Schatten von 1929: die globalen Auswirkungen der US-Bankenkrise

Diesen Vortrag hielt Nick Beams, der Nationale Sekretär der australischen Socialist Equality Party (SEP) und ein Mitglied der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site, auf öffentlichen Versammlungen am 17. und 18. April 2008 in Sydney und Melbourne. Beams, eine internationale Autorität auf dem Gebiet der marxistischen politischen Ökonomie, schreibt für die WSWS regelmäßig Artikel und Analysen zur Globalisierung und politischen Ökonomie.

Die SEP und die International Students for Social Equality (ISSE) organisierten die Veranstaltungen, um die globale Bedeutung der sich vertiefenden Krise zu diskutieren, die das amerikanische Finanz- und Bankensystem erschüttert. Beide Versammlungen, an denen Arbeiter sowie Studenten, die zum Teil der ISSE angehörten, teilnahmen, waren gut besucht. Nach Beams' Bericht fand eine lebhafte Diskussion über zahlreiche Fragen zu den Ursachen und Auswirkungen der Finanzkrise statt.

Besucher wollten zum Beispiel wissen, weshalb bekannte Wirtschaftsfachleute die Krise nicht vorhersagen oder erklären konnten, weshalb die Banken und Finanzinstitutionen zunehmend riskante Kredite zu günstigsten Bedingungen gewährt hatten, und wie sich die finanziellen Verluste auf die Stellung der USA in der Welt auswirken. Andere betonten die katastrophalen Folgen des Wirtschaftseinbruchs auf Arbeitsplätze, Wohneigentum, Lebensstandard und Rentenansprüche für einfache Bürger. Weitere Fragen drehten sich darum, ob eine sozialistische Perspektive realistisch ist und wie Arbeiter den Kampf für eine sozialistische Perspektive beginnen können.

Der 14. März 2008 - an diesem Tag erfuhr die Öffentlichkeit vom Bankrott der Bear Stearns-Bank, der fünftgrößten Investmentbank in den USA und eines der größten Finanzinstitute der Welt - ist bereits zu einem Eckdatum in der Geschichte des globalen Kapitalismus geworden.

An diesem Tag veränderte sich die Welt grundlegend. Die klugen Sprüche über die Wunder und Vorzüge des "freien Marktes", mit denen uns Finanzkommentatoren, politische Führer, Wirtschaftswissenschaftler und die Experten in den Medien tagtäglich bombardieren - die Behauptung, dass der Markt die höchste, ja die einzig mögliche Form gesellschaftlicher und ökonomischer Organisation sei -, haben sich als hohles Geschwätz entpuppt.

Plötzlich schien ein Zusammenbruch wie zur Zeit der Großen Depression nicht nur möglich, er stand kurz bevor. Das geht aus den damaligen Kommentaren und späteren Aussagen hochkarätiger Teilnehmer an der Bear Stearns-Rettungsoperation hervor.

Drei Tage lang arbeiteten die US-Notenbank und das Finanzministerium ununterbrochen an einem Rettungspaket. Der Faktor Zeit war entscheidend, denn die Furcht vor einem Zusammenbruch des Weltfinanzsystem ging um, sollte das Maßnahmenpaket am folgenden Montag, dem 17. März, als die asiatischen Märkte den Handel wieder aufnahmen, nicht beschlossene Sache sein. Auch die Wall Street wäre bei Wiederaufnahme ihres Handels mit in den Strudel gerissen worden.

Der wichtigste Bestandteil des Rettungsplanes, der letztlich in die Übernahme von Bear Stearns durch JP Morgan führte, war die Garantierklärung der Fed, der amerikanischen Notenbank, für 30 Mrd. Dollar Schulden der insolventen Bank aufzukommen - eine Entscheidung, die in der Geschichte der amerikanischen Notenbank beispiellos ist.

Der Wall Street-Ökonom Ed Yardeni kommentierte das so: "Die Regierung der letzten Instanz arbeitet mit dem Geldverleiher der letzten Instanz daran, die Immobilien- und Kreditmärkte zu stabilisieren, um die zweite Große Depression abzuwenden."

In seiner Erklärung vor dem US-Kongress drückte sich Fed-Chef Ben Bernanke zurückhaltender aus, doch die Botschaft war im Wesentlichen identisch.

"Am 13. März", so Bernanke vor dem Kongress, "informierte Bear Stearns die Notenbank und andere Regierungsstellen, dass sie unter erheblichen Liquiditätsproblemen litt und am nächsten Tag nach Kapitel 11 Insolvenz anmelden müsse, wenn nicht neue Geldquellen erschlossen würden."

"Diese Nachricht warf schwierige Fragen für die Regierung auf", fuhr Bernanke fort. "Im Normalfall entscheidet der Markt darüber, ob ein Unternehmen überlebt oder zugrunde geht, und das ist auch richtig so. Doch hier ging es um Dinge, die weit über das Schicksal einer Firma hinaus von Bedeutung sind. Unser Finanzsystem ist äußerst komplex und vernetzt, und Bear Stearns war in mehreren bedeutenden Märkten in starkem Maße engagiert. Eine plötzliche Insolvenz der Bear Stearns-Bank hätte wahrscheinlich zu chaotischen Veränderungen auf diesen Märkten und zu einem ernsthaften Vertrauensverlust geführt. Sie hätte wohl auch Zweifel an der Liquidität einiger der Tausenden von Geschäftspartnern von Bear Stearns und vielleicht auch an der Liquidität gleichartiger Unternehmen geweckt. Angesichts der außerordentlichen Belastungen, unter denen die Weltwirtschaft und das globale Finanzsystem leiden, wäre der Schaden durch einen Zusammenbruch von Bear Stearns enorm und äußerst schwierig zu begrenzen gewesen. Die schädlichen Auswirkungen einer Insolvenz wären auch nicht auf das Finanzsystem beschränkt geblieben, sondern hätten sich durch ihren Einfluss auf Vermögenswerte und die Verfügbarkeit von Krediten deutlich in der Realwirtschaft niedergeschlagen."

Mit anderen Worten: Ein Zusammenbruch der Weltwirtschaft war im Bereich des Möglichen.

