Radovan Karadzics Verhaftung und die Komplizenschaft des Westens im bosnischen Bürgerkrieg

Die Verhaftung des bosnischen Serbenführers Radovan Karadzics hat einen ganzen Schwall von Geschichtsfälschungen ausgelöst. Damit wird die Propaganda wieder aufgewärmt, mit der die USA und die Nato ihr Eingreifen im ehemaligen Jugoslawien rechtfertigten, und mit der die Westmächte ihre Rolle bei der Zerstückelung der Föderation zu verschleiern versuchten.

Karadzic war Präsident der Bosnisch-Serbischen Republik (Republika Srpska—RS), Führer der Serbischen Demokratischen Partei (SDS) und Oberkommandierender der bosnisch-serbischen Armee. 1995 wurde er vom Internationalen Kriegsverbrechertribunal für das frühere Jugoslawien (ICTY) in dreizehn Fällen des Völkermordes und anderer Kriegsverbrechen angeklagt, die er angeblich während des Kriegs in Bosnien und Herzegowina 1992-95 begangen haben soll. Darunter fallen seine Verantwortung für die 44-monatige Beschießung der Hauptstadt Sarajevo und das Massaker an 8.000 bosnischen Muslimen in Srebrenica.

Karadzic tauchte nach der Unterzeichnung des Dayton-Abkommens vom November 1995 unter. Dieses Abkommen beendete den Bosnienkrieg und besiegelte die Aufteilung der ehemaligen jugoslawischen Republik in zwei ethnisch-definierte Teilrepubliken, die RS und die Föderation von Bosnien-Herzegowina (kroatisch-muslimisches Bündnis).

Er wurde am Montag, den 21. Juli, in der serbischen Hauptstadt Belgrad verhaftet, wo er sich als Dragan Dabic, Arzt für Alternativmedizin, ausgegeben hatte. Die Umstände seiner Verhaftung sind nach wie vor unklar. Sein Rechtsanwalt sagte, er sei schon am Freitag vorher in einem Bus außerhalb Belgrads festgenommen worden und befinde sich seither ohne Kontakt mit der Außenwelt in Haft.

Berichten zufolge sollen westliche Geheimdienste beteiligt gewesen sein, möglicherweise weil die Verhaftung des ehemaligen bosnisch-serbischen Polizeichefs Stojan Zupljanin im Juni neue Erkenntnisse gebracht hat. Eine andere Version lautet, dass Karadzics Aufenthalt seit langem bekannt war, seine Verhaftung jedoch erst nach Absetzung des Geheimdienstchefs Rade Bulatovic durch die neue, pro-westliche Koalitionsregierung unter Präsident Boris Tadics Demokratischer Partei erfolgen konnte. Innenminister Ivica Dacic, der Nachfolger von Slobodan Milosevics an der Spitze der Sozialistischen Partei, leugnete eine Beteiligung seines Ministeriums an der Festnahme.

Die Verhaftung aller vom Haager Tribunal gesuchten Verdächtigen, einschließlich Karadzics und des bosnischen Generals Ratko Mladic, ist Vorbedingung für die Aufnahme Serbiens in die Europäische Union. Die Aufnahme in die EU ist zentrales Anliegen der neuen Regierung und war im Wahlkampf ihr Hauptthema.

Alle Augen richteten sich auf Karadzic, denn das Jugoslawien-Tribunal war nicht in der Lage, stichhaltige Beweise vorzulegen, die eine direkte Verantwortung des ehemaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic an den Verbrechen belegt hätten, die im jugoslawischen Bürgerkrieg der 1990er Jahre begangen worden waren.

"Dies ist ein sehr wichtiger Tag für die Opfer, die über zehn Jahre auf diese Festnahme gewartet haben", sagte Chefankläger Serge Brammertz. "Es ist auch ein wichtiger Tag für die internationale Justiz, denn es erweist sich, dass niemand dem Gesetz entgehen kann, und dass früher oder später alle Flüchtigen vor Gericht landen."

