Konflikte über europäisches Konjunkturprogramm

Die Debatte über ein gemeinsames europäisches Konjunkturprogramm hat heftige internationale Spannungen ausgelöst. Insbesondere die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ist ins Zentrum der Kritik geraten, weil sie sich weigert, ein umfangreiches Konjunkturprogramm zu unterstützen.

Die Konjunkturprognosen für Europa werden von Monat zu Monat düsterer. Eine gemeinsame Voraussage von zehn europäischen Forschungsinstituten rechnet für 2009 mit einem Rückgang des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 0,4 Prozent und einem deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Auch eine wesentlich ungünstigere Entwicklung schließen die Forscher nicht aus.

Die meisten EU-Länder befinden sich bereits mitten in der Rezession. In Deutschland, wo das BIP im ersten Quartal 2008 noch mit einer Jahresrate von 5,7 Prozent wuchs, sank es im zweiten Quartal um 1,7 und im dritten um 2,1 Prozent. Die OECD sagt für die nächsten zwei Jahre einen Anstieg der deutschen Arbeitslosenzahl um 700.000 voraus.

Die Bundesregierung ist sich über diese schlechten Aussichten im Klaren. Während der parlamentarischen Generalaussprache zum Haushalt 2009 hatte Bundeskanzlerin Merkel letzte Woche erklärt, Deutschland, Europa und die Industriestaaten stünden vor einer "außerordentlich schwierigen Wegstrecke" und die Bürger müssten sich "auf harte Zeiten vorbereiten".

Doch im Gegensatz zu anderen europäischen Regierungen, die große Summen zur Ankurbelung der Konjunktur locker machen, ist das bisher von der Bundesregierung verabschiedete Konjunkturpaket minimal. Es umfasst ein Volumen von lediglich 11 Milliarden Euro, verteilt auf zwei Jahre.

Gemessen an den 500 Milliarden Euro, die die Regierung zur Rettung der Banken zur Verfügung gestellt hat, sind dies weniger als drei Prozent. Neben einem befristeten Erlass der Kfz-Steuer und einem Steuerbonus für private Handwerkerrechnungen sieht das Konjunkturprogramm der Regierung mehr Geld für Verkehr, Kommunen und die Gebäudesanierung vor.

Das Konjunkturpaket im Umfang von 200 Milliarden Euro, das EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso am Mittwoch in Brüssel vorstellte, stieß in Berlin auf deutlichen Widerstand.

Der französische Präsident Nicolas Sarkozy hatte zuvor versucht, Kanzlerin Angela Merkel zur Leistung eines größeren finanziellen Beitrag zur Ankurbelung der europäischen Wirtschaft zu überreden. Deutschland habe ein vergleichsweise niedriges Haushaltsdefizit, das in diesem Jahr weit unter der EU-Richtlinie von drei Prozent liege. Daraus ergäbe sich ein finanzieller Spielraum für zusätzliche Ausgaben, argumentierte Sarkozy.

Doch Merkel wies dies schroff zurück. Die Kanzlerin "zeigte sich wenig freigiebig", berichtete Le Monde über die deutsch-französischen Gipfelgespräche am Montag. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz sagte Merkel im Anschluss an die Gespräche, jedes der 27 EU-Mitgliedsstaaten müsse Geld beisteuern und behauptete: "Deutschland hat zum Beispiel jetzt schon einen großen Teil davon auf den Weg gebracht."

Noch deutlicher wurde der haushaltspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion Steffen Kampeter. Er unterstützte die Position der Bundesregierung mit den Worten: "Wir sollten mit deutschen Steuergeldern nicht alle anderen Länder glücklich machen."

Merkel gab zwar am Ende grünes Licht für Barrosos Konjunkturpaket, aber lediglich als Empfehlung, deren Umsetzung und Finanzierung den einzelnen Regierungen überlassen bleibt. Die Überweisung zusätzlicher Gelder nach Brüssel lehnte sie ab. "Wir leisten weiterhin unseren Beitrag von 20 Prozent zum EU-Haushalt. Wir wollen diesen Beitrag nicht erhöhen", erklärte sie am Sonntag der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Sowohl in der britischen, französischen und italienischen als auch in der amerikanischen Presse erntete Merkel deshalb heftige Kritik. Auch im eigenen Land gerät sie inzwischen unter Druck.

