Nationale Interessen dominieren EU-Gipfel in Brüssel

Der zweitägige Gipfel der Europäischen Union in Brüssel am Donnerstag und Freitag hat deutlich gemacht, dass sich die Konflikte zwischen den europäischen Mächten unter dem Druck der Finanzkrise sehr verschärfen. Sie drohen die EU auseinanderzureißen. Der Gipfel war von den nationalen Interessen der großen europäischen Player geprägt. Daran ändern auch die Bekundungen von Einheit und die Erfolgsmeldungen der europäischen Führer nichts.

Der Präsident der europäischen Kommission, Jose Manuel Barroso gab ein 200 Mrd. Dollar Konjunkturpaket bekannt, mit dem die europäische Wirtschaft stimuliert werden soll. Seine Umsetzung soll jedoch den einzelnen Mitgliedsländern überlassen bleiben. Es wird im Rahmen dieses Pakets nicht viel zusätzliches Geld in die Hand genommen. Im nationalen Rahmen waren viele der vorgesehenen Maßnahmen, wie die Erhöhung des Kindergeldes in Deutschland, schon seit langem geplant.

Der Gipfel einigte sich auch auf einige Maßnahmen zur Reduzierung des CO2 Ausstoßes. Die Entscheidungen in Brüssel wurden sofort von Umweltverbänden kritisiert, die darauf hinwiesen, dass viele Länder - wie Deutschland, Italien und Polen - den Lobbyisten der Energie- und Autoindustrie und der Wirtschaft bei den Verhandlungen in Brüssel weitreichende Zugeständnisse gemacht haben. Diese Zugeständnisse machen die Pläne der EU, den Ausstoß von Treibhausgasen in den nächsten zehn Jahren drastisch zu reduzieren zu Makulatur.

Am Vorabend des EU-Gipfels beging der deutsche Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) gegenüber der britischen Regierung und der EU-Verwaltung einen offenen Affront. In einem Interview mit dem amerikanischen Nachrichtenmagazin Newsweek beschuldigte Steinbrück die britische Regierung und ihren Premierminister Gordon Brown, bei der Reaktion auf die aktuelle Finanzkrise "in krassen Keynsianismus" zu verfallen.

In einem online-Interview, das auf der Website von Newsweek erschien, knöpfte sich Steinbrück am Mittwoch Browns Finanz- und Wirtschaftspaket vor. Steinbrück sagte: "Die Geschwindigkeit, mit der Maßnahmen unter Druck zusammengestoppelt werden, ist atemberaubend und niederdrückend, sie halten keinem ökonomischen Test stand." Mit Bezug auf Browns bisherige strikte Haushaltsdisziplin in seiner Rolle als Schatzkanzler unter Tony Blair sagte Steinbrück: "Die gleichen Leute, die Deficit Spending noch vor kurzem für Teufelszeug hielten, jonglieren jetzt mit Milliarden herum."

Dann griff Steinbrück Browns Entscheidung frontal an, die Mehrwertsteuer kurz vor Weihnachten um zwei Prozentpunkte zu senken: "Wird wirklich jemand einen DVD-Player kaufen, nur weil dieser jetzt 39,10 Pfund statt 39,90 Pfund kostet?" fragte er. "Das einzige, was damit erreicht wird, ist, dass die Schulden Großbritanniens auf ein Niveau steigen, dass es eine ganze Generation dauern wird, um davon wieder runterzukommen."

Tatsächlich ist Steinbrücks Vorwurf des "krassen Keynesianismus" gegen Brown völlig fehl am Platz. Als Schatzkanzler war Brown immer ein loyaler Verfechter der Finanzinteressen der City of London, und das ist er heute, als Premierminister, noch immer. Die jüngste Steuererleichterung der Regierung für die britischen Konsumenten in Form einer bescheidenen zweiprozentigen Mehrwertsteuersenkung ist nichts gegen die gigantischen Summen, die Browns Regierung den britischen Banken und ihren Aktionären zur Verfügung stellt.

In seinem Newsweek -Interview zog Steinbrück auch über die von Großbritannien unterstützten Pläne der EU her, ein europäisches Konjunkturprogramm aufzulegen. "Eine Zeitlang gab es in Brüssel und an anderer Stelle die Position ‚Wir sind jetzt für umfangreiche Ausgabenprogramme, aber wir fragen lieber nicht, was sie tatsächlich bewirken. Und weil es um so viel Geld geht, lassen wir doch die Deutschen bezahlen. Die können das’."

Diese Kritik hatte Steinbrück auch schon Anfang der Woche in der Zeit geäußert: "Jeder EU-weite Plan, der von der EU-Präsidentschaft oder aus Frankreich kommt, würde bedeuten, dass Deutschland mehr Geld bezahlen muss." Zurzeit ist der französische Präsident Nicolas Sarkozy EU-Ratspräsident.

