Die WSWS berichtet aus Athen

"Dies ist mehr als Protest – es ist eine antikapitalistische Bewegung"

Seit Mittwoch letzter Woche ist die Zentrale des griechischen Gewerkschaftsverbandes GSEE von Arbeitern und Jugendlichen besetzt. Die Besetzungsaktion richtet sich gegen die Gewerkschaftsführung, die in engem Kontakt mit der Regierung steht und ein Übergreifen der Protestaktionen auf die Betriebe zu verhindern sucht.

Die besetzte Zentrale des griechischen Gewerkschaftsverbandes GSEE

Am Samstag sprachen WSWS-Reporter im besetzten Gewerkschaftshaus mit einigen Arbeitern. Ein 40-jähriger Bauarbeiter erklärte, die jetzt entstandene Bewegung gehe weit über Jugendproteste hinaus. "Es ist eine Bewegung, die tief im Antikapitalismus verankert ist", sagte er. Die Opposition gegen das kapitalistische System reiche bis tief in die Betriebe. Doch die Gewerkschaft tue alles, um eine Mobilisierung der Arbeiter an der Seite der Jugendlichen zu verhindern.

Er kritisierte die Gewerkschaften als abgehobene Bürokratie, die keinerlei Verbindungen zu den Arbeitern habe. Besonders wütend reagierte er auf die sozialdemokratische Partei PASOK und die Kommunistische Partei (KKE), die in den Gewerkschaften großen Einfluss haben. Sie stünden in vielen Fragen "rechts von den konservativen Parteien".

Auch Nikolas, der in einem Copyshop arbeitet, bestätigte, dass "die Gewerkschaften nichts getan haben, um die Proteste zu unterstützen. Deshalb haben wir dieses Gebäude besetzt."

Beide schilderten die Ereignisse, die zur Besetzungsaktion geführt hatten. Eine seit langem geplante und angekündigte Großdemonstration war Anfang der Woche von der Gewerkschaftsführung unter dem Druck der Regierung abgesagt und auf eine Kundgebung beschränkt worden. Als daraufhin viele Arbeiter die Demonstration spontan organisierten, wurden sie nach wenigen Metern von Gewerkschaftsordnern aufgehalten. Die Gewerkschaft selbst löste die Demonstration auf.

Nach der Besetzung der Gewerkschaftszentrale wurden mehrere Transparente aus den Fenstern gehängt. Auf einem steht: "Von Arbeitsunfällen bis zu kaltblütigem Mord – Staat und Kapital sind Mörder. Keine Verurteilungen, sofortige Freilassung der Gefangenen. Generalstreik – die Selbstorganisation der Arbeiter wird das Grab der Bosse sein."

Die Proteste, die nach der Tötung eines 15-jährigen Schülers in Athen ausbrachen, halten mittlerweile seit zwei Wochen an. In der Hauptstadt und anderen großen Städten des Landes kommt es nahezu täglich zu Protesten, Demonstrationen und zu Auseinandersetzungen mit der Polizei.

Am Samstag versammelten sich mehr als tausend Menschen zu einer Mahnwache an jener Stelle, an der der Schüler Aleksandros Grigoropoulos durch einen Schuss aus einer Polizeiwaffe ums Leben kam. Unter den Anwesenden waren vorwiegend Studenten und Schüler, die ihrer Trauer und Wut über den Tod Ausdruck verliehen.

Im Anschluss kam es vor der nahe gelegenen Technischen Universität zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. Etwa 150 Demonstranten attackierten die Polizei mit Molotow-Coktails und steckten Polizeifahrzeuge in Brand. Die Polizei setzte Tränengas gegen die Demonstranten ein.

Zuvor waren bereits zwei Brandsätze vor Behördengebäuden explodiert, wodurch diese erheblich beschädigt wurden.

Bei den Ereignissen wurde einmal mehr deutlich, dass dahinter eine weit verbreitete Unzufriedenheit mit den untragbaren sozialen und politischen Verhältnissen in Griechenland steckt, wie sich in Gesprächen zeigte, die Reporter der World Socialist Web Site mit Teilnehmern der Mahnwache führten.

Anna

Anna (siehe Foto) ist 48 Jahre alt und kommt jeden morgen und Abend zu dem Ort an dem Aleksandros erschossen wurde. "Dieser Junge ist ein Opfer des schlechten Bildungssystems und der sozialen Probleme in unserem Land. Es muss sich etwas in unserem Bildungssystem ändern", sagte sie.

Auch Katharina (22) und Leandros (24), beide Studenten, erklärten, das die Auseinandersetzungen der letzten Wochen in ihren Augen auf die katastrophalen sozialen Bedingungen zurückzuführen sind. "Wir sind beide Studenten und müssen zusammen von etwa 500 Euro im Monat leben. Wenn uns unsere Eltern nicht unterstützen würden, könnten wir überhaupt nicht studieren, sondern müssten einen schlecht bezahlten Job annehmen", klagte Katharina. "Wir finden die Gewalt nicht gut", ergänzte Leandros, "aber auf der anderen Seite finden Studenten sonst überhaupt kein Gehör."

Etwa ein Viertel der unter 25-Jährigen in Griechenland ist von Arbeitslosigkeit betroffen und lebt unter der Armutsgrenze. Unter den Hochschulabsolventen herrscht eine Arbeitslosenquote von 28 Prozent. Viele müssen sich nach jahrelangem Studium mit einem schlecht bezahlten Job als Taxifahrer oder an einer Tankstelle mühsam über Wasser halten.

Fast alle Gesprächspartner der WSWS erklärten, dass sie die Aufstände in Griechenland als Beginn einer europaweiten Bewegung verstehen. Die Probleme seien in allen europäischen Ländern ähnlich. Weit verbreitet ist auch die Überzeugung, dass nur eine breite Bewegung von Schülern, Studenten und Arbeitern Erfolg haben kann.