Schon Anfang November hatte der Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten weit höhere Summen zur Stützung der Wirtschaft gefordert. Das aus fünf Wirtschaftsprofessoren bestehende Gremium, das jedes Jahr einen Bericht zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vorlegt, war bisher eher für seine radikalen Sparvorschläge bekannt gewesen.

Am Sonntag erschien dann Der Spiegel mit der Titelschlagzeile "Angela mutlos" und griff die Kanzlerin heftig an. Sie gebe keine Orientierung und vertraue ganz auf ihren Finanzminister Steinbrück, wirft ihr das Nachrichtenmagazin vor. Ihr Konjunkturprogramm sei "ein Sammelsurium von halbherzigen Ideen, fragwürdigen Subventionen und Etikettenschwindelei".

Der Spiegel vergleicht Merkels Wirtschaftskurs mit jenem von Reichskanzler Heinrich Brüning zu Beginn der 1930er Jahre. Dieser habe damals versucht, " die Wirtschaftskrise mit eiserner Sparsamkeit zu kontern - mit verheerenden Folgen."

Vor allem aber, so Der Spiegel, führe Merkels Kurs in die internationale Isolation. Sie und Steinbrück seien "auf einen nationalen Kurs eingeschwenkt, aus Angst, dass deutsches Krisengeld in Europa verbraten würde". Statt in Europa die Initiative zu übernehmen, überließen sie dies dem britischen Premier Gordon Brown und dem französischen Präsidenten Sarkozy. "Merkel hat Deutschland mit ihrem Zaudern weitgehende isoliert, und die Folge ist, dass die Deutschen gerade Einfluss in der Weltpolitik verlieren."

Auch in Merkels eigener Partei meldete sich Widerstand. In der CDU-Mittelstandsvereinigung und der bayrischen CSU häuften sich Forderungen nach einer sofortigen Steuersenkung, um mittelständischen Unternehmen, die durch Kreditknappheit und Konjunktureinbruch in Schwierigkeiten geraten, aus der Klemme zu helfen. Merkel konnte nur mit Mühe verhindern, dass es auf dem CDU-Parteitag, der Sonntagabend in Stuttgart begann, zu einer offenen Rebellion kam.

Sowohl Merkel wie Steinbrück unterstrichen am Wochenende ihre Weigerung, zusätzliche Gelder für die Stützung der Konjunktur auszugeben.

Steinbrück sagte im Spiegel : "Ich halte es nicht für redlich, den Eindruck zu erzeugen, dass wir gegen die Rezession mit Staatsknete anfinanzieren könnten." Und: "Ich finde es wichtig, dass nicht sinnlos Geld verbrannt wird. Nur, weil andere sich mit Milliardenbeträgen im Tagesrhythmus überbieten, muss ich das doch nicht nachmachen." Dem Sachverständigenrat warf er vor, er wechsle "seine Position in diesen Tagen öfter als ich meine Hemden".

Merkel äußerte sich in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (F.A.S.) weniger aggressiv, aber nicht minder entschieden. Am Montag betonte sie dann auf dem CDU-Parteitag: "An einem Überbietungswettbewerb von immer neuen Vorschlägen, an einem sinnlosen Wettbewerb um Milliarden - daran beteiligen wir uns nicht. Denn wir haben auch in solchen Zeiten Verantwortung vor dem Steuerzahler."

Merkels einziges Zugeständnis: Anfang Januar sollen die bisherigen Konjunkturmaßnahmen überprüft und über weitere Maßnahmen beraten werden.

Merkels und Steinbrücks Verhalten auf Mutlosigkeit oder andere Charaktermerkmale zurückzuführen, wie dies Der Spiegel tut, greift allerdings zu kurz. Beide versuchen, den Stabilitätspakt zu verteidigen, der seit Anfang der neunziger Jahre das Rückgrat der deutschen Europa-Strategie bildete.

Damals hatten Kanzler Helmut Kohl (CDU) und sein Finanzminister Theo Waigel darauf beharrt, die Einführung des Euro an strikte finanzpolitische Auflagen zu binden. Die Neuverschuldung eines Landes durfte maximal drei Prozent und die Gesamtverschuldung 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen. Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank (EZB) sollte außerdem verhindern, dass Regierungen mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten die EZB unter Druck setzen, eine inflationäre Politik zu betreiben.