Die umfangreichen Verflechtungen zwischen Bear Stearns und dem globalen Finanzsystem und die Auswirkungen, die ein Zusammenbruch der Bank gehabt hätte, geht aus Berichten hervor, wonach die Bank mit Unternehmen weltweit Verträge im Wert von 2.5 Billionen Dollar geschlossen hatte. Hier waren also Geschäftsabkommen bedroht, deren Wert einem Sechstel des Bruttosozialproduktes der USA und einem Zwanzigstel des Weltbruttosozialproduktes entspricht. Wie ein Teilnehmer der Beratungen über den Rettungsplan sagte: "Es war viel schlimmer, als alle dachten, die Märkte standen kurz vor einer wirklichen Krise" ("Leveraged Planet", Andrew Ross Sorkin, New York Times vom 2. April 2008).

Seit die Krise um Bear Stearns im März ausbrach, hat auf den Finanzmärkten durch die Rettungsmaßnahmen der Fed und weitere Zinssenkungen eine gewisse Stabilisierung stattgefunden. Niemand glaubt aber, dass die Krise nun überstanden sei. Die Frage, die die Finanzmärkte vielmehr umtreibt, lautet: Wann sind die anderen an der Reihe? Und die Folgen der Kreditkrise werden sich erst noch richtig bemerkbar machen.

Im Global Financial Stability Report, den der Internationale Währungsfond herausgibt, werden die Gesamtverluste in den USA auf beinahe eine Billion Dollar geschätzt, etwa 7 Prozent des US-Bruttosozialproduktes.

Der Bericht warnt davor, dass "makroökonomische Rückwirkungen" zunehmend Sorgen bereiten, da die finanzielle Unsicherheit wahrscheinlich "deutlich negative Auswirkungen auf die Kreditaufnahme durch private Haushalte, die Investitionstätigkeit von Unternehmen und deren Vermögenswerte haben wird, was wiederum die Arbeitslosigkeit, das Wirtschaftswachstum und die Bilanzen ungünstig beeinflusst."

Diese Aneichen für eine Rezession sind bereits deutlich sichtbar. Ein Bericht vom 4. April zeigt, dass die US-Wirtschaft im März 80.000 Arbeitsplätze vernichtet hat; damit nahm die Zahl der Arbeitsplätze zum ersten Mal seit fünf Jahren im dritten Monat hintereinander ab. Entlassungen in mehreren Industriezweigen ließen die Arbeitslosenquote von 4.8 auf 5.1 Prozent ansteigen. In dem wichtigen Sektor Bauwirtschaft verloren etwa 51.000 Arbeiter ihren Job, womit in diesem Bereich in den letzten zwölf Monaten insgesamt 350.000 Arbeitsplätze vernichtet wurden. Die verarbeitende Industrie verzeichnet schon seit 21 Monaten einen Rückgang der Arbeitsplätze.

Das Economic Policy Institute hat darauf hingewiesen, dass "im fünften aufeinander folgenden Monat weniger als die Hälfte der Industriezweige neue Arbeitsplätze geschaffen haben, woran deutlich wird, dass der Abbau von Arbeitsplätzen in allen Bereichen der Wirtschaft um sich greift". Es stellte auch fest, dass zum ersten Mal seit Beginn der statistischen Erfassung der Rückgang des mittleren Familieneinkommens durch die letzte Rezession seitdem nicht wettgemacht werden konnte.

Wachsende Ratlosigkeit

Die scharfsinnigeren Wirtschaftsjournalisten erkennen einige längerfristige historische Auswirkungen dieser Krise an. Der führende Wirtschaftsjournalist der Financial Times, Martin Wolf, leitete kürzlich seinen Beitrag zu einer Konferenz mit folgenden Worten ein:

"Seit drei Jahrzehnten preisen wir nun die Freuden eines liberalisierten Finanzmarktes, und was hat er uns gebracht? ‚Eine große Finanzkrise nach der anderen’, lautet die Antwort. Damit meine ich nicht, dass ein liberalisierter Finanzmarkt keine Vorteile bringt. Mit Sicherheit ist eine nennenswerte Zahl von Personen dadurch außergewöhnlich reich geworden."

Er führte aus, dass es seit Ende der 1970er Jahre nicht weniger als 117 systembedingte Bankenkrisen in 93 Ländern, der Hälfte der Welt also, gegeben habe, und in 27 dieser Krisen die Kosten der staatlichen Rettungsaktionen 10 Prozent des Bruttosozialproduktes betrugen, in einigen Fällen sogar mehr. Doch die Krise 2007-2008, fuhr Wolf fort, war "mit großem Abstand die bedeutendste aller Krisen der letzten drei Jahrzehnte".

"Was verleiht dieser Krise eine derartige Bedeutung? Sie stellt das am weitesten entwickelte Finanzsystem, das wir haben, auf den Prüfstand. Sie entspringt aus dem Innersten des fortgeschrittensten Finanzsystems der Welt und aus finanziellen Transaktionen, die die höchstentwickelten Finanzinstitutionen unter Einsatz der ausgereiftesten Methoden der Besicherung und im Vertrauen auf die ausgeklügeltsten Methoden des Risikomanagements getätigt haben. Und dennoch geriet das Finanzsystem völlig aus den Fugen: der Markt für kurzfristige Handelspapiere und der Handel zwischen den Banken waren monatelang lahmgelegt, der besicherte Kredit erwies sich als hochgradig riskant, und die Bewertungen der Rating-Agenturen als völlig realitätsfern; die Zentralbanken mussten Unmengen von Geld ins System pumpen, und der von Panik erfassten Fed blieb nichts anderes übrig, als die Zinsen zu senken wie nie zuvor."

Worauf wird diese Entwicklung hinauslaufen? Nouriel Roubini von der Stern School of Business der Universität von New York hält Verluste des Finanzsystems von bis zu drei Billionen Dollar für möglich, was etwa 20 Prozent des amerikanischen Bruttosozialproduktes entspricht.

Wolf fasste die Sprachlosigkeit derer, die das Finanzsystem angeblich unter ihrer Kontrolle haben, so zusammen: "Ich weiß nicht mehr, was ich zu wissen glaubte. Aber genauso wenig weiß ich, was ich jetzt glaube."

Er betonte, dass man aus der Geschichte lernen müsse, und fuhr fort: "Eine entscheidende Lehre betrifft die Funktionsweise des Finanzsystems. Außenstehende wussten schon, dass es eine riesige Blackbox geworden war. Doch sie glaubten bereitwillig, dass wenigstens die, die im System arbeiten, wussten, was vor sich ging. Davon kann man inzwischen kaum noch ausgehen" (Martin Wolf, Financial Globalisation, Growth and Asset Prices, Bericht über Globalisierung, Inflation und Währungspolitik vor dem Colloque International de la Banque de France am 7. März 2008 in Paris).

