erscheinen, auch sie haben auf das erstere den größeren Wert gelegt. Für den modernen Sozialismus aber proklamiert es eine Freiheit von der Erfindung, die er meines Dafürhaltens weder hat noch haben kann." [Ebenda, S. 29]

Wie diese Passagen klar aufzeigen, erkannte Bernstein, dass die wichtigste Bedrohung seines revisionistischen Vorhabens nicht vom Utopismus, sondern von der Identifikation von Sozialismus und Wissenschaft herrührte. Wenn ihr den "Objektivismus" und die "Enthaltsamkeit" des IKVI beklagt, dann knüpft ihr an Bernsteins Standpunkte an. Darüber hinaus stellt ihr euch, wenn ihr eine Wiederbelebung des "sozialistischen Idealismus" als programmatische Grundlage einer neuen sozialistischen Kultur fordert, in einer philosophischen Schlüsselfrage eindeutig ins Lager der Revisionisten. Der ganzen "Zurück zu Kant" Bewegung, die in den späten 1860er Jahren begann und schließlich eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung der theoretischen Ansichten Bernsteins und seiner Unterstützer spielen sollte, lag die Auffassung zugrunde, der Kampf für den Sozialismus erfordere keine wissenschaftliche Begründung. Die Berufung auf moralische Ideale - wie das in Kants zweiter Formulierung des kategorischen Imperativs ausgedrückte: "Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst" - könne dem Kampf für den Sozialismus ebenso gut dienen, wie Marx’ Konzeption des historischen Determinismus. Eine Gruppe deutscher Akademiker, wie Karl Vorländer, forderte im späten 19. Jahrhundert sogar, die sozialistische Bewegung solle ihr philosophisches Erbe in Kant sehen. Bei eurer schlecht informierten Hast, die grundlegenden Konzeptionen des historischen Materialismus über Bord zu werfen, zeigt ihr wenig Interesse für die theoretischen Wurzeln und Implikationen eurer eigenen Argumente.

18. Der Neo-Utopismus und die Demoralisierung der kleinbürgerlichen Linken

Laut eurem Dokument ist mein Hinweis auf den Neo-Utopismus lediglich ein von mir heraufbeschworener "Strohmann". Ihr behauptet, ich hätte lediglich aus einem einzigen Werk zitiert, Vincent Geoghegans Utopismus und Marxismus, um meine Behauptung zu untermauern, dass es eine solche Strömung gebe und dass sie eine zeitgenössische Form des politischen Pessimismus sei. Tatsächlich habe ich auch aus dem Socialist Register für das Jahr 2000 zitiert, das den Titel Nötige und unnötige Utopien trägt. Zugegeben: Ich hätte beim Zitieren dieses Werkes großzügiger vorgehen sollen, ein Mangel, der sich leicht beheben lässt. Gestattet mir ein Zitat aus dem Vorwort:

Das Thema dieser Ausgabe des Socialist Register wurde zuerst im Jahre 1995 ins Auge gefasst, wobei wir uns besonders die folgende Frage stellten: Was soll heute, da wir uns dem Jahrtausendwechsel nähern, an die Stelle des ersten großen sozialistischen Projekts treten, das im 19. Jahrhundert in Westeuropa ersonnen und im 20. Jahrhundert verschiedentlich erprobt wurde? Wir hingen nicht der Illusion an, diese Frage würde sich beantworten lassen, indem sich linksgerichtete Intellektuelle das Hirn zermartern, egal wie viele es sind. Wir waren aber der Meinung, die Zeit sei gekommen für eine Erneuerung der Vision und des Geistes der Linken - und dass das Register hoffen dürfe, etwas Nützliches zu diesem Ziel beizutragen. Wir wollten mit dem Erbe einer gewissen marxistischen Denkweise brechen, die das utopische Denken allein deswegen als "unwissenschaftlich" zurückwies, weil es utopisch sei, und die dabei völlig ignorierte, dass ein nachhaltiger politischer Kampf unmöglich ist ohne die Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft, die wir uns im Prinzip und in ihren Grundzügen vorzustellen vermögen. Und vor allem spürten wir, dass angesichts des Zusammenbruchs des Kommunismus und der Zurückweisung jeder Identifikation mit dem sozialistischen Projekt durch die Sozialdemokratie des "Dritten Weges" nunmehr eine Offenheit für und ein Bedarf nach imaginativem Denken bestanden - besonders im Kontext der zunehmenden Krise der neoliberalen Restauration. [Suffolk, 1999, S. VII]