Lawrence Eagleburger, Außenminister und Präsident George H.W. Bushs Jugoslawien-Sonderberater von 1989-92, sagte: "Ich glaube, er ist einer der letzten aus dieser wirklich üblen Bande, der immer noch auf freiem Fuß war. Er ist nicht der einzige, aber wahrscheinlich ist er, nach der Verhaftung und später dem Tod von Milosevic, der Mann, der es am meisten verdient hat, gefasst und bestraft zu werden."

Ex-Botschafter Richard Holbrooke, der Initiator des Dayton-Abkommens, bezeichnete Karadzic als Person, "deren begeistertes Eintreten für ethnische Säuberungen einen besonderen Platz in der Geschichte verdient".

Madeleine Albright, Außenministerin unter Präsident Bill Clinton, kommentierte Karadzics Verhaftung mit den Worten: "Nun, ich glaube, es ist ein enormes Ereignis, ein bahnbrechendes Ereignis. Es hätte schon längst passieren sollen, aber die Tatsache, dass es nun doch so weit ist, ist sehr wichtig für das bosnische Volk und für alle, die unter den Folgen von Karadzics Politik gelitten haben."

Ohne Zweifel spielte Karadzic eine wichtige Rolle in der politischen Entwicklung, die den Bürgerkrieg in Bosnien aufflammen ließ. Dennoch ist es absurd, wenn die westlichen Medien und die Politiker ihn jetzt als den allmächtigen "Schlächter Bosniens" hinstellen, der das empfindliche ethnische Gleichgewicht des Landes zerstört haben soll.

In dieser Version der jüngsten Geschichte Jugoslawiens wird die entscheidende Rolle der imperialistischen Großmächte vollkommen weggelassen. Besonders die Vereinigten Staaten und Deutschland betrieben bewusst die Aufspaltung des Landes, ohne Rücksicht auf die tragischen Konsequenzen ihrer Intervention. So werden denn auch die von ihnen geförderten nationalistischen und kommunalistischen Politiker nicht erwähnt, so zum Beispiel der kroatische Präsident Franjo Tudjman oder der bosnisch-muslimische Führer Alija Izetbegovic, die genau so viel Schuld tragen wie Karadzic.

Jugoslawien war nach dem zweiten Weltkrieg aus einer Volksbewegung gegen die Nazi-Besetzung und gegen die serbisch-royalistischen Tschetniks hervorgegangen. An ihrer Spitze standen Josip Broz (Tito) und die jugoslawische Kommunistische Partei. Tito entwickelte ein sorgfältig austariertes bundesstaatliches System ethnischer Gruppen und Regionen. Unter den besonderen historischen Bedingungen des Kalten Kriegs war Tito einige Jahre lang in der Lage, zwischen den USA und der Sowjetunion zu manövrieren und einen einheitlichen Bundesstaat zu gewährleisten, der den verschiedenen ethnischen Gruppen - den Serben, Kroaten, bosnischen Muslimen, Kosovaren etc.- verfassungsmäßige Garantien bot.

Karadzic wurde im Juni 1945 in Montenegro geboren, aber er wuchs ohne seinen Vater auf, der von Tito ins Gefängnis gesteckt worden war, weil er auf der Seite der Tschetniks gekämpft hatte. 1960 studierte Karadzic an der Medizinischen Universität Sarajevo und 1974-75 besuchte er die New Yorker Columbia-Universität für eine weitergehende psychiatrische Ausbildung. 1985 wurde er gemeinsam mit seinem engen Freund Momcilo Krajisnik (dem späteren Sprecher der Serbischen Versammlung) zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil sie staatliche Gelder für den Bau ihrer Privathäuser veruntreut hatten.

