Bundessozialgericht legitimiert staatlich verordnete Zwangsarbeit

Das oberste deutsche Sozialgericht hat am 16. Dezember in einem Grundsatzurteil die Rechte von Arbeitslosen empfindlich eingeschränkt. Sie können praktisch unbeschränkt zu Arbeiten gezwungen werden, für die sie nur mit einem Taschengeld entschädigt werden.

Der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in Kassel unter der Leitung von Professor Dr. Rainer Schlegel hat am Dienstag entschieden, dass ein Arbeitsloser auch dann zur Annahme eines Ein-Euro-Jobs verpflichtet werden kann, wenn die wöchentliche Arbeitszeit 30 Stunden beträgt. (Aktenzeichen: B 4 AS 60/07 R). Zumutbarkeitsregeln, die die Art der Arbeit, die Höhe der Bezahlung und die Qualifikation des Arbeitslosen berücksichtigen, gelten damit für Hartz-IV-Empfänger nicht.

Die zuständige Arbeitsgemeinschaft aus Kommune und Arbeitsagentur (ARGE) hatte im August 2005 einen 58-jährigen Ingenieur für Kunststoffe aus dem Ostallgäu angewiesen, eine "Arbeitsgelegenheit gegen eine Mehraufwandsentschädigung von 1,50 Euro/Stunde" anzunehmen. Der Ingenieur war seit 2001 arbeitslos. Er sollte bis Weihnachten desselben Jahres für die Gemeinde als Gärtnerhelfer Bäumchen mit Wildschutzfolien überziehen. Dabei sollte er 30 Stunden in der Woche arbeiten.

Der Ingenieur, der laut Spiegel Online inzwischen wieder in einer unbefristeten Stellung arbeitet, weigerte sich, diesen Job anzutreten. Er argumentierte, dass eine 30-Stunden-Woche das Maß des Zulässigen überschreite. Arbeite er 30 Stunden die Woche in einem Ein-Euro-Job, würde er kaum Zeit haben, sich um eine reguläre Arbeit zu kümmern. Auch körperlich sei er nicht zu dem Job als Gartenbauarbeiter in der Lage. Außerdem habe er zu dem Zeitpunkt des Angebots bereits eine geringfügige Beschäftigung aufgenommen.

Die Sachbearbeiter der ARGE interessierten diese Argumente nicht. Dem Ingenieur wurde zur Strafe das Arbeitslosengeld II (Hartz IV) für drei Monate um 30 Prozent gekürzt. Statt der monatlich 345 Euro, die das Existenzminimum abdecken sollen, erhielt er nur noch 241,50 Euro.

Dagegen klagte der Mann. Das zuständige Sozialgericht wies seine Klage in erster Instanz ab. Das bayerische Landessozialgericht gab ihr dann in der zweiten Instanz teilweise statt. Dies wiederum widerrief der 4. Senat des Bundessozialgerichts am 16. Dezember.

Die Hilfsarbeit im Gartenbaubereich der Gemeinde sei ein Angebot, das den gesetzlichen Anforderungen genüge, argumentierte das Gericht. Ein-Euro-Jobs gehörten zum Katalog der im Sozialgesetzbuch (SGB II) geregelten Eingliederungsleistungen. Sie seien ein "Instrument zur Umsetzung des Grundsatzes des Förderns". Ein solcher Job müssen "im öffentlichen Interesse" und "zusätzlich" sein, eine "starre zeitliche Grenze" der Arbeitszeit existiere aber nicht.

Das Urteil des Bundessozialgerichts stützt sich auf die vierte Hartz-Reform der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD), die 2005 in Kraft trat. Es unterstreicht den Sinn und Zweck dieser "Reform": Sie zwingt Arbeitslose, jegliche, auch noch so schlecht bezahlte Arbeit annehmen, und setzt so das gesamte Lohnniveau unter Druck.

Hätte der Ingenieur ein weiteres Ein-Euro-Angebot abgelehnt, hätte man ihm weitere 30 Prozent des Regelsatzes verweigert. Bei einer dritten Verweigerung wäre ihm jegliche finanzielle Unterstützung entzogen worden.

