Verfassungsputsch in Kanada: Eine Warnung für die Arbeiterklasse

Die konservative Minderheitsregierung Kanadas ist zu einem offenen Angriff auf parlamentarische Normen und demokratische Grundrechte übergegangen. In Zusammenarbeit mit der ungewählten Generalgouverneurin hat sie das nationale Parlament des Landes bis Ende Januar nach Hause geschickt. Dadurch will sie die Oppositionsparteien daran hindern, die Regierung kommenden Montag durch ein Misstrauensvotum zu stürzen.

Weder in Kanada noch in irgendeinem andern Land mit britischem Parlamentssystem ist es je vorgekommen, dass eine Regierung das Parlament vertagt hätte, um einem Misstrauensvotum aus dem Weg zu gehen.

Die Entscheidung von Generalgouverneurin Michaelle Jean, dem Antrag von Premierminister Stephen Harper stattzugeben und das Parlament bis zum 26. Januar zu suspendieren, ist vollkommen willkürlich und undemokratisch. Zwei weitere Tatsachen unterstreichen das:

* Erst vor acht Wochen verweigerten die kanadischen Wähler den Konservativen erneut eine parlamentarische Mehrheit. Die Oppositionsparteien gewannen 163 der 308 Sitze des Unterhauses und deutlich mehr als die Hälfte der Stimmen.

* Als Beweis dafür, dass die Konservativen das "Vertrauen" des Parlaments verloren haben, informierten die drei Oppositionsparteien die Generalgouverneurin gemäß allseits anerkannter verfassungsmäßiger Gepflogenheit, sie seien entschlossen, die Regierung zum frühest möglichen Zeitpunkt abzulösen und mindestens für die nächsten achtzehn Monate eine Koalitionsregierung der Oppositionsparteien zu stützen.

Die World Socialist Web Site steht in politischer Opposition zu einer Koalitionsregierung aus Liberalen und Neuer Demokratischer Partei (NDP), die vom Bloc Québécois unterstützt wird.

Aber wenn das Parlament suspendiert und das Recht der Abgeordneten, die amtierende Regierung abzuwählen und abzulösen, außer Kraft gesetzt wird, dann ist das ein Schlag gegen das grundlegendste demokratische Recht, das Recht der Bevölkerung, sich ihre Regierung selbst zu wählen.

Die Konservativen stellen die Wirklichkeit auf den Kopf, und ein großer Teil der Medien unterstützt sie dabei. In einer üblen und reaktionären Kampagne bezeichnen sie den Versuch der Opposition, eine andere Regierung zu wählen, als "illegal", und tun so, als sei das illegitim und missachte das Wahlergebniss vom 14 Oktober.

Sie nennen die geplante Regierung aus Liberalen und NDP eine "separatistische Koalition", weil der separatistische Bloc Québécois diese unterstützt, der bisher den Konservativen bei Vertrauensabstimmungen die Mehrheit gesichert hat. "Das ist schon fast Hochverrat und Meuterei", erklärte der konservative Abgeordnete Bob Dechert. Selbst Teile der Medien, die für die Suspendierung des Parlaments sind, gestehen zu, dass Harper und die Konservativen offen Anti-Quebec-Chauvinismus schüren.

In einer nationalen Fernsehansprache gelobte Harper am Mittwoch, "alle legalen Mittel zu nutzen", um an der Macht zu bleiben. Wenn man in Rechnung stellt, dass er den Versuch der Opposition, eine andere Regierung zu bilden, als Bedrohung der nationalen Einheit Kanadas und der Demokratie hinstellt und jetzt sogar das Parlament nach Hause schickt, dann kann man sich nach diesem Schwur fragen, wie weit er und seine Konservativen wohl noch gehen werden, um die parlamentarischen und demokratischen Gepflogenheiten außer Kraft zu setzen.

Die Konservativen reklamieren dreist das Recht für sich, ohne parlamentarische Mehrheit zu regieren. Aber der Dreh- und Angelpunkt ihres Verfassungsputsches ist das Amt des Generalgouverneurs. Der Generalgouverneur ist der Vertreter der kanadischen Königin, d.h. der britischen Monarchin Elisabeth II.

Dieses archaische Amt ist ein feudales Relikt und steht angeblich über dem politischen Tagesgeschäft. Es verfügt über fast unbegrenzte Macht, auch wenn das im Allgemeinen nicht bekannt ist. Diese "Reservevollmachten" werden fast immer in der Hinterhand gehalten, aber die herrschende Elite hat das Amt des Generalgouverneurs genau deswegen beibehalten, um in Perioden akuter Krise die parlamentarische Demokratie auszuhebeln.

Gestern schickte Michaelle Jean das Parlament nach Hause, um einer rechten Regierung unter den Bedingungen einer scharfen Wirtschaftskrise das Überleben zu sichern. In Australien gab es im Jahr 1975 schon einmal den Fall, dass der Generalgouverneur John Kerr die Labor-Regierung von Gough Whitlam durch den Rechten Malcolm Fraser ersetzte. Damals hatte die herrschende Klasse Australiens das Vertrauen verloren, dass Labor die damalige Welle von Arbeiterkämpfen unter Kontrolle halten könne.

Entsprechend der reaktionären Tradition und Funktion ihres Amts wird Michaelle Jean keine Begründung für ihre gestrige Entscheidung liefern, das Parlament in Urlaub zu schicken. Juristisch ist sie niemandem rechenschaftspflichtig.

Das bedeutet nicht, dass sie es war, die gestern die Entscheidung getroffen hat. Es ist die kanadische Wirtschaftselite, die über die Leitartikel ihrer Zeitungen unmissverständlich klar gemacht hat, dass sie es vorzieht, demokratische Prinzipien zu erdrosseln, als zuzulassen, dass die Regierung durch eine Koalition aus Liberalen und NDP ersetzt wird.

