Regierungskreise in Europa fürchten den "Griechenland-Virus"

Arbeiter und Jugendliche müssen die Bedeutung und die Auswirkungen der Ereignisse verstehen, die Griechenland seit der vergangenen Woche erschüttern. Führende Regierungspolitiker in Europa und den Vereinigten Staaten verfolgen die Entwicklung genau.

Die Unruhen, die Griechenland in Atem halten, entzündeten sich daran, dass der fünfzehnjährige Alexis Grigoropoulos durch eine Polizeikugel starb. Aber das war nur der Funke, der die gewaltige Unzufriedenheit der griechischen Jugend und Studentenschaft zum Ausbruch brachte. Zwar versuchten die Neue Demokratische Partei, die an der Regierung ist, und die offizielle linke Opposition anarchistische Agitatoren verantwortlich zu machen. Das Ausmaß der Proteste, die sich über das ganze Land ausgebreitet haben und selbst brutaler Unterdrückung trotzen, ist jedoch nur aus dem Widerstand der ganzen Gesellschaft zu erklären.

Zahlreiche Berichte haben die Aufmerksamkeit auf die Perspektivlosigkeit gelenkt, mit der die jüngere Generation in Griechenland konfrontiert ist. Selbst die jungen Universitätsabsolventen sind davon nicht verschont. Unter den 15- bis 24-jährigen ist jeder vierte arbeitslos, und das schon, bevor die Weltwirtschaftskrise voll durchschlägt. Hochschulabsolventen, die das Glück haben, einen Arbeitsplatz zu finden, sind meistens gezwungen, zu Mindestlöhnen von gerade mal 600 Euro im Monat zu arbeiten. Viele haben zwei Arbeitsstellen, um über die Runden zu kommen.

Andre Gerolymatos schrieb in der kanadischen Zeitung Globe and Mail : "Das wichtigste Motiv für die Taten solcher Jugendlichen ist das Gefühl von Hoffnungslosigkeit." Er erklärte, unter den 15- bis 20-jährigen betrage die Arbeitslosigkeit "über 22 Prozent". Gerolymatos fuhr fort: "Es ist kein Zufall, dass die meisten der Unruhestifter in diese Altersgruppe fallen. Tatsächlich stehen 25 Prozent der jungen Männer oder Frauen vor einer Zukunft mit Niedriglohnarbeit und Armut."

Die Situation in Griechenland ist schlimm, aber bei weitem nicht die Ausnahme. In ganz Europa entwickelt sich ein ähnliches Bild. Deshalb kommen viele Kommentatoren zum Schluss, Griechenland sei typisch für, "eine wachsende Unzufriedenheit der Jugend in vielen europäischen Ländern" (Wall Street Journal).

Das Journal weist darauf hin, dass man die Jugend in Griechenland auch "als "Generation 600" bezeichnet, in Anspielung auf den Mindestlohn von 600 Euro in Griechenland". Dann listet die Zeitung weitere Bezeichnungen in andern Ländern für das gleiche Phänomen auf, wie die "Generation Praktikum" in Deutschland, weil die Universitätsabsolventen "eine lange Zeit als Praktikanten ohne Lohn oder für ganz wenig Geld arbeiten müssen".

In Spanien nennt man die junge Generation die "mileuristas" - "frei übersetzt sind das jene, die mit tausend Euros im Monat auskommen müssen. ... Sie erhalten bei ihrem Eintritt ins Arbeitsleben noch keine Sozialleistungen und genießen keinen Schutz, und wechseln oft von einem befristeten Vertrag zum andern."

In einem etwas ausführlicheren Kommentar vom 9. Dezember über Spanien geht die Nachrichtenagentur Bloomberg darauf ein, dass heute, da der "Boom in die Pleite übergeht", Spaniens "beste Generation" am härtesten betroffen ist. "Etwa 28 Prozent der spanischen Jugend haben keine Arbeit, das ist das Doppelte des europäischen Durchschnitts. 63 Prozent der 15- bis 24-jährigen, die letztes Jahr gearbeitet haben, hatten Zeitarbeitsverträge." So sind die Jugendlichen die ersten, die den Arbeitsplatz verlieren, und sie verlieren ihn in großer Zahl", erklärte Gayle Allard, Vizerektor der Madrider Wirtschaftsschule Instituto de Empresa.