Hier haben wir ein ziemlich verblüffendes Eingeständnis, und zwar nicht von einem Gegner der kapitalistischen Ordnung und des freien Marktes, sondern von einem seiner entschiedensten internationalen Fürsprecher.

Ein ähnliches Stimmungsbild geht aus einem Anfang März, kurz vor dem Bekanntwerden der Bear Stearns-Krise veröffentlichten Bericht der President’s Working Group on Financial Markets hervor. Diesem Gremium gehören Vertreter des Finanzministeriums, des Board of Governors of the Federal Reserve System (Vorstand der Fed), der Börsenaufsicht SEC und der Commodities Futures Trading Commission (Aufsichtsbehörde für den Handel mit Rohstoffen an den US-Terminbörsen) an.

Dem Bericht zufolge waren folgende Gründe für das Chaos auf den Finanzmärkten verantwortlich:

"Vollkommen unzureichende Absicherung von Subprime-Hypothekenkrediten;

Eine gravierende Vernachlässigung der Marktdisziplin seitens derer, die mit allen Aspekten der Besicherung von Krediten befasst sind - die Aussteller der Kreditprodukte (Originatoren), Versicherer, Kredit-Rating-Agenturen und globale Investoren, teilweise zurückzuführen auf unzureichende Risikoauskunft der Kreditnehmer und unzureichende Feststellung der Kreditrisiken;

Fehler der Kredit-Rating-Agenturen bei der Beurteilung der durch Wohnimmobilien grundpfandrechtlich gesicherten Finanzierungen (RMBS) und anderer komplex gestalteter Kreditprodukte, insbesondere der CDOs (kreditbesicherte Anleihen), die aus RMBS und anderen vermögensgestützten Sicherheiten bestehen;

Schwächen im Risikomanagement bei einigen großen amerikanischen und europäischen Finanzinstitutionen; und

Regulierungsbestimmungen, u.a. zur erforderlichen Eigenkapitalquote und Verpflichtung zur Risikoauskunft, die die Schwächen des Risikomanagements nicht auffangen konnten."

Kurz, alle waren beteiligt... die, die die Hypothekenkredite bewilligten, die Finanzinstitute, die sie zu Paketen schnürten, die Kredit-Rating-Agenturen, die diesen Paketen beste Noten erteilten, amerikanische und europäische Finanzinstitutionen, die Risiken nicht angemessen einschätzten, bis zu denen, die Verantwortung für die Regulierungsbestimmungen trugen.

Dabei spielte etwas eine nennenswerte Rolle, was nur als kriminelles Handeln bezeichnet werden kann - nicht bedingt durch die Eigenheiten der beteiligten Individuen, sondern durch den Charakter des kapitalistischen Systems selbst.

Als der Markt boomte und mit Subprime-Krediten Kasse gemacht werden konnte, auf der Grundlage von so genannten Lügen-Krediten mit Lockzinsen, mit denen man Unvorsichtige ködern konnte; als Geld verdient werden konnte, indem man diese Kredite zu Paketen schnürte, die man dann verkaufte; als das möglich war, indem man diesen fragwürdigen Kreditpaketen eine hervorragende Bewertung gab - wer wollte sich da schon damit beschäftigen, dass der gesamte Prozess auf lange Sicht nicht funktionieren konnte. Damit waren keine Profite zu erzielen, und, wie es ein Finanzmanager kürzlich ausdrückte, man sollte nicht aufhören zu tanzen, solange die Musik spielt.

Der britische Ökonom John Maynard Keynes, der ganz gut über Spekulation Bescheid wusste, schrieb einst: "Ein vernünftiger Bankier ist leider nicht der, der Gefahren vorhersieht und sie umgeht, sondern der, wenn er Ruin erleidet, in einer konventionellen und orthodoxen Weise ruiniert wird wie seine Freunde, so dass niemand ihn verantwortlich machen kann." Und wenn eine Krise ausbricht, kann er immer die Regierung anrufen, rettend einzugreifen.

Ich habe über diese Dinge gesprochen, weil sie politisch von Bedeutung sind. Eine der stärksten ideologischen Waffen der kapitalistischen Gesellschaft ist die Vorstellung, dass die arbeitende Bevölkerung unmöglich die Gesellschaft organisieren und leiten kann, schon gar nicht die Wirtschaft, weil ihr die Kenntnisse dazu fehlen. Der Sozialismus sei deshalb keine Option, und die ökonomische Organisation der Gesellschaft müsse dem Markt und denen überlassen bleiben, die sein Wirken kontrollieren.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahmen Millionen von Menschen den Kampf für den Sozialismus auf, weil sie durch ihre Erfahrungen mit Krieg, Faschismus, Depression und Massenarbeitslosigkeit verstanden, dass das Wirken des freien Marktes und des kapitalistischen Systems zur Barbarei führte.

Während der letzten 60 Jahre gehörte die unermüdlich an den Schulen und Universitäten, von den Medien und der Politik gepredigte Vorstellung, solche Verhältnisse könnten unmöglich wiederkehren, zu den wichtigsten ideologischen Säulen der kapitalistischen Ordnung. Die Verantwortlichen, gleich, wo sie politisch stehen, hätten die Lehren aus den Katastrophen der Vergangenheit gezogen und wüssten, wie man sie in Zukunft verhindert.

Auch hat man uns wiederholt gesagt, dass Ben Bernanke, der Chef der US-Notenbank, seine wissenschaftliche Reputation durch ein Studium der Ursachen der Depression der 1930er Jahre erlangt habe, und dass er entschlossen sei, dergleichen nicht wieder zuzulassen. Trotz einiger Probleme stehe es also in der besten aller möglicher Welten zum Besten.

Zumindest diesen Mythos haben die Ereignisse der letzten Wochen gründlich zerstört. Wie in offiziellen Berichten offen zugegeben wird, versagten alle Kontrollmechanismen, die eine Finanzkrise verhindern sollten. Noch schlimmer: die Verantwortlichen können nicht einmal sagen, warum es so gekommen ist.

Bear Stearns wurde von der amerikanischen Börsenaufsicht SEC überwacht. Doch wie Christopher Cox, ihr Vorsitzender, nach dem Scheitern der Bank schrieb: "Zu jedem Zeitpunkt hatte die Bank eine Kapitaldecke, die die Vorgaben der Behörde deutlich überstieg." Gemäß der Vorgaben der SEC hatte Bear Stearns laut Cox eine "gute Kapitalausstattung". Oder, in den Worten des Chirurgen: Operation gelungen, Patient tot.

