Venezuela: Die gesellschaftlichen Interessen hinter dem Verfassungsreferendum von Hugo Chavez

Am 2. Dezember fand in Venezuela ein Referendum über eine neue Verfassung statt. Staatspräsident Hugo Chavez, der einen so genannten "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" propagiert, wollte mit der Verfassungsänderung seine politische Stellung stärken. Er hatte aber zugesagt, auch ein Nein zu akzeptieren. Der Verfassungsentwurf wurde knapp abgelehnt. Der folgende Artikel, der unmittelbar vor dem Referendum erschien, analysiert die Hintergründe des Verfassungsstreits.

Das für den 2. Dezember angesetzte Referendum über die neue Verfassung Venezuelas hat zu einer Verschärfung der politischen Krise im Land geführt.

Rechte Gegner der links-nationalistischen Regierung von Präsident Hugo Chavez zettelten politische Gewaltakte an, die am 26. November das Leben von Jose Oliveros, eines 19-jährigen Ölarbeiters forderten. Er wurde von Gegnern der Verfassungsreform in den Rücken geschossen, als er im zentralen Bundesstaat Aragua auf dem Weg zu seiner Arbeit in einem Staatsbetrieb war. Der tödliche Schuss traf ihn, als er versuchte, durch eine von Demonstranten blockierte Straße zu fahren.

Schon Monate vor dem Tod des jungen Arbeiters wurde für und gegen die Reform demonstriert, die 69 Zusätze und Änderungen an der gegenwärtig geltenden Landesverfassung vorsieht.

Die Kampagne gegen die Reform wird von politischen Kräften angeführt, die der reichen Oligarchie Venezuelas angehören und die Unterstützung der USA genießen. Es sind die gleichen Kräfte, die im April 2002 versuchten, Chavez durch einen von Washington unterstützten Putsch zu stürzen, der schließlich scheiterte. Seither haben diese Kräfte eine ganze Reihe weiterer politischer Provokationen angezettelt.

Mit Hilfe der rechten, privaten Medien haben die Gegner der Verfassungsänderung eine hysterische Atmosphäre geschaffen. Auf dieser Grundlage organisierten sie Demonstrationen, deren Teilnehmer hauptsächlich aus Studenten der privilegiertesten kleinbürgerlichen und bürgerlichen Schichten bestanden.

Diese rechten und oftmals gewalttätigen Studentenproteste haben den Großteil der Aufmerksamkeit der internationalen Massenmedien auf sich gezogen. Sie werden als Kampf gegen ein autoritäres Regime und Verteidigung der Demokratie präsentiert. Es ist eine politische Ironie, dass es sich bei diesen angeblichen Fans der Demokratie um die gleichen Elemente handelt, die vorher einen Militärputsch zur Beseitigung eines gewählten Präsidenten unterstützt hatten. Dies ist den internationalen Medien jedoch völlig entgangen.

In der Regel sind Demonstrationen zur Unterstützung der Reform, an denen überwiegend Arbeiter teilnehmen, wesentlich größer, ziehen aber keine vergleichbare Aufmerksamkeit der Medien auf sich.

Die Meinungsumfragen sind widersprüchlich. Entweder behaupten sie, dass die Reform mit großer Mehrheit angenommen wird, oder dass es einen sehr knappen Ausgang geben könnte.

Alles deutet darauf hin, dass die politischen Spannungen in Venezuela im Moment schärfer sind als zu irgendeinem Zeitpunkt seit dem Putschversuch von 2002. Die traditionellen Bastionen der Elite versuchen, eine Konfrontation hervorzurufen. Die katholischen Bischöfe gaben zum Beispiel am 26. November eine Erklärung heraus, in der sie die Reform als "moralisch inakzeptabel" bezeichneten.

Der größte Wirtschaftsverband, Fedecamaras, in dem die wichtigsten Hintermänner des gescheiterten Putsches organisiert sind, rief am Montag dazu auf, mit Nein zu stimmen. Gleichzeitig betonte der Verband, seine Empfehlung habe nichts mit dem "Lebensstil" seiner Mitglieder zu tun. "Die Mitglieder von Fedecamaras sind Demokraten", hieß es in der Erklärung. "Wir sind keine Kommunisten und wir wollen auch keine sein."

