Aus Furcht vor griechischen Verhältnissen

Französische Regierung verschiebt Schulreform

Am 15. Dezember verkündete der französische Bildungsminister Xavier Darcos nach Konsultationen mit Präsident Sarkozy, die heftig umstrittene Schulreform werde vorläufig aufgegeben.

Durch das Gesetz sollten viele Lehrerstellen abgebaut und die Lehrpläne der höheren Schulen geändert werden. Die Entscheidung, sein Inkrafttreten erst einmal zu verschieben, ist für die Regierung eine peinliche Kehrtwende. Noch vor einer Woche hatte Darcos versichert, sein Ministerium werde den Reformschwung beibehalten. Er nannte die Schülerproteste "schon fast eine Gewohnheit... Ich bin nicht der Minister des nationalen Zögerns, ich habe eine Verantwortung gegenüber künftigen Generationen. Wir müssen dieses Land dringend reformieren."

Seither sind aber in Griechenland massive und gewalttätige regierungsfeindliche Proteste ausgebrochen, nachdem ein 15-jähriger Junge von einer Polizeikugel getötet worden war. Es kam in vielen europäischen Ländern zu Sympathiekundgebungen, darunter auch in Frankreich. Weil die Jugend in Frankreich trübe Zukunftsaussichten hat, befürchtet die französische Presse, dass die Proteste gegen die Bildungsreform mit dem "griechischen Virus" infiziert werden könnten.

Darcos erklärte im Radio: "Mir macht nicht so sehr Sorge, dass Schüler sich gegen Reformen wehren. Das sind wir gewohnt... Es gibt eine soziale Angst, eine tief sitzende Furcht, die weit über die Frage hinausgeht, ob wir im nächsten Jahr in der elften Jahrgangsstufe Lehrplanmodule haben. Das geht alles viel tiefer. Ich möchte nicht, dass die Schulreform diesen sozialen Spannungen und Befürchtungen zum Opfer fällt, die offensichtlich Ursachen außerhalb des Schulbereichs haben. Wir haben heute ein Klima, das keine ernsthafte Diskussion zulässt. Deswegen wäre es keine seriöse Herangehensweise, wenn wir die Reform um ein Jahr verschöben."

Die Schüler lehnen die Reform ab, weil sie Mittelkürzungen in der Bildung und weniger Unterrichtsstunden befürchten, weil sie nicht wollen, dass die öffentlichen Schulen mit Privatschulen konkurrieren müssen, und weil sie befürchten, dass ihre Abschlüsse bei den Unternehmern nichts mehr gelten. Sie lehnen auch die Vernichtung von Arbeitsplätzen im Bildungsbereich ab. Die Regierung will nächstes Jahr 13.500 Lehrerstellen abbauen, nach 11.200 in diesem Jahr.

Seit der Vorstellung der Reformpläne Darcos’ im Oktober haben die Schüler eine Vielzahl von Protesten dagegen organisiert. Alleine am letzten Wochenende fanden Demonstrationen und Schulbesetzungen in Rennes, Nantes, Amiens, Aix-en-Provence, Paris, Nimes und Marseilles statt. In mehreren Städten in Westfrankreich kam es zu gewalttätigen Zwischenfällen. In Brest feuerte die Polizei Tränengas in eine kleine Gruppe von Jugendlichen, die mit Steinwürfen reagierten.

Die wirtschaftlichen Bedingungen, die die Unruhen in Griechenland provoziert haben, existieren überall in Europa und besonders in Frankreich. Die Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich gehört zu den höchsten in Europa und steht bei 23 Prozent, in einigen Stadtteilen sogar bei 35 Prozent. Fünf Jahre nach Beendigung ihrer Ausbildung haben zwanzig Prozent der Franzosen im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren noch keine feste Anstellung. Sie sind gezwungen sich zwischen einem prekären Job und gar keinem zu entscheiden.