Während die Vertreter der kapitalistischen Wirtschaft ihre Verwirrung über die Ereignisse zum Ausdruck bringen, stellen die Vorkommnisse der vergangenen Wochen eine wahrhaft machtvolle Bestätigung der Marxschen Analyse der kapitalistischen Produktionsweise dar, deren Entwicklung, wie die Analyse zeigt, von objektiven Gesetzen regiert wird, die sich ebenso durchsetzen wie das Gesetz der Schwerkraft, wenn ein Haus über uns einstürzt.

Und so, wie der Einsturz des Hauses das Ergebnis von bereits lange andauernden Prozessen ist, so kann man auch den Zusammenbruch des Finanzsystems und die politischen Fragen, die dadurch aufgeworfen werden, nur durch eine historische Analyse der kapitalistischen Weltwirtschaft verstehen.

Dass die Finanzkrise, die jetzt den Weltkapitalismus erfasst, in den USA, dem Herzen der Weltwirtschaft, ausbrach, ist eine Tatsache von größter Bedeutung.

Ein Blick auf die Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts zeigt, dass man sie grob in zwei Hälften einteilen kann. Die ersten 50 Jahre sind geprägt durch die zerstörerischen Folgen des Zusammenbruchs der Weltwirtschaft im Anschluss an die enorme Expansion, die das neunzehnte Jahrhundert kennzeichnete. Nach 1945 beginnt eine neue Periode der Expansion, mit der die schrecklichen Ereignisse der vorangegangen Jahrzehnte scheinbar der Geschichte angehören.

Die Ausdehnung der Weltwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg stützte sich vor allem auf die Stärke der US-Wirtschaft. Diese ökonomische Stärke, nicht allein ihr militärischer Sieg, befähigte die USA, die Rahmenbedingungen für eine Periode beispielloser kapitalistischer Expansion zu setzen. Das Bretton Woods-Abkommen von 1944 begründete ein neues Weltwährungssystem und der Marshall-Plan von 1947 sorgte für den Wiederaufbau des vom Krieg verwüsteten Europa.

Das beispiellose wirtschaftliche Wachstum ließ eine Vielfalt reformistischer Illusionen ins Kraut schießen, die insbesondere von den Lehren von John Maynard Keynes inspiriert waren. Der Keynesianismus behauptete, Depressionen wie die der 1930er Jahre gehörten nun der Vergangenheit an, weil Regierungen und Finanzinstitutionen die kapitalistische Wirtschaft durch Ausgabenpolitik und Kontrolle der Zinssätze regulieren könnten.

Es schien, als hätte der Kapitalismus seine Widersprüche überwunden. Ende der 1960er Jahre machten sie sich jedoch erneut offen bemerkbar. Die Grundlage des Nachkriegsbooms war eine Erhöhung der Profitrate, ermöglicht durch die Verbreitung der neuen amerikanischen Produktionsmethoden über die ganze Welt. Doch nun begann die Profitrate zu sinken.

Daneben begannen sich die inneren Widersprüche des internationalen Währungssystems Bahn zu brechen, das durch das Bretton Woods-Abkommen etabliert worden war. Das Bretton Woods-Abkommen versuchte einen zentralen Widerspruch des kapitalistischen Weltsystems zu überwinden - den Widerspruch zwischen der Entwicklung einer Weltwirtschaft bei gleichzeitiger Aufteilung der Welt in rivalisierende Nationalstaaten.

Der Kapitalismus hatte schon seit langem die Grenzen des Nationalstaates und des nationalen Marktes gesprengt. Selbst der größte aller nationaler Märkte - der US-amerikanische - war ihm zu eng geworden. Amerikanische Wirtschaftspolitiker betrachteten dies als eine der wichtigsten Lehren der 1930er Jahre: Keine nationale Wirtschaft konnte ohne eine funktionsfähige Weltwirtschaft gedeihen.

Eine funktionsfähige globale Wirtschaft verlangte nach einem globalen Währungssystem. Aber was eignete sich als globales Zahlungsmittel? Eine Rückkehr zum Goldstandard war in den 1920er Jahren versucht worden und kläglich gescheitert. Konnte man ein weltweit gültiges Papiergeld- und Kreditsystem schaffen? Dieser Vorschlag kam von Maynard Keynes. Die Verwaltung eines weltweit gültigen Papiergeld- und Kreditsystems erforderte jedoch eine globale politische und Finanz-Aufsichtsbehörde. Die USA und andere kapitalistische Großmächte hätten dazu ihre Befugnisse an eine solche Behörde abtreten müssen. Die USA waren dazu natürlich nicht bereit, so dass man sich auf einen Kompromiss einigte. Danach sollte der US-Dollar als internationale Währung mit Golddeckung fungieren, wobei eine Feinunze Gold 35 US-Dollar entsprach.

Gerade das Wachstum der kapitalistischen Wirtschaft im Nachkriegsboom, nicht zuletzt ermöglicht durch das in Bretton Woods vereinbarte internationale Währungssystem, verstärkte den systemimmanenten Widerspruch zwischen der Rolle des US-Dollars als internationales Zahlungsmittel und seiner Funktion als Währung eines Nationalstaates, der USA.

Gegen Ende der 1960er Jahre überstieg die Menge der in der Weltwirtschaft im Umlauf befindlichen Dollars bei weitem den Wert der amerikanischen Goldreserven, die zur Deckung des Dollars dienen sollten. Ein Run auf den Dollar - und Versuche, Papierdollars gegen Gold einzutauschen, was die Position der USA schwächte -, bewogen Präsident Nixon, am 15. August 1971 das Bretton Woods-Abkommen und die Eintauschbarkeit des Dollars gegen Gold aufzukündigen. Nachdem 1973 Bemühungen gescheitert waren, zwischen den wichtigsten Währungen der Welt fixe Wechselkurse zu vereinbaren, begann das System der flexiblen Wechselkurse.

Die Entindustrialisierung Amerikas

Das Scheitern des Bretton Woods-Systems war ein erster Ausdruck des relativen Niedergangs der wirtschaftlichen Position der USA im Vergleich zu den anderen wichtigen kapitalistischen Mächten. Ende der 1970er Jahre nahm dieser Niedergang deutliche Formen an, als der Dollar ein Allzeittief erlebte und der Weltkapitalismus von Stagflation betroffen war - eine Kombination aus sich schnell entwickelnder Inflation bei niedrigem Wachstum, Rezession und der höchsten Arbeitslosigkeit seit dem Krieg.

1979 wurde Paul Volcker zum Vorsitzenden der US-Notenbank ernannt. Er initiierte ein Programm, um diese Schwierigkeiten im Interesse der Kapitalistenklasse Amerikas zu überwinden.

