Ein Briefwechsel zu Bertold Brecht

Wir veröffentlichen hier die Zuschrift eines Lesers über den Dramatiker Bertold Brecht und die Antwort von Sybille Fuchs, die für die WSWS über kulturelle Fragen schreibt.

Liebe WSWS-Redaktion,

die Tochter einer Freundin behandelt im kommenden Schuljahr Bertold Brechts "Arturo Ui". Ich las mir aus diesem Anlass das Stück durch und besprach es mit ihr.

Das bestimmende Gefühl dabei war Unsicherheit. Natürlich ist ein Theaterstück nicht dasselbe wie ein Vortrag zur Gesellschaftstheorie. Genau da beginnt deshalb auch mein Selbstzweifel. Mir kam der große Brecht beim Lesen des Ui ziemlich klein vor, aber ist mein Blick richtig? Ich befürchte, dass ich das Stück ausschließlich durch die "politische Brille" sehe und damit dem Dramatiker Unrecht tue. Allerdings ist es ein erklärtermaßen politisches Stück, was der politischen Brille ihre Berechtigung gibt.

Durch diese Brille betrachtet empfinde ich es als dürftig, was Brecht uns im Arturo Ui zum Aufstieg des Faschismus zu sagen hatte. Das Stück wurde 1941 geschrieben und wohl erst gegen Mitte der 50-er auf die Bühnen gebracht. Das ist vermutlich dem Umstand anzurechnen, dass nach dem Krieg der Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Krieg allzu gegenwärtig in den Köpfen der Verbliebenen war. Ein Stück, welches den Faschismus als gangsterhaftes aber ziemlich unspektakuläres, kapitalistisches Geschäftsgebaren darstellt, wäre unpassend gewesen. Ui war unmittelbar nach dem Krieg vielleicht deshalb brisant, weil es für die Herrschenden galt den Kapitalismus zu retten und dieses Unterfangen für sich glich schon dem Tanz im Minenfeld.

Aber die Erklärung die Brecht den Zuschauern/ Lesern anbietet, war sie damals auch brisant, klemmt vorn und hinten. Sie verfälscht meines Erachtens die historischen Zusammenhänge, sie greift scharf an und verharmlost zugleich.

Meine politische Brille sagte mir, dass genau da wohl der Grund dafür zu finden ist, dass das Stück im heutigen Kapitalismus hoffähig geworden ist und im Unterricht behandelt werden kann, leider weiß ich noch nicht mit welchen Intentionen der Lehrplan der Gymnasialstufe das Stück behandeln wird.

Brecht selbst schrieb, dass der "Arturo Ui" der Versuch sei, "der kapitalistischen Welt den Aufstieg Hitlers dadurch zu erklären, dass er in ein ihr vertrautes Milieu versetzt wurde". Wer soll "die kapitalistische Welt" sein? Zahnärzte, Arbeiter, Bauunternehmer? Und ist Zahnärzten, Arbeitern und Bauunternehmern das Gangstermilieu vertraut? Ist es nicht ein unzulässiger Wechsel der Ebene, wenn man Gangstermethoden als Mittel des Konkurrenzkampfes zur Erklärung von politischen Verhältnissen zwischen Klassen heranzieht?

Mich würde interessieren: Wie sehen Sie das Stück? Ist mein Blick ungeübt und bin ich daher mit meinen Zweifeln am Brecht ungerecht oder zu streng? Wie sehen Sie ganz allgemein den Brecht in der Geschichte? Immerhin ist er ein weltweit beachteter Dramatiker gewesen.

Mit freundlichen Grüßen

B. K.

* * *

Lieber B. K.,

dass Sie bei der Lektüre von Brechts Arturo Ui ein Gefühl der Unsicherheit hatten, kann ich sehr gut nachvollziehen. Ich arbeite seit einiger Zeit an einer Artikelserie über Brecht, die leider wegen aktuellerer Arbeiten immer wieder hintan gestellt wurde.