Die Bundesrichter begründeten ihr Urteil am Dienstag damit, dass es sich bei den Ein-Euro-Jobs nicht um reguläre Arbeitsverhältnisse, sondern um Eingliederungshilfen und Fördermaßnahmen handele. Das bisschen Geld, das Ein-Euro-Jobber zusätzlich zum Regelsatz von monatlich 351 Euro erhalten, sei daher keine Gegenleistung für die geleistete Arbeit, sondern nur ein "Anreiz".

Freiwillig auf diesen Anreiz verzichten dürfen die Arbeitslosen allerdings nicht. Auch andere Rechte, die sich aus einem normalen Arbeitsverhältnis ergeben, stehen ihnen nicht zu. Sind sie krank oder verhindert, werden sie ebenso wenig bezahlt, wie wenn sie in den Urlaub fahren. "Urlaub" ist für sie stets unbezahlter Urlaub.

In einem weiteren Urteil hatte des Bundessozialgerichts mit derselben Argumentation entschieden, dass Ein-Euro-Jobber die Kosten für öffentliche Verkehrsmittel, mit denen sie zur Arbeit fahren, selber tragen müssen. Dafür erhielten sie ja die "Mehraufwandsentschädigung". Das kann dazu führen, dass ein Betroffener für die Fahrt zur Arbeit mehr ausgeben muss, als er durch die Arbeit zusätzlich verdient. Er muss also für die Ausübung des Ein-Euro-Jobs bezahlen.

Die Behauptung des Gerichts, Ein-Euro-Jobs seien Fördermaßnahmen, die keine regulären Arbeitsplätze ersetzen, ist in der Praxis längst widerlegt. Immer häufiger tauschen Kommunen und andere öffentliche oder gemeinnützige Arbeitgeber reguläre Arbeitsplätze gegen die billigen Ein-Euro-Jobs.

Im vergangenen Jahr waren 750.000 Menschen in solchen Jobs beschäftigt. Sie übernahmen in vielen Fällen reguläre Aufgaben der Städte und Kommunen, die so ihre Personalkosten senkten. Was zum Beispiel an der Arbeit im Gartenbau einer Gemeinde - ein beliebter Einsatzbereich für Langzeitarbeitslose - "zusätzlich" sein soll, versteht außer den örtlichen ARGEn niemand.

Vor allem in Ostdeutschland, wo die Haushalte der Städte und Gemeinden meist hoch verschuldet sind, verdrängen die Ein-Euro-Jobber reguläre Beschäftigungsverhältnisse. "In knapp einem Drittel der ostdeutschen Betriebe, in denen Ein-Euro-Jobber arbeiten, stellen sie sogar die Mehrheit der Belegschaft", berichtet die Süddeutsche Zeitung und fügt hinzu: "...fast immer ohne Aussicht, jemals eine weitere Beschäftigung zu bekommen."

In der Tat finden nur 15 Prozent der Ein-Euro-Jobber nach Abschluss ihrer "Arbeitsgelegenheit" einen Arbeitsplatz, und das meist auch nur in Zeit- und Leiharbeit. Bei Jugendlichen unter 25 Jahren, die häufiger als alle anderen Altersgruppen in Ein-Euro-Jobs gedrängt werden, sind überhaupt keine Erfolge messbar.

Messbar sind die Ein-Euro-Jobs aber in den Arbeitslosen-Statistiken. Denn die Ein-Euro-Jobber gelten zwar nicht als Arbeitskräfte, wenn es um Geld oder Urlaub geht, in der Arbeitslosenstatistik der Bundesagentur für Arbeit aber sehr wohl. Im November 2008 sank die offizielle Arbeitslosenzahl unter 3 Millionen. Die 750.000 Ein-Euro-Jobber zählen - wie Millionen andere Nicht- oder Unterbeschäftigte auch - nicht dazu.

Siehe auch:
Bundesrat erschwert Klageweg für Hartz-IV-Empfänger
(6. Dezember 2008)
Loading