Die Verbindung zwischen Neo-Utopismus und der unter einer Schicht von Intellektuellen, Sozialisten und ehemaligen Radikalen vorherrschenden Demoralisierung tritt klar hervor im ersten Beitrag zu diesem Werk, geschrieben von Leo Panitch und Sam Gindin, und betitelt "Jenseits des Pessimismus: Das Wiederaufleben sozialistischer Vorstellungskraft". Viele der in Brenners Essay auftauchenden Themen werden hier vorweggenommen, einschließlich der Beschwörung des Werkes von Ernst Bloch, von dem du, Genosse Brenner, den Titel deines Traktats über den Utopismus entlehnt hast ("Eine Sache zu kennen, heißt ihr Ende zu kennen"). [24] Dein eigenes Werk ist deutlich von diesem Kapitel beeinflusst. Dein Leugnen, dass der heutige Utopismus eine Antwort auf den Pessimismus darstellt, ist daher etwas sonderbar. Wie Panitch und Gindin aufzeigen, war Blochs eigenes Werk von dem Bemühen getragen, dem aus den Katastrophen der 30er Jahre hervorgegangenen Pessimismus etwas entgegenzusetzen. Sie schreiben: "Blochs Antwort war der Versuch, die Idee der Utopie wiederzubeleben. Er bestand darauf, dass wir sogar in einer Welt, in der die sozialistische Politik an den Rand gedrängt ist, wenn auch nur in Tagträumen immer noch die unzerstörbare Sehnsucht des Menschen nach Glück und Harmonie auffinden können, eine Sehnsucht, die beständig gegen den wirtschaftlichen Wettbewerb, das privates Eigentum und den bürokratischen Staat ankämpft." [ebd., S. 2]

Panitch und Gindin machen keinen Hehl aus ihrer Auffassung, der Marxismus basiere auf einer unrealistischen, übertriebenen Einschätzung des revolutionären Potentials der Arbeiterklasse. Sie schreiben: "Man muss sagen, dass der historische Optimismus, der Generationen von Sozialisten inspirierte, mit einer Unterschätzung des Maßstabs und der Bedeutung des utopischen Traumes und der vom Kapitalismus erzeugten Institution einherging, der die Ehre verliehen - oder aufgebürdet - worden war, ihn zu verwirklichen: der Arbeiterklasse. Zwischen Marx’ weiten, historisch-inspirierten Vision von Revolution und Umgestaltung und seiner ausgefeilten Kritik der politischen Ökonomie klaffte eine analytische und strategische Lücke, die - unüberbrückbar ohne die Problematik der Befähigung der Arbeiterklasse anzusprechen - von Marxisten später zuweilen angegangen, aber niemals überwunden wurde... Jede fortschrittliche soziale Bewegung muss sich früher oder später die unvermeidliche Tatsache vor Augen führen, dass der Kapitalismus unsere Fähigkeiten verkrüppelt, unsere Träume beschneidet und sich unsere Politik einverleibt." [ebd., S.5]

Genossen Steiner und Brenner, ihr habt das gute Recht, das Internationale Komitee zu kritisieren, aber haltet uns bitte nicht zum Narren. Wir sind ziemlich vertraut mit der Literatur, die in kleinbürgerlichen politischen und akademischen Kreisen zirkuliert, und wir vermögen die Quellen zu identifizieren, mit denen ihr arbeitet. Behauptet also bitte nicht, der Neo-Utopismus (und der Pessimismus, von dem er sich herleitet) sei ein "Strohmann", den wir geschaffen hätten, um euren brillanten und originellen Ideen entgegenzutreten. Uns täuscht ihr damit nicht - ihr täuscht nur euch selbst.

Weiter kritisiert ihr die Bezugnahme auf Geoghegans Utopie und Marxismus in meinem ersten Vortrag. Ihr werft mir vor, ich triebe eine "Flickschusterei mit aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten, mit dem Zweck, Geoghegan (und damit den ‚Neo-Utopismus‘) einer linken Version der Mythenbildung im Stile der Nazis zu überführen. Doch das wiederum ist Unsinn, wie jedem augenscheinlich wird, der sein Buch liest. Geoghegan macht in dem von North angeführten Zitat den Punkt, dass die Nazis in ihren massenpsychologischen Methoden weit effektiver waren als die deutsche Linke." [25]

Die Zitate sind keineswegs aus dem Zusammenhang gerissen. Im Gegenteil: Weitere, ausgedehntere Zitate hätten meine Einschätzung seines Buches nur bestärkt, das dem Marxismus vorwirft, er habe den Einfluss und die Bedeutung des Irrationalen für die menschlichen Verhaltensmotive unterschätzt. Ich zitierte Geoghegans Kritik an Marx und Engels. Er warf ihnen vor, sie hätten es versäumt, "eine Psychologie zu entwickeln", und fuhr fort: "Zur Frage der Komplexität menschlicher Motivation hatten sie ein recht armseliges Erbe hinterlassen, und die meisten ihrer unmittelbaren Nachfolger hatten wenig Anlass gesehen, diesem Mangel abzuhelfen."