Teil des "Volcker-Schocks", wie seine Maßnahmen genannt wurden, war die Anhebung der Zinssätze auf Rekordhöhe. Volckers Politik verfolgte zwei miteinander verwobene Ziele: sie sollte den Wert des US-Dollars steigern und seine Position als unbestritten Weltwährung sichern (mit allen damit verbundenen Vorteilen für die USA), sowie unprofitable Teile der amerikanischen Industrie vernichten und so eine Neustrukturierung der amerikanischen Wirtschaft erzwingen, um die Profitraten zu erhöhen.

Diese Maßnahmen bedeuteten zwangsläufig eine pausenlose Offensive gegen die amerikanische Arbeiterklasse. Am Beginn stand die Entlassung der Fluglotsen und die Zerschlagung ihrer Gewerkschaft PATCO im Jahre 1981; es folgten die Entwicklung computergestützter Methoden der Produktion und Betriebsführung (der erste PC wurde 1981 entwickelt), sowie die Schaffung globaler Produktionsnetzwerke, um billige Arbeitskräfte effektiver nutzen zu können.

Der "Volcker-Schock" zeigte tatsächlich eine gewisse Wirkung. Von 1982 an verzeichneten die Aktienkurse einen beständigen Aufwärtstrend, und die Profitrate stieg langsam an. Doch der amerikanische Kapitalismus war weit davon entfernt, einen Aufschwung zu erleben. Die 1980er Jahre endeten mit der Sparkassenkrise, bei der mehr als 1.000 Institute Insolvenz anmelden mussten. Der Wirtschaftswissenschaftler Kenneth Galbraith sprach von "dem größten und kostspieligsten Beispiel für staatliches Fehlverhalten, Amtsmissbrauch und Diebstahl aller Zeiten", bei einem Gesamtverlust von 160 Milliarden Dollar. Im Oktober 1987 gab es den Crash an der Börse und 1990 setzte eine Rezession ein.

Mit der amerikanischen und der Weltwirtschaft als Ganzes ging es erst wieder aufwärts, als sich ein historischer Umschwung auf wirtschaftlichem Gebiet ereignete - der Zusammenbruch der Sowjetunion und der osteuropäischen stalinistischen Regimes, sowie die Öffnung der Wirtschaftsräume China und Indien. Ein riesiger Nachschub an billigen Arbeitskräften wurde dadurch verfügbar, nach manchen Schätzungen eine Verdoppelung der weltweit verfügbaren Arbeitskräfte, und die Struktur des amerikanischen Kapitalismus selbst veränderte sich stark - hier liegt die Ursache für die gegenwärtige Finanzkrise.

Ende des Zweiten Weltkrieges hatte der amerikanische Kapitalismus seine wirtschaftliche Vormachtstellung durch seine industrielle Stärke erreicht. Zwar verlor die US-Industrie während des Nachkriegsbooms ihre relative Vormachtstellung aufgrund des Wachstums der europäischen und japanischen Industrie, doch war sie immer noch ein Schwergewicht. In den letzten 30 Jahren jedoch haben wir die Entindustrialisierung der amerikanischen Wirtschaft erlebt und den Aufstieg der Finanzwirtschaft als ihren beherrschenden und dynamischsten Bereich.

Die Bedeutung dieser Transformation lässt sich verstehen, wenn wir die wesentlichen Prozesse der kapitalistischen Akkumulation untersuchen. Zu den größten Entdeckungen von Marx zählt, dass er das Geheimnis der kapitalistischen Akkumulation aufgedeckt hat. Er wies nach, dass die eigentliche Quelle des kapitalistischen Reichtums der Mehrwert ist, den das Kapital aus dem Einsatz der Lohnarbeit zieht. In der kapitalistischen Gesellschaft nimmt der Reichtum viele irreführende Formen an. Es gibt den Profit durch die Industrie, Einkünfte aus Landbesitz, und Reichtum durch einen Zuwachs an Vermögenswerten - Aktien, Häuser, Grundbesitz. Gelegentlich scheint es, als erzeuge Geld auf geheimnisvolle Weise Geld, als käme Reichtum einfach aus einer Sache heraus.

Marx zeigte, dass diese verschiedenen Formen von kapitalistischem Reichtum die Aufteilung des aus der Arbeiterklasse gewonnenen Mehrwerts unter den verschiedenen Besitzern von Eigentum darstellen.

Im Kapital, Band 2, erklärte er, dass für die Besitzer von Geldkapital (Banken und Finanzinstitutionen) "der Produktionsprozess nur als unvermeidliches Mittelglied, als notwendiges Übel zum Behuf des Geldmachens erscheint. Alle Nationen kapitalistischer Produktionsweise werden daher periodisch von einem Schwindel ergriffen, worin sie ohne Vermittlung des Produktionsprozesses das Geldmachen vollziehen wollen." (Das Kapital, Band 2, Berlin 1969, S. 62). Der Prozess, den Marx hier als "periodischen" beschreibt, ist inzwischen zu einem konstanten Merkmal des amerikanischen Kapitalismus geworden.

Folgende Zahlen lassen das Ausmaß dieses Prozesses erkennen. 1982 machten die Profite der Finanzunternehmen fünf Prozent der gesamten Unternehmensgewinne nach Steuern aus. 2007 waren es schon 41 Prozent, obwohl ihr Anteil an der Wertschöpfung nur von 8 auf 16 Prozent gestiegen war. Zwischen 1982 und 2007 stieg der Anteil der Profite der Finanzunternehmen am US-Bruttoinlandsprodukt um das Sechsfache. Martin Wolf, Kommentator der Financial Times, bemerkte, hinter diesem Boom stehe ein die ganze Wirtschaft erfassender Trend zur Fremdfinanzierung. Verschuldung wurde zum Stein der Weisen, sie führte zu einer wundersamen Geldvermehrung. Jetzt droht der Prozess der Kreditverknappung schwere Verluste zu verursachen. Die Tendenz zur Verschuldung verstärkte sich in den 1990er Jahren beständig und seit 2000 in rasantem Tempo.

Am 19. März konnte man in einem Artikel des Economist lesen: "Seit 2000 hat sich der Wert der Vermögen, die von Hedge Fonds mit ihren hohen Gebühren und ihrem hohen Verschuldungsgrad gehalten werden, verfünffacht... Der Wert von noch ausstehenden Credit Default Swaps (CDS, eine Art Versicherung gegen Kreditausfälle) ist auf atemberaubende 45 Billionen Dollar gestiegen. 1980 betrugen die Schulden des finanzwirtschaftlichen Sektors nur ein Zehntel der Schulden außerhalb des Finanzsektors. Inzwischen sind es 50 Prozent.