Eine der Hauptschwierigkeiten bei der Auseinandersetzung mit Brecht ist zweifellos, ihm einerseits als Dichter fiktiver Werke gerecht zu werden, ihn aber gleichzeitig an seinem politischen Anspruch zu messen. Er gehört ohne jeden Zweifel zu den ganz großen literarischen Persönlichkeiten des 20. Jahrhundert. Er wollte sich als Stückschreiber politisch in den Kampf gegen das kapitalistische System einmischen und auf die Seite der Arbeiterklasse stellen. Daher ist es legitim, seine Theaterstücke nicht nur an ihrer ästhetischen Qualität, sondern auch an ihrem politischen Anspruch zu messen.

In der Parabel Arturo Ui, die er 1941 im finnischen Exil schreibt, geht es bekanntlich um die Machtergreifung und den Machtausbau Hitlers. Brecht verlegt das Geschehen in die Gangsterwelt von Chicago. Er greift dabei auf seine Recherchen aus dem Amerika der frühen 1930er Jahre zurück und zieht Parallelen zwischen dem Vorgehen Hitlers und dem skrupellosen Vorgehen Al Capones während der Prohibitionszeit.

Die verschiedenen Gangstertypen sind bösartig karikiert und eindeutig bestimmten Nazigrößen zuzuordnen. Arturo Ui ist Gangsterboss und steht für Hitler, Ernesto Roma ist sein Leutnant, der nach dem SA-Chef Ernst Röhm konzipiert ist, Dogsborough steht für den Reichspräsidenten Hindenburg, Emanuele Giri ist Gangster und Göring, der Blumenhändler und Gangster Guiseppe Givola verkörpert Goebbels, und Dullfeet ist der österreichische Kanzler Dollfuß.

All das ist hintergründig und witzig und sprachlich kunstvoll in Verse gefasst. Doch bleibt auch dem heutigen Zuschauer leicht ein Gefühl der Unangemessenheit zurück angesichts der wirklichen Ausmaße der historischen Katastrophe und des Verrats der Führung der Arbeiterklasse, die sie erst ermöglicht hat.

Woran liegt das? Sicher ist es nicht allein die Frage, ob es legitim ist, "große Verbrecher" der Lächerlichkeit preiszugeben, die Brecht in seinen Anmerkungen zu Arturo Ui von 1948 erörtert. "Die großen politischen Verbrecher müssen durchaus preisgegeben werden, und vorzüglich der Lächerlichkeit. Denn sie sind vor allem keine großen politischen Verbrecher, sondern die Verüber großer politischer Verbrechen, was etwas ganz anderes ist." Dem ist durchaus zuzustimmen.

Satire ist ein legitimes Mittel, einen illegitimen Herrschaftsanspruch zu entlarven. Das Problem bei Arturo Ui ist aber, dass diese Parabel in ihrer Abstraktion einfach zu begrenzt ist, um dem Zuschauer ein wirkliches Verständnis der Hintergründe des Aufstiegs der nationalsozialistischen Machthaber zu ermöglichen. Die historische Parallele stimmt einfach nicht. Insofern stimme ich Ihrer Feststellung zu, dass diese Parabel die historischen Zusammenhänge verfälscht, sie scharf angreift und zugleich verharmlost.

Brecht rechtfertige in seinen Notizen die Begrenzung der Fabel auf die Ebene des Staates, der Industriellen, Junker und Kleinbürger. Es gehe ihm ausschließlich darum den "üblichen gefahrvollen Respekt vor den großen Tötern zu zerstören." Er wolle "keinen allgemeinen, gründlichen Abriss der historischen Lage der dreißiger Jahre geben. Es fehlt das Proletariat, und es kann nicht in weiterem Maße berücksichtigt werden, denn jedes Mehr in diesem Gefüge wäre ein Zuviel und würde ablenken von der diffizilen Problemstellung."

Wie um etwaigen linken Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen fügt er in Klammern hinzu: "Wie auf das Proletariat näher eingehen und nicht auf die Arbeitslosigkeit; wie darauf und nicht auf die Arbeitsbeschaffung und auf die Parteien und deren Versagen? Eines würde das andere nach sich ziehen, heraus käme ein gigantisches Werk, das den gewollten Zweck nicht erfüllt."