Stellen wir das Zitat in den Zusammenhang, aus dem es "gerissen" wurde. Bei Geoghegan heißt es:

Es gab im Marxismus stets etwas, was man als rationalistische Strömung bezeichnen könnte. Sie geht von einem Modell des Individuums aus, das aus der Aufklärung stammt, und der wichtigste Unterschied besteht für sie zwischen Wissen und Unwissen. Darin sieht sie den Schlüssel zum zentralen Paradoxon des Kapitalismus: Dass die Menschen sich mit Bedingungen abfinden, die nicht in ihrem Interesse sind. Das Unwissen, das sich als falsches Bewusstsein und Entfremdung äußert, manifestiert sich in einer Vielzahl irrationaler Meinungen und Verhaltensweisen. Brechen die Menschen jedoch einmal aus diesem Kokon der Illusionen aus, hören sie auf, sich derart sonderbar zu benehmen. Das ist der Geist von Pottiers "Internationale": "Wacht auf, Verdammte dieser Erde/ die stets man noch zum Hungern zwingt!/ Das Recht(wie Glut im Kraterherde/ nun mit Macht zum Durchbruch dringt." Solch eine Sicht neigt dazu, die Wissensträger zu bevorzugen: Diejenigen, die aus Platos Höhle, der Schattenwelt, herausgetreten sind und das Licht der Wahrheit gesehen haben. Eine kräftige Dosis dieser Art Rationalismus fand sich im Marxismus der Zweiten Internationale. Er trug dazu bei, die Besessenheit von der Wissenschaft anzuheizen. Ein Grund dafür, und selbst Teil des Problems, war Marx’ und Engels’ Versäumnis, eine Psychologie zu entwickeln. Zur Frage der Komplexität menschlicher Motivation hatten sie ein recht armseliges Erbe hinterlassen, und die meisten ihrer unmittelbaren Nachfolger hatten wenig Anlass gesehen, diesem Mangel abzuhelfen. Ein einfaches Konzept des Individuums stand neben vereinfachenden gesellschaftlichen Strategien. [London und New York, 1987, p. 67f. Die im Vortrag vom letzten Sommer zitierte Stelle ist hervorgehoben.]

Der gesamte Absatz widerspricht meiner Zusammenfassung von Geoghegans Argument in keiner Weise. Anstatt euch zu beschweren, ich hätte den Autor falsch zitiert, solltet ihr lieber erklären, warum ihr mit seinen Ansichten übereinstimmt, und wie es dazu gekommen ist. Eure zwiespältige Einstellung zur Aufklärung habe ich bereits angesprochen. Der zitierte Abschnitt enthüllt nicht nur die Herkunft eures früheren Einwandes gegen meine "unkritische Verteidigung der Aufklärung", er stellt auch klar, dass ihr mit eurer Umarmung des Neo-Utopismus in äußerst ungesunde ideologische und politische Gesellschaft geraten seid. [26]

19. Was steht wirklich bei Daniel Guérin?

Wiederholt behauptet ihr, das Internationale Komitee verstünde die Bedeutung der "menschlichen Faktoren" im Kampf für den Sozialismus nicht und ignoriere diese daher. Wir begehen euch zufolge damit denselben Irrtum wie die Stalinisten und Sozialdemokraten vor dem Sieg Hitlers im Jahre 1933. Diese hätten "im Namen eines falschen ‚Materialismus’ die Rolle des politischen Idealismus bei der Mobilisierung von Massenunterstützung" verachtet. Zum Beleg beruft ihr euch auf das bekannte Buch Faschismus und Großkapital, das der damalige Trotzkist Daniel Guèrin während der 30er Jahre schrieb. Aus diesem 318 Seiten langen Buch zitiert ihr genau einen Absatz. "Die degenerierten Marxisten glauben, es sei sehr ‚marxistisch’ und ‚materialistisch’, den menschlichen Faktor zu verschmähen. Sie häufen Daten, Statistiken und Prozentzahlen an; mit großer Sorgfalt studieren sie die tiefen Ursachen gesellschaftlicher Phänomene. Doch weil sie nicht ebenso gründlich studieren, wie sich diese Ursachen im Bewusstsein des Menschen wiederspiegeln, und weil sie nicht in die Seele der Menschen eindringen, begreifen sie die lebendige Wirklichkeit dieser Phänomene nicht."

Ihr kommentiert diesen Abschnitt wie folgt: "Genau das sagten Reich und Fromm in den Dreißigern, und genau das greift Geoghegan in den Bemerkungen auf, die North so empörend findet." Ihr wollt den Leser also zum Schluss verleiten, Guérin habe geglaubt, eine zu große Betonung der Wissenschaft und der materialistischen Erklärung objektiver Bedingungen, gepaart mit einem Mangel an psychologischem Verständnis bei den Marxisten, habe in beträchtlichem Maße zum Sieg der Nazis beigetragen. Da Guérin während der 30er Jahre ein bekannter Trotzkist war, sollen eure Leser wohl auch glauben, dies sei die Ansicht Trotzkis gewesen.