Der Stabilitätspakt erfüllte so einen doppelten Zweck. Zum einen sollte er die Stabilität des Euro garantieren und diesen in die Lage versetzen, mit dem Dollar zu konkurrieren. Damit sollte auch die Dominanz der deutschen Wirtschaft in Europa gesichert werden, die wegen ihrer Exportstärke besonders von einer stabilen Währung profitiert.

Zum andern wurde mithilfe der rigorosen Stabilitätskriterien der permanente Abbau von Löhnen, Sozialleistungen und anderen öffentlichen Ausgaben in ganz Europa durchgesetzt. Deutschland war in dieser Hinsicht besonders "erfolgreich". Mit der Agenda-Politik der Regierung Schröder wurden Lohnniveau und Sozialleistungen radikal gekürzt. Laut einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) hält Deutschland unter den Industrienationen den Spitzenplatz beim Ausbau des Lohngefälles. In keinem anderen Industrieland hat die Kluft zwischen hohen und niedrigen Einkommen derart zugenommen.

Die Bundesregierung sieht den Stabilitätspakt gefährdet, wenn sie dem Druck nachgibt und die öffentlichen Ausgaben erhöht. "Wenn die Bundeskanzlerin sich zu großzügig zeigt", schriebt die F.A.Z., "läuft sie Gefahr, dass Deutschland gegen den Stabilitätspakt verstößt und diesem damit den Todesstoß versetzt. Damit würde die Union ihr eigenes Kinde begraben."

Hält sie dagegen weiter am Stabilitätspakt fest, droht sie sich in Europa zu isolieren und ihre Rivalen gegen sich zu vereinen. Der drohende Staatsbankrott osteuropäischer Länder, die dringend auf europäische Unterstützung angewiesen sind, würde außerdem die deutsche Wirtschaft empfindlich treffen, die stark in Osteuropa engagiert ist.

Dieses Dilemma steht hinter den heftigen Auseinandersetzungen über das Konjunkturpaket. Die Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise haben der bisherigen Europa-Strategie Berlins den Boden entzogen. Es erweist sich zunehmend als unmöglich, die EU mit friedlichen Mitteln zu dominieren. Als Folge verschärfen sich die politischen Konflikte zwischen den europäischen Mächten.

Am Ende der französischen EU-Ratspräsidentschaft häufen sich Medienberichte über "wachsendes Misstrauen" und "handfeste Konflikte" zwischen Berlin und Paris. In Deutschland verdächtigt man Frankreich des Staatsprotektionismus, weil es sich über Staatsfonds an Unternehmen beteiligt und der Autoindustrie unter die Arme greift. Das Magazin Profil aus Wien schreibt dazu: "Paris, argwöhnt Berlin, wolle nur die eigenen Schlüsselindustrien weiter abschotten, sich die EU-Wirtschaftsordnung zurechtbiegen und mehr Einfluss auf die Europäische Zentralbank gewinnen, um den Leitzins zu senken und den Euro abzuwerten. Dieser macht Frankreichs Industrie deutlich mehr zu schaffen als dem Dauerexportweltmeister Deutschland."

In Paris wiederum, berichtet Der Spiegel, schlage Merkel regelrechter Hass entgegen. Man beschuldige sie, jede Initiative zu blockieren.

Hatten sich frühere Bundeskanzler oft durch finanzielle Zugeständnisse politische Kompromisse erkauft, beharrt die jetzige Regierung deutlicher als bisher auf ihrem eigenen Führungsanspruch. Merkel und die hinter ihr stehenden Wirtschafts- und Finanzkreise glauben, Deutschland sei besser für die Krise gerüstet als andere europäische Länder.

Sie sei froh, sagte Merkel im F.A.S. -Interview, "dass sich die deutsche Wirtschaft in den letzten Jahren strukturell gut aufgestellt und die Wettbewerbsfähigkeit verbessert hat. Deutschland ist stark, und wir haben alle Chancen, die Krise gut zu meistern." Ihr Stellvertreter, Vizekanzler Frank-Walter Steinmeier (SPD), bezeichnete in der Haushaltsdebatte des Bundestags die Krise sogar als "Chance zu einer Neuordnung".

Einig sind sich Paris und Berlin nur darin, die ganze Last der Wirtschaftskrise auf die arbeitende Bevölkerung abzuwälzen. Deshalb wollen sie unter keinen Umständen die Massensteuern senken und die Auswirkungen der Krise auf große Teile der Bevölkerung durch direkte Zuschüsse oder Kostensenkung mildern.

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