Aussagekräftiger über das Ausmaß der politischen Krise ist der Schwenk gewisser politischer Parteien - wie der sozialdemokratischen Podemos - und führender Politiker, die bisher den "Chavismus" unterstützten.

Die wichtigste dieser Persönlichkeiten ist der pensionierte General Raul Baduel, der bis Juli Verteidigungsminister war. Am 5. November gab Baduel eine Pressekonferenz für die rechten Medien Venezuelas, auf der er den Reformentwurf einen "Verfassungsputsch" nannte. Er rief auf, mit Nein zu stimmen, und forderte das Militär auf, Änderungsvorschläge an der Struktur der Streitkräfte "genau zu analysieren". Er erklärte, "die Fähigkeit venezolanischer Militärs, zu analysieren und zu denken", dürfe nicht unterschätzt werden.

Der Sinn solcher Worte ist unmissverständlich. Die Verurteilung des Referendums als "Putsch" bedeutet nichts anderes, als einen echten Putsch zu legitimieren. Und der Appell an die Militärs, die politischen Vorschläge "zu analysieren", beinhaltet offenbar die Aufforderung, anschließend entsprechend zu handeln.

Die Bedeutung dieses kaum verhüllten Appells an das Offizierscorps ist umso größer, als sein Autor einer der ältesten politischen Weggefährten Chavez’ war und lange als sein wichtigster Verbündeter im venezolanischen Militär gesehen wurde.

Baduel war eines der ersten Mitglieder der Revolutionären Bolivarischen Bewegung (MBR 200), der Verschwörerzelle in der venezolanischen Armee in den 1980er Jahren, aus der schließlich der gescheiterte Putsch von 1992 unter der Führung von Chavez hervorging, der damals Oberst bei den Fallschirmjägern war. Baduel hatte sich zwar nicht an dem Putschversuch beteiligt, wohl weil er seine Erfolgsaussichten gering einschätzte. Aber danach verteidigte er Chavez und unterstützte 1998 seine Präsidentschaftskandidatur.

Noch wichtiger war Baduels Unterstützung im Jahr 2002, als er an der Spitze der venezolanischen Militärkräfte stand, die schließlich den April-Putsch niederschlugen. 2004 wurde er zum Armeekommandeur ernannt und 2006 zum Verteidigungsminister.

Die jüngste Wende Baduels, der sich als treuer Anhänger von Chavez’ "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" bekannt hatte, spiegelt zweifellos tiefere Spaltungen in der ganzen Armee wider. Ein erneuter Putsch kann keinesfalls ausgeschlossen werden.

Es steht zudem außer Zweifel, dass das amerikanische Außenministerium und die CIA die Opposition gegen die Verfassungsreform schüren, um die Kräfte zu vereinen, die die Regierung Chavez stürzen könnten. Wie im Nahen Osten ist Washington entschlossen, auch in dieser Region, die einige der wichtigsten Energievorräte der Welt beherbergt, seine Hegemonie wiederherzustellen und ein gefügiges Regime zu installieren.

Die breite Zustimmung zum Referendum stützt sich auf den Hass der venezolanischen Arbeitermassen und Unterdrückten auf ihre entschiedensten Klassenfeinde, die im Nein-Lager stehen, und auf verschiedene, in der Verfassungsreform angekündigte Sozialreformen, die von Chavez und seinen Anhängern als Einführung des "Sozialismus" verkauft werden.

Bestandteil dieser Reformen sind die Einführung des Sechsstundentages und einer ergänzenden Krankenversorgung für die Millionen Venezolaner, die zum "informellen" Wirtschaftssektor gehören und keiner regelmäßigen Beschäftigung nachgehen. Diesen Programmpunkten Verfassungsrang zu geben, bedeutet jedoch nicht mehr, als dass sie auf dem Papier stehen.

