Solidarnosc 1980-1981

Der Verrat der Pablisten an der polnischen Arbeiterklasse

Im Nachfolgenden veröffentlichen wir ein Kapitel aus dem Buch "Solidarnosc 1980 - 1981 und die Perspektive der politischen Revolution" von Wolfgang Weber (Arbeiterpresseverlag, 1987). Der Autor ist Mitglied im Vorstand der Partei für Soziale Gleichheit (PSG) und hat das Buch zwei Jahre vor dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime geschrieben. Das hier wiedergegebene Kapitel über den Verrat der Pablisten an der polnischen Arbeiterklasse ist angesichts der Rede von Olivier Besancenot, dem Sprecher der französischen NPA auf dem Europawahlkongress der Polnischen Partei der Arbeit (PPP) von besonderer Aktualität.

1. Pablismus - 35 Jahre Verrat an der politischen Revolution

Anfang der fünfziger Jahre hatte der damalige Sekretär des Internationalen Sekretariats der Vierten Internationale, Michael Pablo, mit Unterstützung von Ernest Mandel die Perspektive entwickelt, dass die stalinistische Bürokratie oder Teile von ihr unter dem Druck der Arbeiterklasse eine fortschrittliche, ja revolutionäre Rolle übernehmen würden, d.h. nicht mehr, wie Trotzki es analysiert hatte, eine durch und durch konterrevolutionäre Rolle spielten und die Hauptstütze des Imperialismus für seine andauernde Weltherrschaft bildeten. Ein "unaufhaltsamer Prozess" der Zugeständnisse an die Arbeiterklasse, eine evolutionäre "Selbstreform der Bürokratie" werde schließlich mit der vollständigen Beseitigung der Bürokratie enden.

Auf der Grundlage einer mechanischen, vulgärmaterialistischen Auffassung von der Beziehung zwischen den materiellen Grundlagen der Gesellschaft in ihren Produktionsverhältnissen und der darin organisierten Entwicklung der Produktivkräfte auf der einen Seite und ihrem ideologischen Überbau auf der anderen Seite verwandelte Pablo den Klassenkampf in eine Reihe nicht zu stoppender objektiver Prozesse, in dem die Massen entsprechend der Entwicklung der Produktivkräfte unausweichlich voranschreiten, aus ihrem spontanen Kampf heraus sich eine revolutionäre Führung schaffen und irgendwann "die Kapitalisten im Westen und die Bürokraten im Osten hinwegfegen" werden.

Die Aufgabe von "Trotzkisten" - als solche bezeichnen sich die Pablisten betrügerischerweise weiterhin - ist es folglich nicht mehr, gegen das spontane, bürgerliche Bewusstsein in der Arbeiterklasse für marxistisches, wissenschaftlich-sozialistisches Bewusstsein, gegen reformistische Illusionen und nationalistische Beschränktheit für die Perspektive der proletarischen Weltrevolution zu kämpfen. Ihnen obliegt es vielmehr lediglich, diesen ohnehin "nicht zu stoppenden Prozess der Revolution" zu kommentieren und zu beschreiben, die angeblich "leninistischen Fraktionen" in der stalinistischen Bürokratie oder sich im spontanen Kampf bildende "revolutionäre Kerne" in der Arbeiterklasse ausfindig zu machen und die gesamte Arbeiterklasse ihnen unterzuordnen!

Die Konsequenzen dieser Politik der Pablisten hat gerade die polnische Arbeiterklasse am eigenen Leib bitter erfahren müssen. In der Resolution des Weltkongresses der Pablisten im Jahr 1957, ‘Niedergang und Fall des Stalinismus‘, wird folgendes verkündet: "Das Ausmaß, in dem die Linkstendenz (in der polnischen stalinistischen KP!; Anm.d. Verf.) ihrem Programm treu bleibt, es in der Praxis anwendet und sich noch enger mit dem Proletariat verbindet, entscheidet über ihre Fähigkeit, die Rolle der leninistischen Führung der polnischen Arbeiterklasse voll zu erfüllen..." 59. Und weiter: "Dank ihrer vielfachen Verbindungen mit dem Proletariat...dank der Klarheit ihrer- dem revolutionären Marxismus sehr nahe kommenden - Kritik des Stalinismus und ihrem Programm der Mobilisierung der Arbeiter... kann die Linkstendenz, die sich zum Sturz der stalinistischen Führung der KP Polens mit der zentristischen Gomulka-Fraktion verbündet hatte, als der sich herausbildende Kern der neuen revolutionär-marxistischen Führung des polnischen Proletariats angesehen werden". 60