Dabei ist diese Koalition alles andere als radikal. In dem Abkommen zur Bildung einer Koalition mit den Liberalen, der traditionellen kanadischen Regierungspartei, hatte sich die NDP bereit erklärt, eine "verantwortungsvolle Haushaltspolitik" und Kanadas führende Rolle im Afghanistan-Krieg zu akzeptieren. Außerdem verzichtete sie auf ihre Forderung nach einer Rücknahme des fünfzig Milliarden Dollar schweren Steuersenkungsprogramms für die Wirtschaft in den nächsten fünf Jahren.

Der Klassencharakter der Koalition - ihre Unterwürfigkeit unter die Interessen der Wirtschaft - wird von ihrer laschen Reaktion auf den gestrigen Verfassungsputsch unterstrichen. Keiner der drei Oppositionsführer wagte es, das Amt des Generalgouverneurs oder die Entscheidung der Gouverneurin in Frage zu stellen. In seiner Pressekonferenz lamentierte der Führer der NDP, Jack Layton, erst nach zehn Minuten, dies sei "ein trauriger Tag für die parlamentarische Demokratie", worauf er zur Tagesordnung über ging. In der Führung der Liberalen haben sich schon Stimmen zu Wort gemeldet, ob sich die Partei nicht im "nationalen Interesse" hinter die Konservativen stellen solle.

Die politische Krise um die Verfassung brach aus, nachdem die Regierung am 27. November eine Neubestimmung ihrer Haushalts- und Wirtschaftspolitik vorgelegt hatte. Die Krise hat ihre Wurzeln in tiefen Konflikten der kanadischen Bourgeoisie, über die Frage, wie sie auf die Weltrezession reagieren soll. Die Konservativen, die den gierigsten Teil des Kapitals, darunter auch die Ölindustrie in Alberta, vertreten, lehnen die Forderung nach einem Konjunkturprogramm ab.

Die Krise hat ans Licht gebracht, dass den wichtigsten Parteien der herrschenden Klasse ihre Basis in der Bevölkerung weg bricht. Das ist die Folge einer Politik, die sich seit mehr als 25 Jahren darauf konzentriert, den Reichtum der Wirtschafts- und Finanzelite zu mehren, und die dafür öffentliche Dienstleistungen beschneidet, Gewerkschaftsrechte aushöhlt und die Steuern für die Wirtschaft und die Reichen senkt.

Bei der Wahl 1993 brach die Progressive Konservative Partei, eine der beiden traditionellen Regierungsparteien der kanadischen Elite, auseinander. Die "neue" Konservative Partei unter der Führung des neokonservativen Ideologen Stephen Harper entstand aus der Fusion der rechtspopulistischen Reform/Canadian Alliance und Überresten der Progressiven Konservativen. Bei der Wahl am 14. Oktober erreichten die Liberalen 26,2 Prozent der Stimmen, ihr schlechtestes Ergebnis überhaupt.

Die überkommenen bürgerlich-demokratischen Verhältnisse zerbrechen. Das liegt einerseits an der Schärfe des Streits innerhalb der herrschenden Klasse über die Frage, wie der kanadische Kapitalismus seine Weltstellung unter den Bedingungen weltweiter Handelskonflikte und geopolitischer Rivalitäten erhalten kann. Und andererseits daran, dass sich die Herrschenden mit ihrer Politik der sozialen Reaktion und des Militarismus nicht mehr auf eine stabile Unterstützung in der Bevölkerung verlassen können. Sie leben in ständiger Furcht vor einem Ausbruch des Klassenkampfs.

Die Ereignisse dieser Woche in dem "friedfertigen Königreich" müssen Arbeitern in aller Welt eine Warnung sein. Die Bourgeoisie setzt sich immer rücksichtsloser über demokratische Normen und Prinzipien hinweg und greift zu autoritären Herrschaftsmethoden.

Das ist auch in den Vereinigten Staaten zu beobachten. Erst kämpften die Rechten auf der Grundlage an den Haaren herbeigezogener Vorwürfe für die Amtsenthebung Bill Clintons, dann wurde die Wahl von 2000 gestohlen, dann, unter der Bush-Regierung, folgten die Ausbrüche von Militarismus und Angriffe auf demokratische Rechte. Dutzende Millionen stimmten vergangenen Monat für Barack Obama, weil sie hofften, so einen Krieg und eine Wirtschaftspolitik zu beenden, die die Plutokratie bereichert hat und die große Mehrheit zu wirtschaftlicher Unsicherheit und sinkendem Lebensstandard verdammt. Obama jedoch wusste nichts Eiligeres zu tun, als der herrschenden Elite zu versichern, es werde in der Wirtschaftspolitik und bei den Kriegen im Irak und in Afghanistan einen "nahtlosen Übergang" geben, d.h. im Wesentlichen eine Fortsetzung des gleichen Kurses.

Wie schon zuvor in den USA, haben die Ereignisse in Kanada jetzt gezeigt, dass weder etablierte Politiker, noch offizielle Medien die verfassungsmäßigen Prinzipien und demokratischen Rechte verteidigen.

Der Kampf für die Verteidigung demokratischer Rechte ist untrennbar mit dem Kampf gegen imperialistischen Krieg und für die wirtschaftlichen und sozialen Interessen der Arbeiterklasse verbunden. Er hängt von der unabhängigen politischen Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen alle offiziellen Parteien und das kapitalistische System selbst ab.

Siehe auch:
Kanadas Ministerpräsident umreißt imperialistische Ziele
(28. September 2006)
Kanadas neue konservative Regierung wird Angriffe auf Arbeiter und demokratische Rechte verschärfen
( 2. Februar 2006)
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