Doch einmal mehr ist eure Darstellung eines Zitates irreführend und unehrlich. Ihr zitiert drei Sätze zur Unterstützung eurer Argumente, die sich - wie wir sehen werden - völlig von denen Guérins unterscheiden. Wer sind die "degenerierten Marxisten", von denen er schrieb? Auf welche "falschen Materialismus" bezog er sich?

Wiederholen wir also die Prozedur, die wir schon mehrfach im Laufe dieses Dokuments angewandt haben: Gehen wir zurück zum Text des Autors selbst und stellen wir euer Zitat in den angemessenen Zusammenhang. Das Kapitel, aus dem ihr das Zitat entnommen habt, trägt den Titel "Faschistische Mystik" und es bietet eine wertvolle Auflistung der Propaganda- und Agitationsmethoden, derer sich die Faschisten bedienten, um die Massen zu verwirren und zu täuschen. Guérin zeigt auf, dass die Appelle der Faschisten an die Gefühle und den blinden Glauben ihrer potentiellen Anhänger von den Klasseninteressen bestimmt waren, denen sie dienten. "Eine Partei, die von den der herrschenden Klassen gestützt wird und das geheime Ziel verfolgt, die Privilegien der besitzenden Klassen zu schützen, hat kein Interesse daran, sich an die Intelligenz ihrer Rekruten zu wenden, bzw. hält es für ratsam, sich nicht an deren Verständnis zu wenden, bevor sie sorgfältig umgarnt worden sind." [ Fascism and Big Business, New York, 1973, S. 63](

Guérin fährt dann fort und erklärt, dieser Appell an den blinden Glauben werde dadurch erleichtert, dass der Faschismus "sich in der glücklichen Lage befindet, seinen Appell an die Unglücklichen und Unzufriedenen richten zu können". Er beobachtet: "Es ist ein psychologisches Phänomen, so alt wie die Welt, dass Leid zu Mystizismus prädisponiert. Wenn der Mensch leidet, so weist er die Vernunft zurück; er hört auf, logische Abhilfe für seine Krankheit zu suchen, er hat nicht mehr den Mut, einen Versuch zu seiner eigenen Rettung zu unternehmen. Er erwartet ein Wunder und ruft nach einem Retter, dem zu folgen und für den sich zu opfern er bereit ist. Schließlich hat der Faschismus gegenüber dem Sozialismus - wenn man überhaupt so sagen darf - den Vorteil, dass er die Massen verachtet. Er zögert nicht, sie mittels ihrer Schwächen zu erobern." [ebd., S 63f.]

Man muss nur diesen Abschnitt lesen, um zu erkennen, wie grundsätzlich unvereinbar die Anschauungen Guérins mit denen Geoghegans sind, die ihr so warmherzig begrüßt. Guérin sieht im Irrationalismus der faschistischen Herangehensweise einen Ausdruck von dessen reaktionärer Zielsetzung, und nicht ein psychologisches Modell, aus dem man lernen, geschweige denn dem man nacheifern sollte.

Einige Seiten weiter unten stellt Guérin nach Vervollständigung seiner Analyse der faschistischen Propaganda und der Techniken zur Massenmobilisierung die kritische Frage: " Was hat die Arbeiterbewegung getan, um die faschistische ‚Mystik’ zu bekämpfen ?" Die Gründe, die Guérin für das Versagen der Arbeiterbewegung bei der Entwicklung effektiver Methoden anführt, haben keinerlei Ähnlichkeit mit den von Geoghegan vertretenen Positionen. Zunächst einmal stellt er klar, dass gewisse Probleme, vor denen Sozialisten auf dem Gebiet der Massenagitation stehen, aus der "ureigenen Natur" des Sozialismus entspringen. "Der Sozialismus", so erklärt er, "ist weniger eine Religion, als vielmehr eine wissenschaftliche Konzeption. Er wendet sich daher mehr an Intelligenz und Aufnahmefähigkeit, denn an die Sinnes- und Vorstellungskraft. Der Sozialismus liefert keinen Glauben, den man sich ohne weitere Diskussion aneignen soll. Er liefert eine rationale Kritik der kapitalistischen Gesellschaft und verlangt von jedermann, bevor er ihn zu seinen Anhängern zählt, eine Anstrengung der eigenen Vernunft und Urteilskraft. Er wendet sich mehr an das Gehirn, als an Auge oder Nerven; er versucht den Leser oder Zuhörer nüchtern zu überzeugen, und nicht ihn mitzureißen, ihn zu bewegen oder ihn zu hypnotisieren." [ebd., S. 73]

Guérin gibt zu, dass die Propagandamethoden des Sozialismus "verjüngt und modernisiert" werden müssen, um "für die Massen besser erreichbar zu sein und zu ihnen in einer klaren und direkten Sprache zu sprechen, die sie verstehen". Doch er versieht diesen Vorschlag sofort mit der Warnung: "Der Sozialismus kann sich bei Strafe des Selbstverrats nicht wie der Faschismus an die niederen Instinkte der Massen wenden. Im Gegensatz zum Faschismus verachtet er die Massen nicht, sondern respektiert sie. Er will, dass sie besser werden, als sie sind, dass sie zu dem Bild des bewussten Proletariats werden, aus dem der Sozialismus hervorgeht. Er strebt nicht danach, ihr intellektuelles und moralisches Niveau zu senken, sondern umgekehrt es zu heben." [ebd., S. 73f, Betonung im Original]

