Ein vernichtendes Urteil über den Georgienkrieg

Die New York Times brachte am Freitag auf der ersten Seite einen Artikel mit dem Titel "Bericht widerlegt Behauptungen Georgiens über Krieg mit Russland". Der Artikel stützte sich auf einen Bericht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Diese multinationale Vereinigung mit 56 Mitgliedsstaaten hatte zum Zeitpunkt, als die Kämpfe in Georgien ausbrachen, ihre Beobachter vor Ort. Ihr Bericht ist ein schwerer Schlag gegen die offizielle Darstellung des russisch-georgischen Krieges vom August 2008 durch die USA, der zufolge der Krieg ein russischer Aggressionsakt war.

Die OSZE kommt zum Schluss, dass der Konflikt am 7. August begann, als georgische Truppen, die von den USA ausgebildete waren, in Zinvali das Feuer auf russische Soldaten einer Friedenstruppe und auf Zivilisten eröffneten. Zinvali ist die Hauptstadt der abtrünnigen georgischen Provinz Südossetien.

Die New York Times schrieb am Freitag: "Die Berichte lassen erkennen, dass Georgiens ungeübte Truppen die isolierte Separatistenhauptstadt Zinvali am 7. August wahllos mit Artillerie und Raketen angriffen und dabei Zivilisten, russische Friedenssoldaten und unbewaffnete Beobachter gefährdeten." Die Zeitung fügte hinzu: "Alle fünfzehn bis zwanzig Sekunden gingen georgische Artillerie- und Raketengeschosse im ganzen Stadtgebiet nieder. Innerhalb der ersten Stunde der Bombardierung schlugen in einem einzigen Wohngebiet mindestens 48 Geschosse ein."

Nach einem Auftaktbombardement gegen 18 Uhr an diesem 7. August erklärten die georgischen Truppen einen einseitigen Waffenstillstand, während dem sie ihre Raketenrampen und ihre Artillerie offenbar in bessere Positionen verlegten. Um 23 Uhr gab Georgien bekannt, russische Truppen beschössen georgische Dörfer in Südossetien, und kündigte eine Militäraktion "zur Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung" in diesem Gebiet an.

OSZE-Beobachter wiesen die Behauptung zurück, die georgischen Truppen hätten auf einen russischen Angriff reagiert. Die Times schreibt: "Wie die Beobachter ausgesagt haben, haben sie keinerlei Belege dafür, dass georgische Dörfer in Südossetien an dem Abend heftig beschossen worden seien. Damit stellen sie eine der Hauptrechtfertigungen [des georgischen Präsidenten] Saakaschwilis für seinen Angriff in Frage."

Die Zeitung zitierte den britischen Ex-Offizier Ryan Grist, der bei Kriegsausbruch die Beobachterdelegation der OSZE in Georgien leitete, mit den Worten: "Es war mir klar, dass der georgische Angriff im Vergleich zu eventuellen Provokationen völlig unverhältnismäßig war, wenn es überhaupt Provokationen gegeben hat."

Wie später besonders in der europäischen Presse berichtet wurde, hoffte Georgien Südossetien schnell überrennen und den Roki-Tunnel, die wichtigste Transportverbindung durch die Berge zwischen Russland und Südossetien, besetzen zu können. Der Angriff fand statt, als sich hohe Vertreter des russischen Staates bei der Eröffnungsfeier der olympischen Spiele in Peking befanden. Georgien spekulierte offenbar auf eine schwache russische Reaktion und hoffte, Russland vor vollendete Tatsachen stellen zu können. Tatsächlich aber kam die georgische Offensive in Zinvali schnell zum Stehen, und Russland schickte Verstärkung und vertrieb die georgischen Truppen zügig aus Südossetien.

Die US-Regierung und die Medien stellten die Wirklichkeit damals auf den Kopf und verurteilten Russland einstimmig für seine "Aggression". Als Russland seine Verstärkungstruppen schickte und die georgischen Truppen aus Südossetien vertrieb, verurteilte Präsident Bush die russische Reaktion als "unverhältnismäßig". Vizepräsident Dick Cheney sagte: "Die russische Aggression darf nicht ohne Folgen bleiben", und fügte hinzu, sie werde "ernste Konsequenzen" für das russisch-amerikanische Verhältnis haben.

In ihrem Leitartikel vom 12. August schrieb die Times : "Moskau behauptet, nur die Rechte der ethnischen Minderheiten in Südossetien und Abchasien zu verteidigen, die sich seit Anfang der 1990er Jahre von Georgien zu lösen versuchen. Aber seine Ambitionen gehen weit darüber hinaus. Ministerpräsident Wladimir Putin [...] scheint entschlossen, durch Gewalt und Einschüchterung soviel wie möglich von der alten sowjetischen Einflusssphäre zurückzugewinnen."