Als bekannt wurde, dass Brown, Sarkozy und EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso sich am Montag in London treffen wollten, um eine gemeinsame Strategie für den bevorstehenden EU-Gipfel zu diskutieren, ohne Kanzlerin Angela Merkel einzuladen, kam das einem Eklat gleich.

Nach der Konferenz in der Downing Street bemühten sich beide Seiten zuerst, die Differenzen über den EU-Plan für ein 200 Milliarden Euro schweres Konjunkturpaket herunterzuspielen. Aber die Spannungen waren nicht zu übersehen. Der französische Präsident sagte: "Frankreich arbeitet daran, und Deutschland denkt darüber nach."

Die Veröffentlichung von Steinbrücks Interview in Newsweek hat klar gemacht, dass die deutsche Regierung nicht die Absicht hat, dem Druck der anderen europäischen Staaten nachzugeben.

Es ist sicher kein Zufall, dass Steinbrück seine rüde Attacke auf die Reaktion Großbritanniens und der EU auf die Finanzkrise am Vorabend des EU-Gipfels veröffentlichte. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass er das Interview ohne die ausdrückliche Zustimmung der Kanzlerin gegeben hat. Angela Merkel selbst hat in den vergangenen Tagen ebenfalls, wenn auch in vorsichtigeren Worten, erklärt, Deutschland werde sich nicht "an diesem sinnlosen Rennen um Milliarden beteiligen". Merkel erklärte weiter, sie sei "tief besorgt" über eine Finanzpolitik des billigen Geldes und der massiven Verschuldung.

Obwohl die britische Presse darauf hinwies, dass Merkel und ihr Finanzminister in Deutschland selbst ziemlich isoliert seien, erhielt Steinbrück sogleich Rückendeckung von führenden Vertretern der Großen Koalition.

Als Antwort auf Premierminister Gordon Browns Versuch, die Lage zu beruhigen - Brown erklärte auf Radio LBC am Donnerstag: "Ich möchte mich eigentlich nicht in eine Sache einmischen, bei der es offensichtlich um deutsche Innenpolitik geht" - bekräftigte Merkels haushaltspolitischer Sprecher Steffen Kampeter (CDU): "Peer Steinbrücks Bemerkungen haben ganz sicher nichts mit deutscher Innenpolitik zu tun. Peer Steinbrück hat mit seiner Kritik an der Herangehensweise der britischen Regierung exakt die Auffassung der Großen Koalition zum Ausdruck gebracht." Später erklärte Kampeter gegenüber Spiegel Online zu den Forderungen der EU an Deutschland, mehr Geld für ein Konjunkturpaket in die Hand zu nehmen: "Die Briten erwarten, dass wir sie aus dem Dreck ziehen. Aber wir haben auch nicht erwartet, dass sie ihre Profite mit uns teilten, als sie noch von dem Boom am Finanzmarkt profitierten."

Die britische Presse und politische Kreise haben durchaus gespalten auf die Kritik des deutschen Finanzministers reagiert. Wie vorauszusehen, hat die konservative Opposition in Großbritannien mit Unterstützung der Thatcher-freundlichen Sun und der Times die Äußerungen Steinbrücks begrüßt. Sie warnen Brown davor, sein Konjunkturprogramm durch ein riesiges Haushaltsdefizit zu finanzieren.

Andere Zeitungen, wie der Guardian, weisen auf die großen Hindernisse für eine gemeinsame Wirtschaftspolitik bei so unterschiedlichen Volkswirtschaften wie der deutschen und der britischen hin. In einem Kommentar mit dem Titel "EU-Riese isoliert, weil Merkel deutsche Interessen vertritt" listet die Zeitung zahlreiche Punkte auf, in denen Deutschland und Großbritannien unterschiedliche Standpunkte vertreten: Wirtschaft, Erderwärmung, Nato, Russland und Afghanistan. Die Zeitung weist dann auf einige hervorstechende wirtschaftliche Unterschiede zwischen den beiden Ländern hin.

"Als Exportweltmeister und Land mit einem Industrie- und Produktionssektor, der größer ist als der britische und französische zusammen, sieht Deutschland weniger Sinn darin, Mehrwert- oder andere Steuern zu senken. Etwa sechzig Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung werden im Ausland abgesetzt. Anders als in Großbritannien gibt es in Deutschland keine übertriebene Einkaufskultur, Kreditkarten werden wenig genutzt, es gibt keinen wild schwankenden Immobilienmarkt, nur relativ wenige Eigenheimbesitzer und Hypothekenkredite. Wenn, grob gesagt, deutsche Haushalte sparen und britische Haushalte ihr Geld ausgeben, dann wird eine Mehrwertsteuersenkung vielleicht in Reading die wirtschaftliche Aktivität beleben, aber wahrscheinlich nicht in Düsseldorf."