Das durchschnittliche Monatseinkommen von unter 29-Jährigen beträgt gerade einmal 964 Euro. Einem Regierungsbericht zufolge können nur 55 Prozent der jungen Arbeiter ihre Kosten decken.

Am Tag vor dem Tod von Alexis Grigoropoulos brachte das Magazin Forbes einen Bericht, in dem Selcuk Gokoluk warnte: "Steigende Arbeitslosigkeit unter jungen Türken droht zu sozialen Unruhen zu führen." Bulent Pirler, Generalsekretär eines Unternehmerverbands, erklärte: "Die Türkei hat eine junge Bevölkerung. Wenn sie nicht ausgebildet und eingestellt wird, dann ist das eine Zeitbombe."

Forbes fuhr fort: "Zahlen belegen, dass beim Arbeitsamt 1,09 Millionen Arbeitslose gemeldet sind, aber es werden nur 14.526 offene Stellen angeboten. Mehr als ein Drittel der neuen Arbeitslosen im vergangenen Monat waren 15- bis 24-Jährige."

Der britische Telegraph brachte am 8. Dezember in seinem Wirtschaftsteil einen Artikel von Constantine Courcoulas. Dort hieß es: "Investoren machen einen Fehler, wenn sie die Unruhen in Griechenland ignorieren."

Courcoulas wies darauf hin, dass die aktuellen "Unruhen ohne Beispiel" und "nicht mehr auf anarchistische Randgruppen beschränkt" sind, weil "es einen breiten Zorn auf die Regierung gibt". Später schrieb Courcoulas: "Die Spannungen, die von der Arbeitslosigkeit, marginalisierten Jugendlichen und inkompetenten Regierungen herrühren, sind nicht auf Griechenland beschränkt. Ähnliche Ausbrüche sind auch in anderen Ländern möglich. Rezessionen treffen die Jugend immer besonders hart. Die Parole der griechischen Unruhestifter - ‚Kugeln für die Jugend, Geld für die Banken’ - ist zwar vielleicht keine qualifizierte sozioökonomische Analyse, aber sie hat einen verführerischen Klang."

Er schloss: "Soziale Proteste haben manchmal schon die Welt verändert. Denkt an die französische und die russische Revolution."

Paul Haven schrieb für Associated Press eine ähnliche Einschätzung. Er erklärte: "Die Behörden in Europa sind besorgt, dass sich der Virus zusammen mit der Rezession über den Kontinent ausbreitet".

Interessant war der Hinweis in der Zeitung Scotsman, der auf die Reaktion des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy auf die griechischen Ereignisse verwies. Sarkozy wandte sich gegen Haushaltspläne seiner eigenen Partei, die ihm zu offensichtlich die Reichen begünstigten. Er merkte an: "Seht ihr nicht, was in Griechenland passiert?"

Sarkozy äußerte sich besorgt, dass die Unruhe auch auf Frankreich übergreifen könnte, berichtete der Scotsman. "Die Franzosen lieben es, wenn ich mit Carla in einer Kutsche fahre, aber sie haben auch schon einen König geköpft", sagte er.

Die angeführten Zitate stammen aus angesehenen Finanzzeitungen mit deutlich konservativer Prägung. Es sind ernsthafte Einschätzungen einer wachsenden Bedrohung für das kapitalistische System, die sich daraus ergibt, dass eine oft gut ausgebildete, intelligente und beredte Generation von Jugendlichen gezwungen wird, von fast nichts zu leben. Jahrelang wurde ihnen erzählt, eine gute Ausbildung sei der Schlüssel zum Erfolg, und jetzt haben sie trotz der Opfer, die sie und ihre Eltern erbracht haben, keine Zukunft.

Nachdem sowohl linke wie rechte Regierungen die arbeitende Bevölkerung zwingen wollen, die Last der Wirtschaftskrise zu tragen, und auch die Oppositionsparteien keine wirkliche Alternative haben, geht die Jugend Griechenlands auf die Straße, um ihren Zorn und ihre Frustration zu zeigen. Lassen wir uns nicht täuschen: Wir erleben momentan eine tiefe soziale Bewegung, die neue politische Formen annehmen muss, Formen, die über die kompromittierten und diskreditierten Gewerkschaften und über alle Organisationen der offiziellen Linken hinausgehen werden.

Siehe auch:
Generalstreik und Ausweitung der Proteste erschüttern Regierung in Griechenland
(12. Dezember 2008)
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