Genossen Steiner und Brenner, zu eurer eigenen Schande habt ihr diese wundervollen und schönen Worte nicht zitiert. Denn ihr wisst sehr genau, dass sie das marxistische Vertrauen in die Macht der Vernunft sowie die Ansicht verteidigen, der Sieg des Sozialismus erfordere die Hebung des politischen Bewusstseins, und nicht die Manipulation des Unbewussten. An keiner Stelle in Guérins Buch wird suggeriert, des Marxismus leide daran, dass er "von der Wissenschaft besessen" sei. Wir sollten nicht vergessen, dass Guérin mit seinem Buch das Ziel verfolgte, die objektiven ökonomischen und politischen Verbindungen zwischen Faschismus und der herrschenden Elite aufzudecken, das bedeutet, eine wissenschaftliche Einsicht in das politische Phänomen "Faschismus" zu geben.

Doch warum erwies sich dann der Sozialismus als unfähig, der Agitation der Faschisten effektiv die Stirn zu bieten? In welchem Sinne war die sozialistische Bewegung "degeneriert"? Guérins Antwort ist, dass die sozialistische Bewegung von politischem Opportunismus geprägt war. "Man begann zu glauben, dass sowohl unmittelbare Fortschritte als auch das ‚Paradies auf Erden’ ohne Kämpfe und Opfer erreicht werden könnten, durch die vulgäre Praxis der ‚Klassenkollaboration’". [ebd., S. 74] Mit Verachtung schreibt er über die Arbeiterbürokraten. In eindringlicher Weise schildert er sie als "konservativ und der Routine verpflichtet, in der bestehenden Ordnung verwurzelt, als wohlgenährte und selbstzufriedene Priester, die in Gebäuden herrschen, die durch Arbeiterpfennige bezahlt und ‚Volkshaus’ genannt werden. Einen Parlamentssitz zu gewinnen oder ein armes Plätzen in einem Gewerkschaftsbüro zu ergattern, war für die Führer dieses degenerierten Sozialismus zum Lebenszweck geworden. Sie glaubten nicht mehr - sie genossen! Und sich wünschten sich Anhängerscharen nach ihrem Ebenbild - ohne Ideale und nur von materiellen Vorteilen angezogen." [ebd., S. 75]

Die Degeneration, von der Guérin hier schreibt, wurzelte nicht im Versagen oder den Mängeln des Marxismus, sondern im Opportunismus der Arbeiterbürokratie. In dem Absatz, der dem von euch zitierten unmittelbar vorangeht, erklärt Guérin, wie der Opportunismus die marxistische Methode untergraben hatte.

Zur gleichen Zeit verzerrte der Sozialismus eine seiner zentralen theoretischen Konzepte, den "historischen Materialismus". Die ersten marxistischen Sozialisten waren Materialisten in dem Sinne, dass ihnen zufolge die "Produktionsweise des materiellen Lebens den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt" bedingt. Anders als die "Idealisten", die eine bereits vorhandene Idee von Recht und Gerechtigkeit als Haupttriebkraft der Geschichte betrachten, eine Idee welche die Menschheit in sich trägt und im Laufe von Jahrhunderten schrittweise verwirklicht, waren diese frühen Sozialisten der Auffassung, die Produktionsverhältnisse, die wirtschaftlichen Verhältnisse der Menschen zueinander, spielten die vorherrschende Rolle in der Geschichte. Doch obwohl sie die wirtschaftliche Basis betonten, die vor ihnen nur all zu oft vernachlässigt worden war, leugneten sie keinen Moment den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen und philosophischen "Überbau". Dieser war ihrer Ansicht nach von der Basis bestimmt, besaß aber dennoch einen eigenen Wert und war integraler Bestandteil der Geschichte. [ebd., S. 75, Hervorhebungen im Original]

Schließlich gelangen wir zu der von euch angeführten Passage, aber diesmal im richtigen Zusammenhang, im Anschluss an eine Verteidigung der materialistischen Geschichtsauffassung des Marxismus. Wir wollen sie im Interesse der Klarheit gerne ein weiteres Mal zitieren:

Die degenerierten Marxisten glauben, es sei sehr "marxistisch" und "materialistisch", den menschlichen Faktor zu verschmähen. Sie häufen Daten, Statistiken und Prozentzahlen an; mit großer Sorgfalt studieren sie die tiefen Ursachen gesellschaftlicher Phänomene. Doch weil sie nicht ebenso gründlich studieren, wie sich diese Ursachen im Bewusstsein des Menschen wiederspiegeln, und weil sie nicht in die Seele der Menschen eindringen, begreifen sie die lebendige Wirklichkeit dieser Phänomene nicht.