Dieser Prozess hat Investmentbanken in Schuldenmaschinen verwandelt, die vorwiegend im eigenen Interesse handeln. Goldman Sachs nutzt etwa 40 Mrd. Dollar Eigenkapital als Basis für 1.1 Billionen Vermögenswerte. Bei Merrill Lynch, wo die Fremdfinanzierung am stärksten ausgeprägt ist, hängen eine Billion Vermögenswerte am seidenen Faden von 30 Mrd. Dollar Eigenkapital. Bei Märkten im Aufwärtstrend sorgt das für traumhafte Eigenkapitalrenditen. Sind Märkte in Gefahr, kann ein geringfügiger Wertverlust bei den Vermögenswerten zum Ruin der Aktionäre führen."

Dieser Prozess zunehmender Verschuldung bzw. Fremdfinanzierung war in den USA am stärksten ausgeprägt; er ist jedoch ein weltweites Phänomen. 1980 war die weltweite Geldmenge etwa identisch mit dem globalen Bruttoinlandsprodukt. Schon 1993 war sie doppelt so hoch, und Ende 2005 war sie auf 316 Prozent, also auf mehr als das Dreifache des globalen Bruttoinlandsprodukts gestiegen

Die Senkung der Zinssätze gehört zu den wichtigsten Faktoren dafür, dass dieser Prozess andauern konnte. Diese Senkung war ihrerseits möglich, weil die Inflation zurückgegangen ist - nicht zuletzt ein Ergebnis der Produktion billigerer Waren in China und anderswo. Es existiert also eine symbiotische - man könnte auch sagen parasitäre - Beziehung zwischen der wachsenden Bedeutung des Finanzkapitals und dem Auftreten neuer, riesiger Quellen billiger Arbeitskräfte.

Wie aber geschieht eigentlich die Aufteilung des Mehrwertes, der aus den chinesischen Arbeitern herausgepresst wird, an die verschiedenen Teile des Kapitals?

Billige Kredite haben eine große Rolle beim Erwerb von Land und dem Bau von Einkaufszentren gespielt. (So haben wir gerade erlebt, wie die australische Firma Centro in Schwierigkeiten geriet, als die günstigen Kreditkonditionen, auf die sie sich für weitere Aufkäufe von Einkaufszentren verlassen hatte, Ende letzten Jahres nicht mehr gewährt wurden).

Die Gewährung zinsgünstiger Kredite treibt den Preis von Vermögenswerten nach oben, auch den von Einkaufszentren. Das bedeutet, dass die Eigentümer die Pacht erhöhen müssen, damit sich ihre Investitionen rentieren. Doch riesige Einzelhandelsunternehmen wie Wal-Mart in den USA - größter Importeur von Waren aus China und inzwischen größter Arbeitgeber in den USA - können diese Preise zahlen, weil sie durch den Verkauf der von China importierten Waren, die sie zu Niedrigpreisen erstehen, hohe Profite erzielen.

Die Erzielung von Mehrwert findet bei der Produktion dieser Waren statt. Er ergibt sich aus dem großen Unterschied zwischen dem Wert der Arbeitskraft (Löhne) der beschäftigten Arbeiter und dem Wert der Waren, die sie produzieren, und wird dann zwischen den verschiedenen Eigentümern aufgeteilt - ein Teil für Wal-Mart, ein Teil für den Besitzer des Einkaufszentrums in der Form von Pacht und ein anderer Teil für die Finanzinstitute, die das Geld für den Bau des Einkaufszentrums bereitstellten.

Der Prozess der inflationären Wertsteigerung von Vermögensgegenständen kann weitergehen, solange es günstige Kredite gibt, und der Vermögensgegenstand genügend Gewinn abwerfen kann. Sobald eine der beiden Bedingungen nicht mehr gegeben ist, verkehrt sich der Prozess ins Gegenteil.

Nach dem Zusammenbruch der Aktien- und Internet-Blase hatte der US-Immobilienmarkt einen inflationären, auf zinsgünstigen Krediten basierenden Boom erlebt, der Ende der 1990er Jahre einsetzte und sich nach dem Ende der Rezession von 2000-2001 rasant beschleunigte.

Die neue Devise war die "Originate and Distribute"-Strategie. Hypothekenverleiher gewährten Kredite für den Kauf von Immobilien und verkauften dann diese Kreditschulden sofort an Finanzhäuser weiter. Dafür erhoben sie eine Gebühr, da sie als erste die Kreditschuld kreiert hatten. Die Hypothekenkredite wurden dann gesammelt und zu Paketen geschnürt, um sie an andere Finanzinstitute zu verkaufen - an Hedge Fonds oder spezielle Investmentfirmen, die von Banken und anderen Finanzinstituten geschaffen wurden, ohne in deren Bilanzen aufzutauchen.

Der Ertrag aus diesen vermögensgestützten Wertpapieren kam vom Käufer der Immobilie. Die Bonität des Käufers musste gar nicht genauer unter die Lupe genommen werden, denn sollte er zahlungsunfähig werden, konnte man einen neuen Kredit vereinbaren oder, sollte dies misslingen, konnte das Haus zu einem höheren Preis verkauft werden.

Dem Prozess stellte sich aber ein unüberwindliches Hindernis in den Weg - der Rückgang der Reallöhne der amerikanischen Arbeiterklasse, der schon seit dreißig Jahren anhält, sieht man von einer kurzen Zeitspanne gegen Ende der 1990er Jahre ab, und sich seit Ende der Rezession 2001 fortgesetzt hat.

Dabei handelt es sich nicht um einen vorübergehenden Rückgang. Der amerikanische Ökonom Robert Reich hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich die Ausgleichsmechanismen zur Aufrechterhaltung der Einkommen - Berufstätigkeit von Frauen, Überstunden und schließlich vermehrte Verschuldung, insbesondere durch Hypothekenkredite - allesamt erschöpft haben. Millionen von amerikanischen Arbeitern und ihre Familien stehen vor einer Katastrophe, da der Verkaufswert ihres Hauses unter die Summe ihrer Restschuld fällt, so dass das Haus sich in Schulden verwandelt - ein Prozess, der weltweit stattfindet.

Welche Auswirkungen hat diese Wirtschafts- und Finanzkrise?