Nachdem 2005 zwei Jugendliche bei einer Verfolgungsjagd mit der Polizei in einem Vorort von Paris ums Leben kamen, brachen tagelange Aufstände von Arbeitslosen und Arbeiterjugendlichen aus. Sie begannen in den Vorstädten von Paris und breiteten sich über dreihundert Städte aus. Die Regierung verhängte einen dreimonatigen Ausnahmezustand und setzte massiv Sondereinheiten der Polizei ein. Auch im November 2007 kam es zu Unruhen, als Polizisten sich von einem Unfallort entfernten, an dem zwei Jugendliche auf einem Motorrad von einem Streifenwagen getötet worden waren.

Diese sozialen Spannungen werden jetzt noch von der Weltwirtschaftskrise verschärft. In ganz Europa werden massive Rettungsprogramme für Banken und Industrien aufgelegt, und Betriebe stellen überall in Europa die Produktion ein. Die Zukunft von Schülern wird immer ungewisser, wenn in der kapitalistischen Wirtschaft keine Arbeitsplätze oder Industrien mehr sicher sind. Zudem wird der Klassencharakter der Regierung offen sichtbar, wenn sie bei der Bildung ein paar Milliarden sparen will, aber gleichzeitig 360 Milliarden Euro schnell zur Hand hat, wenn es darum geht, die französischen Banken zu retten.

In ihrem Leitartikel vom 11. Dezember schrieb Libération : "Die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage legt ein Problem offen, das seit langem besteht: Die prekäre Lage, in der ein großer Teil der Bevölkerung lebt, besonders die Generation der Zwanzig- bis Dreißigjährigen... Der Elysée Palast [Präsidentenpalast] beobachtet intensiv die kleinsten Anzeichen einer Revolte. Das ist eine weise Voraussicht: Gespalten, angespannt und desillusioniert hat Frankreich ein griechisches Profil."

Der ehemalige sozialistische Premierminister Laurent Fabius merkte an: "Was wir in Griechenland sehen, ist auch in Frankreich nicht undenkbar. In einer ökonomischen Depression mit ihrem Gefühl der sozialen Hoffnungslosigkeit, da braucht es nur noch ein Streichholz."

Auch das schlechtere Image der Gewerkschaften und die wiederholten Niederlagen bei Streiks und Demonstrationen gegen Sarkozys Sozialkürzungen in den letzten beiden Jahren tragen zu der verhärteten Stimmung in der Öffentlichkeit bei. Der Staat hat kein Vertrauen, dass die Studentenorganisationen und die Gewerkschaften Studentenproteste kontrollieren könnten.

In einem Artikel mit dem Titel "Wir sitzen auf einem Pulverfass" fragte Libération die Soziologin Isabelle Sommier von der Universität Paris, ob "die Gewerkschaften und die politischen Parteien diese Verzweifelung kanalisieren können". Sie antwortete: "Sie stecken in der Klemme und verfügen über keine Glaubwürdigkeit, weil sie keine Alternative bieten. D.h. sie haben keine Perspektive, die über die Erhaltung des gegenwärtigen Zustands hinausgeht. Natürlich können sich die Jugendlichen unabhängig mobilisieren, aber das bringt schon seit Jahren nichts mehr. Deswegen neigen einige Jugendliche inzwischen zu direkter Aktion."

Hohe Vertreter des französischen Staates haben die Proteste in Griechenland und Frankreich genau beobachtet.

Ein Berater von Innenministerin Michèle Alliot-Marie sagte gegenüber Le Monde : "Wir beobachten sehr aufmerksam die Bewegung, die sich an den Schulen entwickelt. Das Klima ist nervös, und in einigen mittelgroßen Städten ist es schon zu Schäden gekommen."

Französische Beamte haben von der griechischen Regierung während der Unruhen tägliche Lageberichte erhalten. Le Monde schrieb: " [Einwanderungsminister] Brice Hortefeux hat Kontakt zum griechischen Innenminister aufgenommen, den er gut kennt, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Er fürchtet, dass das Phänomen in Frankreich ‚überbewertet’ wird."

Siehe auch:
1968 - Generalstreik und Studentenrevolte in Frankreich
(26. Juni 2008)
Massenproteste in Griechenland - eine Frage der politischen Perspektiven
( 18. Dezember 2008)
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