Karadzic geriet immer mehr unter den Einfluss des serbischen Schriftstellers Dobrica Cosic, einem Propagandisten des Tito-Regimes, der später an die Spitze der nationalen Wiedererweckungsbewegung Serbiens trat. Er wurde als "Vater der serbischen Nation" gepriesen. Karadzic wurde Cosics politischer Protégé, hätte aber vermutlich nur eine untergeordnete politische Rolle gespielt, wenn die jugoslawische Föderation nicht auseinandergefallen wäre.

Die Ursache für ihr Auseinanderbrechen Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre hängt direkt mit der von den Westmächten diktierten Politik und mit den vom Internationalen Währungsfond und der Weltbank verordneten Strukturanpassungsprogrammen zusammen. Das Ziel des Westens war es, die staatlich kontrollierte Wirtschaft zu beseitigen und die ökonomische Vorherrschaft des internationalen Kapitals in Jugoslawien wiederherzustellen.

Der Druck des Westens trug zu steigender Inflation und hohen Arbeitsplatzverlusten bei, die wiederum zu Streiks und anderen Massenprotesten der jugoslawischen Arbeiterklasse führten. Um vom Klassenkampf abzulenken, stachelten ehemals stalinistische Bürokraten nationalistische Stimmungen an und versuchten gleichzeitig, die Unterstützung westlicher Regierungen zu gewinnen.

Als im November 1990 in Bosnien Mehr-Parteien-Wahlen stattfanden, gab es schon drei ethnisch definierte Parteien. Neben Karadzics, Krajisniks und Biljana Plawsics Serbisch Demokratischer Partei gab es noch Izetbegovics Muslimische Partei der Demokratischen Aktion (SDA) und die Kroatische Demokratische Union (HDZ). Die verbleibenden Sitze teilten sich verschiedene Parteien, unter ihnen die ehemalige Kommunistische Partei.

Die ethnischen Spannungen, die sich entwickelt hatten, explodierten mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Wiedervereinigung Deutschlands 1991. Die geopolitische Position Jugoslawiens als Bollwerk gegen ein Vorstoßen der Sowjetunion bis ans Mittelmeer ging verloren. Der wiedererwachte deutsche Imperialismus sah seine Interessen auf dem Balkan - historisch eine deutsche Einflusssphäre - am besten durch die Abtrennung Sloweniens, der blühendsten Region Jugoslawiens, und dann Kroatiens gesichert.

Angesichts der Geschichte und der politischen Lage in Jugoslawien war es unvermeidlich, dass ein stückweises Auseinanderbrechen der Föderation zum Bürgerkrieg führen musste. Die Abspaltung von Republiken beraubte ethnische Minderheiten plötzlich des verfassungsmäßigen Schutzes, den sie in der Föderation genossen hatten. Das Entstehen neuer Staaten auf der Grundlage von ethnischem Nationalismus führte zu "ethnischen Säuberungen".

Nachdem die amerikanische Regierung die Auflösung Jugoslawiens zuerst abgelehnt hatte, änderte sie ihre Strategie im Interesse ihres Zieles, die ehemaligen Ostblockländer, die sich der kapitalistischen Ausbeutung öffneten, zu kontrollieren. Sie wurde zur stärksten Befürworterin der Unabhängigkeit Bosniens und des Kosovo, und bekämpfte Serbien, weil dieses als bisher stärkste Teilrepublik den einheitlichen Staat verteidigte. Die USA wandten sich nur dann gegen ethnische Säuberungen, wenn sie von den Serben begangen wurden, unterstützten aber Kroaten, Bosnier und Kosovo-Albaner, wenn sie gleiche Ziele mit den gleichen blutigen Methoden verfolgten.