Erst jetzt wird verständlich, worauf Guérin hinaus wollte. Infolge ihres eigenen Opportunismus praktizierte die degenerierte Bürokratie eine vulgäre und mechanische Karikatur des Marxismus und war unfähig, die unzähligen Formen zu verstehen, in welchen die zunehmend verzweifelte Situation der kapitalistischen Gesellschaft ihren bewussten Ausdruck im Bewusstsein der Massen fand. An die Fleischtöpfe der Weimarer Republik gefesselt, fand die korrupte sozialistische Bewegung keinen Weg ins Bewusstsein der Massen. Das Problem lag dabei nicht beim Marxismus und beim historischen Materialismus, sondern in der opportunistischen Zurückweisung der revolutionären Perspektive und der Kampfbereitschaft des Marxismus.

Guérin schließt seine Analyse mit der Warnung: "Tausende und Abertausende von Männern, Frauen und Jugendlichen, die darauf brennen, sich der Sache hinzugeben, werden niemals von einem Sozialismus angezogen werden, der auf den opportunistischsten Parlamentarismus und den vulgärsten Trade-Unionismus reduziert worden ist. Der Sozialismus kann seine Anziehungskraft nur zurückgewinnen, indem er den Massen sagt, dass die Erringung seines höchsten Ziels, des ‚Paradieses auf Erden’, große Kämpfe und Opfer erfordert."

Zum Abschluss unseres Rückblicks auf Guérins Buch bliebt anzumerken, dass der Autor im Vorwort zu der französischen Ausgabe von 1965 bestätigte, "die Schriften von Leo Trotzki über Deutschland und Frankreich" hätten ihm "als Wegweiser gedient. Sie halfen mir, die komplexen Probleme der Mittelklassen zu verstehen, die zwischen Proletariat und Bourgeoisie hin- und herschwankten und die von der Wirtschaftskrise auf der einen sowie der Niederlage der Arbeiterklasse auf der anderen Seite den ultrarechten Gangstern in die Arme getrieben wurden." [ebd., S. 17]

Wird fortgesetzt

23 Die Art, in der ihr euch hegelianischer Phraseologie bedient, ist Sophismus reinsten Wassers. Anstelle einer tatsächlichen Erklärung der Verbindung zwischen Utopismus und Marxismus, greift ihr zu Begriffen wie "aufheben" und "Einheit der Gegensätze". Das ist einfach eine Art, nichts zu sagen und dabei tiefsinnig zu erscheinen. Beispielhaft für den Missbrauch, zu dem sich die pseudo-dialektische Phraseologie anbietet, ist eure Bezugnahme auf Marx’ Kritik des Gothaer Programms und Lenins Staat und Revolution. Diese Werke, so schreibt ihr, zeigten, dass Marxismus und Utopismus eine "Einheit von Gegensätzen" seien. Was genau bedeutet das? An keinem dieser beiden Werke ist irgendetwas Utopisches (auch nicht, wenn man von einigen stilistischen Rückgriffen auf die literarische Tradition von Fourier und Proudhon absieht, an Lafargues Recht auf Faulheit, das ohnehin ein eher unbedeutendes Werk ist).

Marx’ Kritik wurde in der erklärten Absicht geschrieben, seine eigenen wissenschaftlichen Konzeptionen von allen Spuren des kleinbürgerlichen Eklektizismus und Utopismus abzugrenzen, die die Auffassungen der Lassalleaner prägten. So unterzog Marx beispielsweise deren Forderung nach "gerechter Verteilung" des "Ertrags der Arbeit" einer vernichtenden Kritik. In Widerspruch zu allen utopischen Konzeptionen schrieb er, das "Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft". In Rechtfertigung seiner harten Haltung gegenüber den vielen ungenauen und/oder unrichtigen Formulierungen schrieb Marx, diese Haltung sei notwendig, "um zu zeigen, wie sehr man frevelt, wenn man einerseits Vorstellungen, die zu einer gewissen Zeit einen Sinn hatten, jetzt aber zu veraltetem Phrasenkram geworden, unsrer Partei wieder als Dogmen aufdrängen will, andrerseits aber die realistische Auffassung, die der Partei so mühvoll beigebracht worden, aber Wurzeln in ihr geschlagen, wieder durch ideologische Rechts- und andre, den Demokraten und französischen Sozialisten so geläufige Flausen verdreht." [ Ausgewählte Werke, Band IV, Berlin 1979, S. 389f.]