Die geplanten Veränderungen der venezolanischen Verfassung haben natürlich nichts mit einer Abschaffung des Kapitalismus oder der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft zu tun. Die Gefahren, die sich aus den verschiedenen Verfassungsänderungsvorschläge der Regierung ergeben, sind für die Arbeiterklasse viel größer als die Vorteile, die ihr aus den versprochenen Verbesserungen erwachsen würden.

Die zentrale Ausrichtung der Reform ist die Machterweiterung des Präsidenten Chavez. Sie soll ein personalisiertes bürgerliches Regime konsolidieren, das sich auf das Militär und auf populistische Versprechen an die ärmsten Schichten der Bevölkerung stützt. Durch die Einnahmen der Ölexporte sollen bestimmte Sozialprogramme realisiert werden.

Mit der Verfassungsänderung soll die Amtszeit des Präsidenten von sechs auf sieben Jahre verlängert und die Möglichkeit geschaffen werden, immer wieder für das Amt zu kandidieren. Beide Bestimmungen zielen speziell darauf ab, Chavez im Präsidentenpalast Miraflores zu halten.

Viel Wind ist um die linke und sogar "sozialistische" Rhetorik gemacht worden, die die Änderungsvorschläge durchzieht. Aber die Verfassungsänderung beinhaltet die ausdrückliche Garantie privaten kapitalistischen Eigentums an den Produktionsmitteln. Außerdem kodifiziert sie den Status "gemischter" privat-staatlicher Unternehmen, wie sie vor allem in der Ölindustrie zwischen der venezolanischen Regierung und ausländischen Energiekonglomeraten existieren. Andere Klauseln in der geltenden Verfassung, die die Gleichbehandlung ausländischer und nationaler kapitalistischer Unternehmen, Patente und intellektuellen Eigentums garantieren, bleiben unangetastet.

Soweit das Dokument die staatliche Enteignung kapitalistischer Industrien ins Auge fasst, tut es das im allgemeinen Rahmen seiner Verteidigung des Privateigentums nach dem Beispiel der kürzlich durchgeführten Verstaatlichung von CANTV. Die CANTV ist die venezolanische Telefongesellschaft, die unter dem Dach des US-amerikanischen Telekommunikationsunternehmens Verizon arbeitet. Für diese Verstaatlichung wurde eine Entschädigung gezahlt, die höher lag als der Börsenwert des Unternehmens.

Andere Verfassungsänderungen machen aus dem venezolanischen Militär eine "antiimperialistische Volkseinheit" und aus der Nationalgarde eine "Bolivarische Volksmiliz". Aber diese semantischen Änderungen ändern nichts daran, dass diese Organe unter der gleichen Hierarchie und Disziplin der bürgerlichen bewaffneten Streitkräfte stehen wie bisher.

Die bedeutsamste Änderung betrifft auch hier die Stärkung der Macht des Präsidenten, der die alleinige Vollmacht erhält, über alle Beförderungen im Offizierscorps zu entscheiden.

Auf politischer Ebene würde die Reform Chavez das Recht geben, per Dekret Provinzen, Territorien und sogar Städte zu schaffen und sie von ernannten und nicht gewählten "Vizepräsidenten" regieren zu lassen. Gewählte Provinz- oder Kommunalregierungen würden praktisch entmachtet.

Ähnlich würden auch die gesamten staatlichen Finanzen - die Zentralbank und die Währungsreserven des Landes - der direkten Kontrolle des Präsidenten unterstellt. Das Finanzsystem Venezuelas bliebe dagegen fest in der Hand der internationalen Banken und ihrer örtlichen Ableger, die die höchsten Profitraten in ganz Lateinamerika erwirtschaften. Die Regierung wäre weiterhin verpflichtet, die Auslandsschulden zu bedienen.