Im April diesen Jahres wurde der ehemalige Führer der UCK und Ex-Ministerpräsident des Kosovo, Ramush Haradinaj, vom Vorwurf freigesprochen, 1998 Kriegsverbrechen gegen Serben im Kosovo begangen zu haben. Die Anklagevertretung beim Jugoslawientribunal, die einen erneuten Prozess anstrebt, sagt, dass zwei zentrale Zeugen nicht vor dem Tribunal aussagten, weil sie sich bedroht fühlten. Die Richter in dem Verfahren sagten ebenfalls, dass der Prozess "in einer Atmosphäre abgelaufen sei, in der sich Zeugen bedroht fühlten".

Vergangenen Monat leugnete der US-Botschafter in Kroatien von 1993-1995, Peter Galbraith, dass die als "Operation Sturm" bekannte Offensive von 1995, bei der 200.000 Serben aus der kroatischen Krajina vertrieben wurden, eine "ethnische Säuberung" gewesen sei. Galbraith sagte in dem Prozess des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag gegen kroatische Generäle aus, zu denen auch Ante Gotovina gehört. Diese Generale werden für Kriegsverbrechen unter ihrem Kommando stehender Truppen gegen Serben verantwortlich gemacht. Galbraith gab an, dass die US-Regierung "Verständnis" für die "Operation Sturm" gezeigt habe, betonte aber, er hätte Washington nicht empfohlen, "grünes Licht" zu geben, wenn er von Tudjmans Absicht, die Serben zu vertreiben, ausgegangen wäre. Vorher hatte Galbarith in seiner Aussage schon gesagt, dass Tudjman und seine Leute ein "ethnisch reines Land" angestrebt hätten.

Der Krieg vom Juni 1991 brach in Slowenien und Kroatien aus, nachdem die beiden Republiken ihre Unabhängigkeit erklärt hatten. Als Folge dieses Krieges versank Bosnien im Chaos. Die SDA agitierte immer stärker für die Unabhängigkeit Bosniens, während die SDS Bosnien in der jugoslawischen Föderation halten wollte. Innerhalb weniger Monate führte Izetbegovic ein Referendum über die Unabhängigkeit durch, und zwei Drittel der Bevölkerung billigten sie. Die Serben boykottierten die Abstimmung. Die Serben ihrerseits hatten eine separate serbische Versammlung gebildet, die die "Serbische Republik Bosnien" ausrief und eine Armee unter dem Kommando von Ratko Mladic schuf. Ein Bürgerkrieg war kaum noch zu vermeiden.

Im Juli 1995 wurden bei Srebrenica ca. 8.000 bosnische Männer und Jungen von Einheiten der Armee der Republika Srpska unter dem Kommando von Mladic ermordet - offiziell der größte Massenmord in Europa seit dem zweiten Weltkrieg.

Srebrenica war von den Vereinten Nationen als "sicheres Gebiet" ausgewiesen worden und wurde von 200 holländischen Soldaten geschützt. Es wurde von der bosnisch-muslimischen Armee (ABiH) als Basis für Angriffe auf serbische Einheiten benutzt. Als Mladics Truppen am 11. Juli in die Stadt eindrangen, schlachteten sie eine Kolonne ab, die hauptsächlich aus Männern bestand und nach Tuzla zu entkommen versuchte. Dabei machten sie keinen Unterschied zwischen Soldaten der ABiH und Zivilisten.

Die Anklagevertretung beim Jugoslawien-Tribunal muss nun beweisen, dass Karadzic Kommandoverantwortung für Kriegsverbrechen im Bürgerkrieg trägt. Im vergangenen Jahr befand das internationale Gericht, dass Truppen der RS Völkermord begangen hätten, aber nur in Zusammenhang mit Srebrenica, nicht an anderer Stelle des Bosnienkrieges. Bisher hat das Tribunal nur zwei bosnische Serben wegen direkter Beteiligung an dem Massaker von Srebrenica verurteilt. Momcilo Krajisnik, dem Mitangeklagten von Karadzic, konnte es keine Beteiligung an Völkermord nachweisen.

Siehe auch:
Bosnien-Herzegowina steht vor dem Zerfall
(20. April 2001)
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