In der Erklärung der Redaktion der World Socialist Web Site vom 18. März argumentierten wir, dass der Kern der politischen Aufgaben, vor denen die Arbeiterklasse steht, der Kampf für ein internationales sozialistisches Programm sei, "dessen Ziel darin besteht, die Unterordnung der Wirtschaft unter die Diktate des privaten Profits zu beenden. Es strebt an, den enormen Reichtum, der durch die Hände der arbeitenden Bevölkerung in aller Welt geschaffen wird, zum Nutzen aller einzusetzen."

Waren das nur stereotype Phrasen? Kann man das Finanzsystem denn nicht sofort mit praktischen Maßnahmen reformieren, die wir unterstützen sollten?

Sehen wir uns die infrage kommenden Vorschläge an. Einige schlagen neue Vorschriften vor, um die raffgierigen Verhaltensweisen einzudämmen, die zum momentanen Desaster geführt haben. Haben wir das nicht schon einmal irgendwo gehört? Wurde dies etwa nicht nach dem Zusammenbruch von Enron und WorldCom gegen Ende der 1990er Jahre vorgeschlagen? Und was ist dabei herausgekommen? Das kriminelle Verhalten, mit dem man diese beiden und andere Firmen gleichsetzte, wurde einfach nur in weit größerem Maßstab praktiziert.

Der Kongress erließ 2002 den Sarbanes-Oxley Act. Bush setzte das Gesetz am 30. Juli 2002 in Kraft und behauptete, es stelle "die weitestreichende Reform der Vorschriften für die Finanzberichterstattung von börsennotierten Unternehmen in Amerika seit der Regierungszeit von D. Roosevelt dar".

Von Beginn an stand dieses Gesetz allerdings unter Beschuss, weil strengere amerikanische Bestimmungen die Wall Street als Finanzzentrum gegenüber London benachteiligten. Die jüngsten Regulierungsvorschläge von Finanzminister Henry Paulson zielen denn auch mehr darauf ab, die Kontrolle über das Finanzsystem zu schwächen als sie zu stärken. Mit anderen Worten: Unter Bedingungen eines globalen Finanzmarktes, auf dem ein immer schärferer Konkurrenzkampf zwischen den einzelnen nationalen Märkten herrscht, ist Regulierung pure Illusion.

Hinzu kommt, dass eine Finanzkrise an sich Regulierungsbestimmungen zur Wirkungslosigkeit verurteilt. Wir erwähnten bereits die Äußerung des Vorsitzenden der Börsenaufsicht, Cox, dass die Bear Stearns-Bank alle aufsichtsrechtlichen Normen erfüllt habe. Das war sicherlich der Fall. Doch erwiesen sich diese Normen als völlig nutzlos. Der Grund hierfür ist der irrationale Charakter des Marktes selbst, der an den Eigeninteressen riesiger Finanzinstitutionen ausgerichtet ist.

Im Innersten des Marktes wirkt ein fundamentaler Widerspruch, den auch noch so viele Vorschriften nicht beseitigen können - der Widerspruch zwischen dem rationalen Verhalten Einzelner und dem System als Ganzem.

Überschuldeten Personen oder Unternehmen stehen drei Wege offen: Ausgaben einschränken, Vermögenswerte veräußern oder Insolvenz anmelden. Wenn zu viele die Ausgaben senken, resultiert daraus ein Konjunkturabschwung, der weitere Probleme verursacht. Werden zu viele Vermögenswerte verkauft, verlieren sie noch weiter an Wert, und der Druck zu verkaufen, ehe der Preis noch mal fällt, wird daher noch stärker. Und wenn zu viele Insolvenz anmelden, trifft es die Makler, die Versicherungen verkaufen. Auch wenn es aus der Sicht des Einzelnen also völlig vernünftig sein mag, eine dieser Möglichkeiten zu wählen, so verschlimmern die Konsequenzen eher die Gesamtsituation.

Timothy Geithner, Vorsitzender der New Yorker Federal Reserve Bank, legte in einer Rede am 6. März dar, wie sich dieser Widerspruch entfaltet:

"Den gegenwärtigen Ereignissen eignet eine wesentliche Dynamik, die sie mit allen Krisen der Vergangenheit gemeinsam haben. Wenn die Marktteilnehmer das Risiko weiterer Verluste zu reduzieren suchten, auf die Bremse traten, dann wurde die Bremse zum Gaspedal und hat den Schock noch verstärkt. Kalkuliertes Risiko wich einer immer größeren Risikobereitschaft, schneller, als viele Institute die Risiken eindämmen konnten, und die Versuche, sie zu reduzieren, haben die Instabilität erhöht und den Verfall der Preise beschleunigt, und damit die Risiken gesteigert. Die Unsicherheit hinsichtlich des Marktwertes von Sicherheiten und des Risikos von Geschäftspartnern hat zugenommen, und viele Hedge-Fonds haben nicht die angestrebten Ziele erreicht. Die rationalen Entscheidungen selbst der stärksten Finanzinstitutionen zur Verminderung des Risikos künftiger Verluste haben das Funktionieren des Marktes in schwerwiegender Weise beeinträchtigt. Dies wiederum hat die Liquiditätsprobleme sehr vieler Banken und anderer Finanzinstitutionen verschärft."

Anders ausgedrückt: Was für das einzelne Finanzinstitut rational ist, kann zu verheerenden Konsequenzen führen.

Geithner fuhr fort: "Diese sich selbst verstärkende Dynamik auf den Finanzmärkten hat die Risiken für einen Wachstumseinbruch der Wirtschaft erhöht, die sich bereits einem sehr ausgeprägten Abwärtstrend auf dem Immobilienmarkt und der Möglichkeit deutlicher Ausgabeneinschränkungen der privaten Haushalte ausgesetzt sieht."

Weil die Banken verstärkt mit verlustträchtigen Vermögenswerten belastet sind, tendieren sie oder ihre SIVs (structured investment vehicles - Zweckgesellschaften, die die Banken selbst als Vehikel für ihre lukrativen Geschäfte mit schlecht besicherten Papieren gegründet hatten), dazu, sie zu verkaufen, um ihr Verlustrisiko zu verringern und ihre Geldbestände zu erhöhen. Daraus resultiert aber ein Preisverfall dieser finanziellen Vermögenswerte, was zur Schwächung anderer Institute beiträgt, die sie in ihrem Portfolio haben. Die Folge ist eine weitere Schwächung der Position von Banken und anderen Finanzinstituten, die von den anfänglichen Problemen vielleicht gar nicht betroffen waren. Sie hatten den Typ von Vermögenswerten, die anfänglich betroffen waren, vielleicht gar nicht in ihrem Portfolio.