Lenins Staat und Revolution erarbeitet eine Theorie des Staates anhand einer umfassenden Sichtung der Schriften von Marx und Engels zu dem Thema. Wie in all den großen "kanonischen Werken" (das ist euer Ausdruck, Genossen Steiner und Brenner, nicht der meine), stellt Lenin die wissenschaftliche Einstellung des Marxismus dem Utopismus direkt und ausdrücklich entgegen. In einer wichtigen und viel zitierten Passage erklärt er:

Bei Marx findet man auch nicht die Spur von Utopismus in dem Sinne, dass er sich die "neue" Gesellschaft erdichtet, zusammenphantasiert. Nein, er studiert - wie einen naturgeschichtlichen Prozess - die Geburt der neuen Gesellschaft aus der alten, studiert die Übergangsformen von der alten zur neuen... Wir sind keine Utopisten. Wir "träumen" nicht davon, wie man unvermittelt ohne jede Verwaltung, ohne jede Unterordnung auskommen könnte; diese anarchistischen Träumereien, die auf einem Verkennen der Aufgaben der Diktatur des Proletariats beruhen, sind dem Marxismus wesensfremd, sie dienen in Wirklichkeit nur dazu, die sozialistische Revolution auf die Zeit zu verschieben, da die Menschen anders geworden sein werden. Nein, wir wollen die sozialistische Revolution mit den Menschen, wie sie gegenwärtig sind, den Menschen, die ohne Unterordnung, ohne Kontrolle, ohne "Aufseher und Buchhalter" nicht auskommen werden. [W.I. Lenin, Staat und Revolution, Berlin 1981, S. 59f., Betonung im Original]

Dieses letzte Zitat ist eine besonders passende Antwort auf eure Behauptung, eine sozialistische Revolution erfordere eine psychologische Generalüberholung der Bevölkerung. [zurück]

24 In Das Prinzip Hoffnung schrieb Bloch: "Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende." Es ist, besonders im Rahmen dieses Dokuments, unmöglich, näher auf die neoutopistischen Theorien Ernst Blochs (1885-1977) einzugehen. Seinem Biographen Wayne Hudson zufolge kamen wichtige Einflüsse auf Blochs Denken u.a. von Schopenhauer, Nietzsche, Kierkegaard, Dostojewski, Brentano, Meinong, Vaihinger, Herman Cohen, Rudolf Steiner, Georges Sorel und Max Weber. Die eklektische Vermengung dieser unterschiedlichen und im allgemeinen reaktionären Einflüsse, zu denen er noch große Dosen jüdisch-kabbalistischer Mystik hinzufügte, machte den "Marxismus" Ernst Blochs aus. Wenig überraschend stand Bloch der Betonung der Ökonomie durch Marx und Engels und ihrer "Vernachlässigung der geheimen transzendentalen Elemente des Sozialismus" kritisch gegenüber. [ The Marxist Philosophy of Ernst Bloch, New York 1972, p. 33] Laut Hudson glaubte Bloch, "der Marxismus, wie Marx und Engels ihn zurückgelassen hatten, sei unvollständig. Ihm hätten viele Elemente gefehlt, die zur Verwirklichung seines Projekts notwendig sind. Moral und Liebe sei nicht der angemessene Platz im revolutionären Kampf zugekommen. ... Die marxistische Konzeption eines Himmels auf Erden sei unangemessen. Statt dessen sei es nötig, der ursprünglichen religiösen Sehnsucht des Menschen Rechnung zu tragen und ein zu seiner Intention passendes Konzept zu formulieren. Im Marxismus sei der Schritt von der Utopie zur Wissenschaft zu weit geraten, deutete Bloch an." [ebd.] Bloch befürwortete eine Versöhnung mit der Religion und argumentierte (laut Hudson), der Marxismus "müsse mit den Menschen in einer Sprache über ihre Lage sprechen, die sie verstehen; er müsse eine Propaganda entwickeln, die den Bezug zur Ideologie in ihren Köpfen herstellt, anstatt sich abergläubisch auf eine korrekte theoretische Analyse zu verlassen, um der Wahrheit auf der Welt einen Pfad zu erkämpfen." [ebd., S. 45]

Während der gesamten 30er Jahre blieb Bloch ein leidenschaftlicher Unterstützer Stalins, den er als Theoretiker hoch schätzte. Begeistert begrüßte Bloch die Todesurteile am Ende der Moskauer Prozesse. "In der Tat", schriebt Hudson, "war er stolz auf seine Fähigkeit, einen gewissen Grad moralischen Übels und den ‚unverkennbaren Geruch von Blut’ hinzunehmen, was er als Zeichen seiner politischen Reife betrachtete... Er verklärte die Wirklichkeit des stalinistischen Mordens und wich dem moralischen Dilemma aus, indem er Gewalt und ‚Roten Terror‘ in einem Kontext akzeptierte, in dem die grundsätzlich guten Absichten der revolutionären Kräfte und ihr Engagement für moralische Werte als teleologische Ziele nicht bezweifelt werden konnten." [ebd., S. 46] Im Jahre 1953 dann, als er in der stalinistischen DDR lebte, war von ihm angesichts der brutale Niederschlagung der Rebellion der Arbeiterklasse gegen das verhasste Regime Walter Ulbrichts keinerlei Protest zu vernehmen.