Brecht antwortet in diesen Anmerkungen auf Einwände eines Kollegen (Lothar Kusche), der offenbar u.a. kritisiert hatte, dass einerseits die in der Inszenierung projizierten Schriften nahe legen, dass es sich um einen "historischen Aufriss handle", aber andererseits die Parabel nur zeige, dass die Industriellen "von der Krise alle gleichermaßen" betroffen seien, "anstatt dass die Schwächeren erschlagen werden von den Stärkeren". Auch darauf hat Brecht nur zu sagen, dass auch dies ein Punkt sei, der "zu weit ins Detail führen würde und auf den die Parabel verzichten kann".

Was soll man daraus schließen? Wenn wir den Zweck ernst nehmen, "der kapitalistischen Welt den Aufstieg Hitlers dadurch zu erklären, dass er in ein ihr vertrautes Milieu versetzt wurde", dann muss man feststellen, dass Brecht dieses Ziel nicht erreicht hat.

Er hat einen Teilaspekt der kapitalistischen Welt und der Naziherrschaft herausgegriffen, diesen gekonnt satirisch dargestellt, aber wesentliche politische Fragen offen gelassen oder er ist ihnen ausgewichen, weil ihre Darstellung das Vertrauen in die stalinistische Bürokratie hätte erschüttern können.

Der Nationalsozialismus ist nicht einfach nur ein verbrecherischer Versuch des Kapitalismus seine tödlichen Krise zu lösen. Dass Hitler siegen konnte, war nicht so sehr dem Erfolg seiner verbrecherischen Machenschaften zu verdanken, als der katastrophalen Politik der Führung der Arbeiterbewegung und den dadurch verursachten Niederlagen, angefangen von der durch die Sozialdemokratie erwürgten Revolution 1918/19 bis zur stalinistischen Politik vor 1933, die die Arbeiterklasse gespalten und den Nazis ausgeliefert hat.

Dass Brecht (nicht nur in diesem Stück) seinen Angriff auf den Kapitalismus schwächt und den Zuschauer keineswegs in die Lage versetzt, dieses System und seine Helfershelfer wirklich zu durchschauen, hängt natürlich mit seiner eigenen Anpassung an die stalinistische Bürokratie zusammen, der er fälschlicherweise eine progressive Rolle in der Arbeiterbewegung zuschrieb und in der er die einzige Kraft sah, die etwas gegen den Faschismus ausrichten konnte, auch wenn er zeitweilig durchaus Zweifel und Kritik an deren Vorgehen hatte.

Sicher ist mit diesen kurzen Bemerkungen zu Arturo Ui nicht Ihre Frage beantwortet, wie wir Brechts Rolle in der Geschichte sehen, dies werden wir aber sicher künftig ausführlicher tun. Wir denken, dass es über diese Frage viel zu diskutieren gäbe und würden uns freuen, wenn Sie sich daran beteiligen.

Mit freundlichen Grüßen

Sybille Fuchs

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Hallo Frau Fuchs,

ich stimme Ihrer Sicht voll zu. Auch die Aussagen von Kusche hatte ich inzwischen gefunden. Aus den Gesprächen mit Kusche wird erkennbar, dass Brecht sich gegen sein besseres Wissen richtiggehend sträubt. Wenn man Karriere machen will, dann muss man eben auch etwas zurückstecken.

Passend zu unserem Austausch sah ich zufällig in Berlin ein großformatiges Plakat. Das steht an der Ecke Rosa-Luxemburg Straße/ Memhardstraße. Darauf ist ein Brecht-Zitat zu lesen: "Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und sie Lüge nennt, der ist ein Verbrecher." Das ist im Zusammenhang mit Brechts Lügen und Halbwahrheiten sehr passend. Ich denke jedoch, dass der Begriff "Hofnarr des Stalinismus" besser zu ihm passt.

Sie sollten den Brecht auf der WSWS gründlich besprechen, denn viele Jugendliche bekommen in der Schule gesagt, Brecht sei ein Marxist. Das ist diskreditierend.

Viele Grüße

B. K.

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