Als Fassade sollen kommunale Räte in der Verfassung verankert werden, die von Chavez und seinen Anhängern als eine Art "Volksmacht" oder "Parlamentarismus der Straße" bezeichnet werden. Tatsächlich aber sind dies keine Arbeiter- und Bauernräte, die aus einem Kampf für den Sturz des Kapitalismus und den Aufbau eines neuen Staates von unten entstehen, sondern es sind von oben verordnete Strukturen, die politisch und ökonomisch völlig von der Gnade des Präsidenten und seiner Bereitschaft abhängen, Öleinnahmen zur Verfügung zu stellen. Ihre Funktion ist nicht, den Klassenkampf zu organisieren, sondern eher, ihn zu unterdrücken und die Massen der Regierung unterzuordnen.

Die bedrohlichsten neuen Bestimmungen würden den Präsidenten ermächtigen, den Notstand zu verhängen. Die Regierung könnte dann gerichtliche Verfahrensrechte suspendieren und Haft ohne Anklage, Prozess und anwaltliche Vertretung erlauben. Die Reform würde auch die zeitliche Begrenzung solcher Notstandsmaßnahmen aufheben.

Anhänger und Verteidiger der Chavez-Regierung betonen, dass solche diktatorischen Maßnahmen notwendig seien, um eine Wiederholung des Putschversuchs von 2002 zu unterbinden. Tatsache ist aber, dass Chavez bisher noch nicht einmal die juristischen Möglichkeiten eingesetzt hat, die ihm die alte Verfassung bietet, um die Führer des Putsches von 2002 unter Anklage zu stellen oder gar verurteilen zu lassen.

Die Wahrscheinlichkeit ist wesentlich größer, dass der bürgerliche Staat - ob unter Führung von Chavez oder irgend jemand anderem - diese Repressionsmaßnahmen gegen eine revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse einsetzen wird, als zur Unterdrückung eines Militärputsches. Die Arbeiter könnten sich gegen das kapitalistische Privateigentum erheben, das in der gleichen Verfassung verankert ist.

Noch niemals in der Geschichte ist ein vom einheimischen oder internationalen Kapital unterstützter Militärputsch durch die Abschaffung demokratischer Rechte verhindert worden. Die einzige Kraft, die einen solchen Putsch verhindern kann, ist die unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse und der unterdrückten Massen.

Chavez Parole des "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" als Bezeichnung für seinen durch Ölexporte finanzierten Nationalismus und sozialen Populismus hat doppelte Bedeutung. Auf der einen Seite soll sie - wie er selbst klargemacht hat - seine Politik vom wirklichen Sozialismus und Marxismus abgrenzen, insbesondere will er sie nicht auf den unabhängigen revolutionären Kampf der Arbeiterklasse stützen. Zweitens werden dadurch die Geschichte und die bitteren Lehren des zwanzigsten Jahrhunderts verschleiert.

Unzählige Male haben die blutigen Kämpfen dieser Periode gezeigt, dass die Arbeiterklasse von den USA unterstützte militär-faschistische Putsche nicht verhindern kann, wenn sie sich bürgerlichen Regierungen unterordnet, auch wenn diese noch so populistisch oder "sozialistisch" daherreden. In katastrophaler Weise zeigten dies die Volksfrontregierung von Salvador Allende in Chile 1973 und die "linken" Militärregimes der Generäle J.J. Torres in Bolivien (1971) und Juan Velasco Alvarado in Peru (1975), oder der Peronismus in Argentinien (1976).

Hinter der Kampagne zur Ablehnung der Verfassungsänderungen stehen rechte Kräfte. Die Gefahr eines von den USA unterstützten Putsches, der eine Welle brutaler Repression nach sich ziehen würde, ist sehr real. Nur der unabhängige Kampf der Arbeiter und Unterdrückten Venezuelas kann eine solche Gefahr beseitigen

Das erfordert den Aufbau einer neuen, unabhängigen revolutionären Partei, die als Teil des internationalen Kampfs gegen den Kapitalismus für die politische Mobilisierung der arbeitenden Bevölkerung in Venezuela kämpft.

Siehe auch:
US-Angriffe auf Venezuela: "Pressefreiheit" als Vorwand für Intervention
(12. Juni 2007)
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