Die unausgesprochene Schlussfolgerung dieses Artikels ist, dass Deutschland im Interesse der europäischen Einheit seine Haushaltskriterien lockern und bereit sein sollte, mehr Geld und Erspartes flüssig zu machen, um den bedrängten europäischen Ländern beizuspringen.

Auch die Financial Times äußerte sich alarmiert über den Mangel an Bereitschaft der deutschen Regierung, ein europäisches Konjunkturpaket zu subventionieren.

Am Donnerstag hieß es in einem Kommentar der Financial Times : "Deutschland ist der weltweit größte Exporteur, und dieses Jahr wird es wahrscheinlich einen Zahlungsbilanzüberschuss von 7,3 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung erzielen. Deutschland stellt ein gewaltiges Angebot für die überschießende Nachfrage aus andern Weltregionen bereit, besonders aus andern Teilen Europas. ... Aber sobald die Länder mit überzogenem Defizit jetzt zurückstecken müssen, bricht diese Nachfrage weg. So muss Deutschland, wie andere Überschussländer, anfangen, selbst Geld auszugeben. Andernfalls drohen schreckliche Folgen. Das Münchner Institut für Wirtschaftsforschung, Ifo, prophezeit der Bundesrepublik die tiefste Rezession der Geschichte."

Anders ausgedrückt, Deutschland muss Gelder locker machen, um die Nachfrage in andern Ländern zu stimulieren, da sonst seine eigne Exportindustrie auf Dauer schwer betroffen sein wird. In diesem Zusammenhang kommt die Financial Times zum Schluss: "Deutschland würde etwas mehr europäischer Charakter wohl anstehen."

In Berlin selbst stoßen Merkel und Steinbrück ebenfalls auf Opposition, sowohl aus den Reihen der Koalition - einem Teil der SPD und besonders aus der CSU - wie auch von Seiten der Oppositionsparteien, den Grünen, der FDP, der Linken und einflussreichen Wirtschaftskreisen. Sie treten für größere finanzielle Anreize in Deutschland ein und warnen davor, die europäischen Nachbarn zu vergrätzen.

Dennoch sind Merkel und Steinbrück entschlossen, dem wachsenden Druck zu trotzen und die Staatskasse fest geschlossen zu halten. Jahrzehntelang war eine straffe Geldpolitik und das Festhalten an strikten Haushaltsobergrenzen das Rückgrat von Deutschlands Europastrategie. Die deutsche Kanzlerin und ihr Finanzminister sind nicht bereit, diese Strategie in einer Situation über Bord zu werfen, wo - wie Regierung und Wirtschaftsexperten zugeben - eine lang anhaltende und schmerzhafte Rezession erst begonnen hat. Dafür gehen sie sogar das Risiko ein, sich mit den europäischen Nachbarn zu überwerfen.

Die Haltung der deutschen Regierung wird in einem Kommentar der Süddeutschen Zeitung mit dem Titel "Der Bad Guy im Recht" treffend auf den Punkt gebracht. Darin heißt es:

"Die große Rezession, die Weltwirtschaftskrise ...ist noch nicht da. Aber sie wird kommen. Viele Prognosen zeigen tief in den Keller. Vielleicht ist es im März soweit, vielleicht auch erst im April oder Mai. Dagegen wird auch ein noch so großes Konjunkturprogramm nichts ausrichten können. Abfedern, das vielleicht. Die Rezession aufhalten, nein.

Wer jetzt aber schon anfängt, die Milliarden rauszuhauen, der hat in wenigen Monaten nicht mal für ein die Bürger beruhigendes Placebo genug Geld in der Tasche. Schon jetzt übertreffen fünf EU-Länder das einst sakrosankte Maastricht-Kriterium, wonach die EU-Staaten sich nicht mit mehr als drei Prozent ihres Bruttoinlandproduktes neu verschulden dürfen. Großbritannien ist schon dabei. Im nächsten Jahr dürfte neben Litauen und Lettland auch Frankreich dem Klub der fröhlichen Schuldenmacher angehören. Bis die ihre neuen Verpflichtungen abbezahlt haben, sind noch Dutzende Wirtschaftskrisen über sie hinweggefegt."

Der jüngste EU-Gipfel und die Kontroverse, die von den Interview-Äußerungen von Finanminister Steinbrück ausgelöst wurden, haben klar gemacht, dass mit der Entwicklung der Finanzkrise die Reaktion der europäischen Länder immer mehr dem Motto folgt: "Jeder ist sich selbst der Nächste."

Am Ende des Zweiten Weltkriegs war die EU von konservativen Staatsmännern als Bollwerk gegen erneute Rivalitäten und Spannungen zwischen den europäischen Staaten konzipiert worden. Heute droht sie unter dem Gewicht ihrer angehäuften wirtschaftlichen und politischen Widersprüche auseinanderzubrechen.

Siehe auch:
Die EU in der Krise
(11. Dezember 2008)
Europa stürzt in eine Rezession
( 11. November 2008)
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