In ihrem Artikel vom Freitag tat die Times so, als ob die Erkenntnisse der OSZE auf neuen Informationen beruhten, die der Zeitung bisher nicht zugänglich waren. Aber schon der eigene Artikel widerspricht dieser eigennützigen Darstellung und entlarvt ihre eigene Rolle bei der Verbreitung von Falschinformationen über den georgisch-russischen Konflikt. Der Artikel erwähnt, dass der OSZE-Vertreter Grist schon im August des vergangenen Jahres "die Diplomaten der Europäischen Union auf der Grundlage der Feststellungen der Beobachter informierte und auch seine eigene Einschätzung darlegte. Er trat kurz danach unter ungeklärten Umständen zurück." Es steht völlig außer Zweifel, dass die Times (und natürlich auch die US-Regierung) den Bericht Grists schon wenig später kannten."

Der Artikel der Times schloss mit der Feststellung, dass die Diskrepanz zwischen dem OSZE-Bericht und der offiziellen Position der US-Regierung und der amerikanischen Medien "die Vereinigten Staaten potentiell in eine schwierige Lage bringt. Die Vereinigten Staaten, die Saakaschwilis wichtigste internationale Stütze sind, haben die Schlussfolgerungen der Organisation jahrelang akzeptiert und ihren Professionalismus gelobt."

Tatsächlich widerlegt der OSZE-Bericht die Linie der USA, die von Anfang an vor Widersprüchen nur so strotzt. Die amerikanischen Medien versuchten nicht nur, Russland die Schuld zuzuschieben, sondern setzten auch die Vorstellung in die Welt, die georgischen Truppen hätten ohne Wissen der USA gehandelt. Dabei hatten die USA vor der Invasion mehr als hundert Militärberater in Georgien. Die Invasion fand kurz nach einer gemeinsamen Großübung mit amerikanischer Beteiligung statt, die den Codenamen "Immediate Response 2008" [Schnelle Reaktion 2008] trug.

Washington nutzte den russisch-georgischen Konflikt, um Abwehrraketen und Truppen in Polen und Tschechien zu stationieren, und beschwor damit die Gefahr einer direkten militärischen Konfrontation mit Russland herauf. Die US-Regierung wies rundheraus zurück, dass Georgien der Aggressor sei.

Der Republikanische Präsidentschaftskandidat John McCain rief Saakaschwili an und sagte: "Heute sind wir alle Georgier." Der Demokratische Kandidat Barack Obama gab in Hawaii, wo er auf Urlaub weilte, eine Erklärung ab, in der er die russische "Aggression" verurteilte. Aus Anlass der Feierlichkeiten zum siebten Jahrestag des 11. September 2001 forderten die beiden Kandidaten später gemeinsam eine "nationale Dienstpflicht". Obama sagte: "Wenn wir in den Krieg ziehen, dann alle zusammen, nicht nur ein paar von uns."

Aus dieser Situation, die das Potential für einen globalen Krieg in sich trug, müssen klare politische Schlussfolgerungen gezogen werden. Als erstes belegt sie die völlige Unglaubwürdigkeit des politischen Establishments und der amerikanischen Medien, die selbst dann kaum eine abweichende Stimme hören ließen, als in der europäischen Presse schon immer mehr kritische Darstellungen auftauchten, die in scharfem Gegensatz dazu standen.

Der Artikel über den OSZE-Bericht war der Aufmacher auf der ersten Seite der New York Times und nahm im Inneren des Blattes eine weitere volle Seite ein. Das Gewicht, das die Zeitung ihrem Artikel gab, deutet darauf hin, dass sie damit die öffentliche Meinung bewusst auf eine Änderung der amerikanischen Politik in der Region vorbereiten wollte. Weil der künftige Präsident Obama die Militärpräsenz in Afghanistan verstärken will und den USA eine schwere Rezession droht, scheint man - möglicherweise auf Kosten Saakaschwilis - die Beziehungen zu Russland in Ordnung bringen zu wollen.

In Tiflis demonstrierten gestern 10.000 Menschen gegen Saakaschwili. Anlass war der Jahrestag der gewaltsamen Unterdrückung von Demonstrationen für den rivalisierenden Nationalisten Irakli Okruaschwili.

Die USA gaben gestern auch die Absicht bekannt, Verhandlungen mit Russland über Atomwaffen und über den umstrittenen amerikanischen Raketenabwehrschirm aufzunehmen, der sich klar gegen Russland richtet. Das Ziel wäre eine Neuverhandlung des Vertrages zur Verringerung strategischer Waffensysteme (START) und die Beschwichtigung "der Opposition Moskaus gegen ein amerikanisches Raketenabwehrsystem für Europa", wie das Wall Street Journal schreibt.

Ein Vertreter des Außenministeriums erklärte dem Wall Street Journal, diese Verhandlungen würden nicht mehr unter Bush abgeschlossen, sondern sollten "die Dinge schon mal für Obama in Bewegung bringen".

Siehe auch:
Bewaffneter Konflikt zwischen Russland und Georgien eskaliert
(12. August 2008)
EU-Treffen zu Georgien von Spannungen zwischen Europa und USA geprägt
( 16. August 2008)
Krieg in Georgien: Bush verschärft Konfrontation mit Russland
( 13. August 2008)
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