Northern Rock, die zusammengebrochene britische Bank, hatte mit den amerikanischen Subprime-Hypothekenkrediten nichts zu tun. Doch sie hing sehr stark vom Markt für kurzfristige Kredite für die Fonds ab, die sie nutzte, um Hypothekenkredite zu finanzieren. Als die Zinssätze in diesem Markt zu steigen begannen, erlitt die Bank Schiffbruch. Bei dieser "sich selbst verstärkenden Dynamik", wie Geithner es nennt, geht es um riesige Geldsummen, Summen, die manchmal die Größenordnung von Volkswirtschaften in den Schatten stellen. Für ein Finanzinstitut, das durch risikobehaftete Vermögenswerte in Schwierigkeiten gerät, ist es völlig vernünftig, sie zu verkaufen. Dieses rationale Verhalten kann aber zu einer ganzen Serie erzwungener Verkäufe führen und schließlich in einer schweren Finanzkrise und wirtschaftlichem Zusammenbruch enden.

Das Leben von Millionen von Menschen, ihr Wohlergehen und die künftige Ausbildung ihrer Kinder werden von der Funktionsweise eines Systems beherrscht, über das sie keine Kontrolle haben, und das niemand wirklich kontrollieren kann. Das heißt, rationales Marktverhalten einer Bank oder eines Finanzinstitutes produziert auf gesellschaftlicher Ebene irrationale und krankhafte Zustände, die durch keine Vorschriften geheilt werden können, sondern nur durch die Abschaffung der Finanzmärkte. An ihre Stelle muss ein System gesellschaftlicher Kontrolle über den Reichtum und das Vermögen treten, die durch die Gesellschaft als Ganzes geschaffen werden.

Sozialistische Revolution

Die Perspektive der sozialistischen Revolution gründet sich auf objektive Prozesse in der geschichtlichen Entwicklung des Kapitalismus. Die gegenwärtige internationale Finanzkrise eröffnet ein neues Kapitel dieser Geschichte.

Um seine Bedeutung zu verstehen, wollen wir es in seinen Zusammenhang stellen. 1919, nach der russischen Revolution, kommentierte Leo Trotzki den Umstand, dass sich die Presse damals stark mit Lenin, dem Führer der Revolution, und Woodrow Wilson, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten beschäftigte. Wilson war nach Europa gekommen, um die Ausbreitung der Revolution im restlichen Europa zu verhindern. "Lenin und Wilson", schrieb Trotzki, "das sind die beiden apokalyptischen Grundprinzipien der modernen Geschichte."

Welches Prinzip würde den Sieg davontragen? Heute kennen wir die Antwort auf diese Frage. Unter größten Schwierigkeiten, und angewiesen auf die Hilfe der sozialdemokratischen und stalinistischen Führungen, die die Arbeiterklasse verrieten, konnten die USA nach drei Jahrzehnten blutigen Krieges, von Depression, Faschismus und dem Tod von zig Millionen Menschen das kapitalistische Weltsystem wieder stabilisieren.

Ökonomisch fußte dieses Gleichgewicht auf der Stärke des amerikanischen Kapitalismus. Jetzt erleben wir eine Krise - die schwerste seit den 1930er Jahren -, die den amerikanischen Kapitalismus ins Mark trifft.

Diese Krise markiert das Ende einer ganzen historischen Ära. Jahrzehntelang stabilisierten die USA den Weltkapitalismus. Heute sind sie die große destabilisierende Kraft. Der Aufstieg der amerikanischen Wirtschaftsmacht änderte den Lauf der Weltgeschichte, ihr Niedergang wird noch viel weiter reichende Konsequenzen haben.

Dieser Niedergang hat schon vor Jahrzehnten begonnen. In den 1980er Jahren versuchten die USA, die erste Phase des Niedergangs durch einen umfangreichen Restrukturierungsprozess zu bewältigen. Doch gerade die Prozesse, die sie damals ins Rollen brachten, haben jetzt eine Krise von noch größeren Ausmaßen hervorgerufen.

Alle Fragen, mit denen die Arbeiterklasse in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts konfrontiert war, und die Millionen von Arbeitern, Jugendlichen und sozialistisch gesinnten Intellektuellen den Kampf für den internationalen Sozialismus aufnehmen ließen, stellen sich heute erneut mit noch größerer Dringlichkeit. Es ist nicht nur die Gefahr einer weltweiten Wirtschaftskrise, wenn nicht einer Depression, der wir gegenüberstehen; die zunehmenden ökonomischen Spannungen zwischen den großen kapitalistischen Mächten, ein Produkt des Niedergangs der USA, verschärfen zwangsläufig die Kriegsgefahr.

Während der letzten 35 Jahre hat die Weltwirtschaft auf der Grundlage des US-Dollars als wichtigster Weltreservewährung funktioniert. Daraus erwuchsen den USA größte Vorteile. Der Niedergang des Dollars jedoch bedeutet, dass die USA ihre Vorherrschaft künftig von neuen Herausforderungen bedroht sehen werden. Nicht schlechte Absichten von irgendeiner Seite sind dafür ursächlich, sondern die Logik ökonomischer Prozesse. Wie lange kann die restliche kapitalistische Welt - die alten Mächte in Europa und Japan, im Verbund mit den neuen aufsteigenden Mächten China und Indien, und den Öl exportierenden Länder des Nahen Ostens - die USA weiterhin mit zwei Mrd. Dollar täglich finanzieren, und damit große Summen in amerikanische Schuldtitel stecken, die ständig an Wert einbüßen?

Natürlich haben alle kapitalistischen Mächte ein Interesse an der Bewahrung globaler Stabilität - niemand will eine Krise provozieren. An einem bestimmten Punkt allerdings werden die Kosten der Aufrechterhaltung dieses Systems untragbar.

Wie werden die USA dann reagieren? Die Antwort darauf sehen wir im Irak. Die USA werden ihre Stellung mit militärischen Mitteln zu verteidigen suchen.

Abermals steht die gesamte Menschheit vor Depression und Krieg. Nur der Kampf für ein internationales sozialistisches Programm kann dieser Drohung Einhalt gebieten. Darin besteht die Perspektive der SEP und des Internationalen Komitees der Vierten Internationale.

Siehe auch:
Warum die Aktienkurse sich erholt haben (1. Mai 2008)

Rolle der Hedge Fonds in der Weltnahrungskrise (24. April 2008)

Plan des US-Finanzministeriums schützt Wall-Street-Spekulanten (8. April 2008)

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