Dies, Genosse Brenner, ist der Mann, von dem das Internationale Komitee deiner Meinung nach viel zu lernen hat, und auf dessen theoretisches Vorbild du dich im Titel deines Dokuments über die Utopie berufst! [zurück]

25 An diesem Punkt wird jedem bewussten Leser klargeworden sein, dass meine Vorträge vom letzten Sommer eine Antwort auf eure früheren Dokumente waren. Und ich möchte hinzufügen, dass euer aktuelles Dokument der Versuch einer Beantwortung meiner Kritik an euren Ansichten ist, wie sie im Verlauf dieser Vorträge geäußert wurde.

(Hinweis des Übersetzers: Im französischen Original von Eugène Pottier und der englischen Übersetzung heißt es nicht "Recht", sondern "Vernunft" (raison/reason). In der 1910 entstandenen deutschen Version von Emil Luckhart verkommt die Vernunft zum Recht; man ahnt den Staat im Hintergrund. [zurück]

26 Es ist sehr unglücklich, dass ihr nicht den verschiedenen Quellen nachgegangen seid, aus denen Geoghegan seine Inspiration bezog. Alle in diesem einen Absatz vertretenen Auffassungen, die ihr so heftig gegen meine Kritik verteidigt - der Marxismus sei übermäßig rationalistisch; er liege falsch in der Annahme, die Arbeiter würden den Sozialismus begeistert aufnehmen, sobald sie sich ihrer objektiven Klasseninteressen bewusst würden; es mangele ihm an einem angemessenen Verständnis der menschlichen Psychologie; er stütze sich auf einer fehlerhaften Theorie der Triebkräfte der Geschichte - wurden in bemerkenswert detaillierter Übereinstimmung etwa 80 Jahre zuvor bereits von Hendrik de Man in dem Buch Zur Psychologie des Sozialismus entwickelt. De Man, ein belgischer Sozialist, der an der Universität von Frankfurt lehrte, hatte nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Marxismus gebrochen. Das Massenschlachten von 1914-18, zu dessen Zeuge er als Soldat selbst werden musste, veranlasste ihn zu einer "Verschiebung von der wirtschaftlich-deterministischen Auffassung des Sozialismus hinweg auf eine Denkweise zu, die dem Menschen als psychologischem Reaktionssubjekt die Hauptbedeutung beimisst." [Hendrik De Man, Zur Psychologie des Sozialismus, Jena 1927, Eugen Diederichs Verlag, S. 2]

De Man vertrat die Auffassung, der bedeutendste Mangel des Marxismus sei dessen Glaube, das menschliche Handeln lasse sich vernunftmäßig erklären und der Sozialismus werde als Reaktion der Arbeiterklasse auf ihr Klasseninteresse entstehen. "Dieser Einsicht in die Mannigfaltigkeit und Kompliziertheit sozialistischer Motive hat sich der Marxismus hartnäckig verschlossen," schrieb er. "Sie würde sonst seinen Glauben an den kategorischen Zusammenhang zwischen Klasseninteresse und Denkweise zerstört haben." [Ebenda, S. 18]

Zur Psychologie des Sozialismus übte einen sehr großen Einfluss auf die deutschen Akademikerkreise der 1920er Jahre aus, besonders in der Stadt, wo unter der Führung Friedrich Pollacks und Max Horkheimers gerade die Frankfurter Schule entstand. De Mans durchgehende Zurückweisung des Marxismus war zwar für die Gründer der Frankfurter Schule nicht akzeptabel, doch sein Versuch, den historischen Materialismus mit Psychologie zu unterfüttern, nahm Entwicklungen vorweg, die unter Horkheimers Kollegen zunehmend in den Vordergrund treten sollten. Was De Man anbelangt: Er gelangte während der 30er Jahre zu beträchtlichem Ruhm, als er, "inspiriert" von den kurzlebigen wirtschaftlichen Erfolgen des Hitlerregimes, den Plan du travail (Arbeitsplan)schrieb. Darin strebte er eine Allianz der Arbeiterklasse mit der Mittelklasse auf der Grundlage eines national-ökonomischen Programms für einen staatlich regulierten Kapitalismus an. Nachdem die Nazis Belgien besetzt hatten, wo de Man Minister in einer "sozialistischen" Regierung gewesen war, wurde er zum faschistischen Kollaborateur. Nach Kriegsende floh er aus Belgien, wo ihm in Abwesenheit der Prozess gemacht und er des Verrats für schuldig befunden wurde. Er starb 1953 in der Schweiz. Sein Leben ist ein extremes, aber keineswegs einzigartiges Beispiel dafür, wie die Biographien von Menschen in die Irre laufen, die den Sozialismus vom historischen Materialismus zu trennen versuchen. Es handelt sich um ein reaktionäres Projekt mit gefährlichen politischen Konsequenzen.

(Anm. d. Übersetzers: Alle Zitate des Textes von Guérin wurden aus dem vorliegenden englischen Dokument übersetzt.) [zurück]

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