Diese Resolution wurde im Oktober 1957 angenommen, also nachdem Gomulka, weit davon entfernt, die stalinistische Bürokratie zu stürzen, sie vielmehr vor den revolutionären Aufständen in Polen.gerettet und inzwischen schon wieder alle taktischen Zugeständnisse und Reformen von 1956 rückgängig gemacht hatte: die 1956 entstandenen Arbeiterräte waren entmachtet, politische Diskussionsclubs verboten und der Streik der Straßenbahner in Lodz bereits blutig niedergeschlagen! Zwölf Jahre später hat Gomulka in den Küstenstädten die Panzer gegen die streikenden Arbeiter auffahren und auf sie schießen lassen, während die letzten Vertreter der sog. "Linkstendenz" wie Kuroñ und Modzelewski zur selben Zeit begannen, den wirklichen Inhalt ihrer "linken" Perspektiven offen zu zeigen und die Arbeiterklasse mit allen Mitteln vom Sturz der Bürokratie abzuhalten.

Das Mahnmal, das die Solidarnosc in Gdansk zum Gedenken an die damals ermordeten Arbeiter errichten ließ, ist deshalb gleichzeitig eine Warnung der Arbeiterklasse vor all denjenigen, die wie die Pablisten versuchen, Hoffnungen und Illusionen in die Bürokratie oder sog. "Linkstendenzen" in ihr zu wecken.

Der Pablist Winfried Wolf

Winfried Wolf, ein führendes Mitglied der pablistischen "Gruppe Internationaler Marxisten" (GIM) in Deutschland, die sich letztes Jahr mit der stalinistischen "KPD" (früher KPD/ML), dem übelsten Überrest der Studentenbewegung, zur "Vereinigten Sozialistischen Partei" (VSP) zusammengeschlossen hat. unterstützt noch heute diese Resolution "Niedergang und Fall des Stalinismus" von 1957. In seinem Buch über die Solidarnosc bezieht er sich ausdrücklich auf sie und die zitierte Glorifizierung von Gomulka darin und meint dazu: "...es wäre vereinfacht, diese aus der gegenwärtigen Perspektive als.Illusion in den Stalinismus abzutun." 61

Dabei verschweigt er natürlich, dass die bewusste Verbreitung dieser "Illusionen in den Stalinismus" und der damit verbundene Verrat an der Arbeiterklasse durch Pablo und Mandel nicht erst heute "aus der gegenwärtigen Perspektive", sondern schon damals von der trotzkistischen Bewegung bekämpft worden ist. In diesem Zusammenhang war auch die Spaltung von 1953 und die Gründung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale zur Verteidigung der Prinzipien und Perspektiven des Trotzkismus notwendig geworden. Winfried Wolf jedoch besteht auch heute weiterhin darauf: "...das Entstehen eines revolutionären, minoritären Flügels - in der stalinistischen Partei eines entarteten Arbeiterstaates! Anm.d. Verf.-, vergleichbar der, Oktober-Linken' 1956 in Polen oder dem.Petöfi-Club' 1956 in Ungarn erscheint weiter denkbar." 62