Claire und Daphne, zwei 18-jährige Griechinnen, die momentan in England studieren, kritisierten die Regierung und machten sie für die Misere verantwortlich. "Etwas muss sich ändern. Die Jugend findet keine Arbeit." Beide beklagen die allgegenwärtige Korruption in den höchsten Ebenen der Regierung. "Die Bevölkerung muss für die Fehler der Elite bezahlen. Wir wollen, dass die Regierung Verantwortung übernimmt, aber sie schickt uns stattdessen nur die Polizei."

Wiederholt kam es während der Proteste zu Fällen extremer Polizeibrutalität. Beide schilderten den Fall eines 18-jährigen Mädchens, die am Rande einer Protestaktion von der Polizei brutal verprügelt wurde. Ähnliches schildert die 23-jährige Maria (siehe Foto), der während einer Demonstration von der Polizei Tränengas direkt ins Gesicht gesprüht wurde. Auch sie leidet unter der sozialen Misere. "Ich habe sieben Tage die Woche gearbeitet und dafür nur 1.000 Euro monatlich erhalten. Ich muss noch immer bei meinen Eltern leben, weil ich mir nichts anderes leisten kann."

Maria

Die starke Ablehnung gegenüber der regierenden Nea Demokratia (ND) von Premierminister Kostas Karamanlis spiegelt sich auch in den neuesten Umfragen wieder. Danach liegt der Parteichef der PASOK George Papandreou erstmals vor Karamanlis. Die sozialdemokratische PASOK ist demnach stärkste Partei, gefolgt von der ND, die deutlich an Unterstützung verliert. Mit über 12 Prozent kann das Bündnis der radialen Linken (Syriza) stark zu legen, und würde die Kommunistische Partei (KKE) als drittstärkste Kraft ablösen. Die rechtsradikale LAOS müsste mit 4 Prozent um den Wiedereinzug ins Parlament bangen. Zusammen verzeichnen die "linken" Parteien eine eindeutige Mehrheit.

Doch während die Proteste große Unterstützung in der Jugend und der arbeitenden Bevölkerung genießen, artikuliert keine dieser Parteien die Bedürfnisse dieser Schichten.

PASOK stellte in den vergangenen 20 Jahren die meiste Zeit die Regierung und ist selbst zu einem großen Teil für die prekären Bedingungen verantwortlich. Sie sieht die gegenwärtige Stimmung lediglich als günstig an, die Regierung abzulösen und ihre Mitglieder wieder in den entscheidenden Stellen von Politik und Wirtschaft zu installieren. Ein grundlegender Politikwechsel wäre damit nicht verbunden. Die Proteste der letzten Wochen verurteilte sie scharf, da sie dem Ansehen des Landes schaden würden, wie mehrere hochrangige Funktionäre erklärten.

Syriza ist ein Sammelbecken verschiedenster linker Tendenzen. Sie schlägt radikale Töne an und erklärt ihr Verständnis für die Proteste. Gleichzeitig versucht sie aber den Widerstand zu isolieren und in für die politische Elite ungefährliche Kanäle zu lenken. Ihre Forderung nach Neuwahlen ist vor allem von der Hoffnung geprägt, bei einer Regierungsübernahme der PASOK mit in die Regierung genommen zu werden und als deren Hilfstruppe zu agieren.

Die KKE (Kommunistische Partei) spricht sich offen gegen die Proteste aus. Führende KKE-Mitglieder erklärten, die Proteste gingen von "Chaoten" und "blindwütigen Gewalttätern" aus, deren einziges Ziel Zerstörung sei. Bewusst organisieren sie ihre eigenen Demonstrationen und versuchen die Bewegung schnellstmöglich abzuwürgen. Als einzige Oppositionspartei sprechen sie sich offen gegen Neuwahlen aus.

Die Proteste und Ausschreitungen sind der Versuch vieler Jugendlicher, eine Lösung ihrer Probleme zu finden. Sie vertrauen den alten Organisationen nicht mehr, wissen aber auch noch nicht, was sie stattdessen gegen immer schlechtere Lebens- und Ausbildungsbedingungen tun können.

Verschiedene radikale Gruppierungen versuchen, das politische Vakuum zu füllen. Die meisten von ihnen verbergen hinter ihren radikalen Phrasen eine völlig opportunistische Politik, die darauf abzielt die Bewegung der Jugendlichen zurück in den Schoß der Gewerkschaftsbürokratie und der mit ihnen verbundenen Parteien zu führen. Sie boykottieren die unabhängigen Mahnwachen der Schüler und auch die Besetzung der Gewerkschaftszentrale.

Unter diesen Bedingungen finden anarchistische und auf spontanen Aktionen beruhende Konzeptionen eine gewisse Resonanz unter Jugendlichen. Sie wollen sich unter keinen Umständen den korrupten und diskreditierten Bürokratien unterordnen. Anarchistische Gruppen heizen diese Stimmung weiter an und erklären die spontane Aktion zum Allheilmittel. Einige ihrer Sprecher machen die Arbeiterklasse für die rechte Politik der Gewerkschaftsbürokratie, PASOK und KKE verantwortlich.

Eine wirklich fortschrittliche Orientierung der gegenwärtigen Bewegung erfordert, die Rebellion gegen die reaktionäre Politik der Regierung, die von PASOK, KKE und Gewerkschaften mitgetragen wird, in einen bewussten politischen Kampf für ein sozialistisches Programm zu verwandeln. Das ist die Grundlage für eine gezielte Hinwendung zur Arbeiterklasse in Griechenland, Europa und weltweit.

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