Die einzige Schwierigkeit, auf die die Pablisten mit dieser Linie beim Kampf der Solidarnosc 1980/81 stießen, war jedoch folgende: weder Winfried Wolf beim Durchwühlen der bürgerlichen Zeitungen, auf deren Berichte er seine weitschweifige, von Ernest Mandels akademischer Soziologie geprägte Beschreibung der Ereignisse stützt, noch Jakob Moneta - ebenfalls führendes Mitglied der GIM - bei seinem Besuch im Dezember 1980 mit einer Gruppe von Revisionisten in Polen selbst waren in der Lage, auch nur im entferntesten einen "mit dem Proletariat verbundenen Flügel" der PVAP zu entdecken, dem sich die Arbeiterklasse hätte unterordnen lassen können. Nach den Kämpfen von 1956,1968,1970 und 1976 hatte die Arbeiterklasse in Polen zwar von sich aus keine Perspektive und Zuversicht, das stalinistische Regime selbst abschütteln zu können, aber auch keinerlei Illusion oder Hoffnung in angebliche "Links- Tendenzen" der Bürokratie. Versuche einiger betrieblichen und regionaler PVAP-Funktionäre, mit der sog. "Bewegung für horizontale Strukturen" die Partei zu demokratisieren, wurden vielmehr gerade auf Grund der Erfahrung mit der "Oktober-Linken" von 1956 als bewusste Täuschungsmanöver aufgefasst. In dem Bemühen nun, den pablistischen Verrat diesen neuen Entwicklungen im Klassenkampf anzupassen, fand Winfried Wolf folgende Lösung des Problems:

"Schon das Entstehen eines solchen Flügels, der revolutionär marxistischen Positionen nahekommt, ist inzwischen kaum vorstellbar, ohne die Existenz einer revolutionären organisierten Kraft außerhalb der KP. Dies gilt erst recht für eine konsequente Weiterentwicklung und Praxis eines solchen Flügels, d. h. für sein offenes Wirken als revolutionäre Partei.

Insofern lässt sich der Prozess der Herausbildung einer revolutionären Partei nicht als bloße Reform im Sinne einer ‘Revolutionierung‘ der KP vorstellen, sondern nur als ein Umgruppierungsprozess; zwischen einem solchen linken Parteiflügel und einem bestehenden revolutionären Kern außerhalb der Partei der Bürokratie (sofern es überhaupt in der KP zu einem solchen Flügel kommt und eine revolutionäre Organisation sich nicht allein aus Kräften von außerhalb entwickelt)." 63

Bleibt für die Pablisten also nur noch die Aufgabe, nun einen solchen, sich spontan aus den Kämpfen der Arbeiterklasse entwickelnden "revolutionären Kern außerhalb der Partei der Bürokratie"aufzuspüren, um die Arbeiterklasse und ihre Perspektiven ihm unterzuordnen: In Polen entdeckten sie ihn in der "Bewegung für Selbstverwaltung oder Arbeiterselbstverwaltung".

2. Der reformistische Inhalt der "Bewegung für Selbstverwaltung"

Die Forderung nach Arbeiterkontrolle über die Produktion und über die Verteilung der Konsumgüter spielte wie schon 1956 auch '80/81 im Kampf der Solidarnosc gegen die stalinistische Bürokratie eine große Rolle, angefangen von den "21 Forderungen von Gdansk" bis zur Programm-Debatte auf dem Delegierten-Kongress der Gewerkschaft im Herbst 1981. Da diese für den Sozialismus grundlegenden Forderungen nach Arbeiterdemokratie und Arbeiterkontrolle jedoch nicht verwirklicht werden können, ohne die Bürokratie zu stürzen, bilden sie einen wichtigen Bestandteil des Programms der Politischen Revolution. Ohne diese revolutionäre, auf die Stärke und Mobilisierung des internationalen Proletariats ausgerichtete Perspektive erhalten dagegen auch die ausgefeiltesten und radikalsten Konzepte und Modelle der Arbeiterselbstverwaltung eine völlig entgegengesetzte Ausrichtung, die zwangsläufig die Unterordnung der Arbeiterklasse unter die stalinistische Bürokratie beinhaltet.

Vor allem ab März 1981, als sich die Konfrontationen zwischen Solidarnosc und Regierung zuspitzten, traten in der Solidarnosc verschiedene politische Tendenzen auf, die gerade solche reformistischen Programme der "Selbstverwaltung" entwickelten und vertraten.

Das "Netz"

Von führenden Mitgliedern der Solidarnosc auf der Lenin-Werft in Gdansk, insbesondere dem wissenschaftlichen Angestellten Jerzy Milewski, ging die Initiative für die Bildung eines "Netzes" (Siec) eines Zusammenschlusses von gewählten Vertretern aus den Betrieben aus, in dessen Rahmen Konzepte für die völlige Selbstverwaltung durch die Belegschaften, unabhängig von Staat, Partei, aber auch Gewerkschaft entwickelt werden sollten. Die Selbstverwaltung nach den Vorstellungen des "Netzes", dem sich bis zum Sommer 1981 bereits 17 Großbetriebe angeschlossen hatten, sollte in einem autonomen, basisdemokratischen Entscheidungsrecht der Belegschaften in allen Fragen, sowohl bei der Berufung der Betriebsleitung als auch bezüglich der Produktionspläne und -Methoden bestehen.

So sehr dieses Konzept auch Anklang fand bei den Arbeitern, die von Hass erfüllt waren auf die Betriebsdirektoren, die stalinistischen Gewerkschaftsfunktionäre und sonstigen Erfüllungsgehilfen des Regimes und seiner von oben diktierten "Pläne", Normen und Verordnungen, so bedeutete es doch ein Ausweichen vor dem Konflikt mit der herrschenden Bürokratie, eine Unterordnung unter ihre Macht: Anstatt danach zu streben, der Bürokratie die Kontrolle über die gesamtwirtschaftliche, zentrale Planung zu entreißen und diese für eine harmonische wirtschaftliche Entwicklung notwendige Planung von den durch Korruption, Schmarotzerinteressen, bürokratischer Kurzsichtigkeit und Rücksichtslosigkeit verursachten Entartungen zu befreien, anstatt auf diese Weise die aktive Beteiligung der Arbeitermassen auf allen Ebenen an der Planung und so deren Ausrichtung auf die Bedürfnisse und langfristigen Interessen der Arbeiterklasse zu ermöglichen, verwandelte das "Netz" die berechtigte Opposition gegen den bürokratischen Missbrauch der Planwirtschaft in eine Opposition gegen die zentrale Planung überhaupt. Damit verschaffte sie auch rechten "Experten" wie Professor Stefan Kurowski Einfluss, die eine Ausdehnung des privatwirtschaftlichen Sektors und die Einführung der Marktwirtschaft in der Industrie befürworteten.

Ausgangspunkt aller Vorstellungen des "Netzes" war folgende Tatsache: Seit Jahren war der zentrale "Plan" der stalinistischen Bürokratie eine reine Fiktion. Die Planvorgaben für die Betriebe dienten hauptsächlich zur Verschärfung der Arbeitshetze, während ihre Erfüllung entweder mangels Vorprodukte, Rohstoffe oder Ersatzteile unmöglich oder wegen fehlender Abstimmung mit nachgelagerten Betrieben, schlechter oder fehlender Lagerungsmöglichkeiten und Schwierigkeiten in der Verteilung der produzierten Güter völlig sinnlos war.

Daraus folgerte das "Netz", dass der zentrale Plan überhaupt beseitigt oder durch unverbindliche Prognosen und Empfehlungen ersetzt werden müsse. Zu dieser Schlussfolgerung kam es, weil es über keinerlei Perspektive verfugte, die Ursache dieser Misswirtschaft und Entartung, die stalinistische Bürokratie zu beseitigen. Dies entspricht der Behandlung eines an Gehirntumor erkrankten Menschen durch einen Arzt, der, weil er die operative Entfernung des Krebsgeschwürs nicht beherrscht oder ablehnt, stattdessen vorschlägt, das zentrale Nervensystem lahmzulegen, indem das Rückenmark durchschnitten wird.

Das "Netz" vertrat dabei das Konzept, dass sich alle Preise grundsätzlich auf dem Markt durch das Spiel von Angebot und Nachfrage bilden, die Betriebe selbständig nach dem Prinzip der Selbstfinanzierung wirtschaften und so miteinander in Konkurrenz stehen sollten. Laut Artikel 7 und 19 eines vom "Netz" erarbeiteten "Gesetzentwurfs für gesellschaftliche Unternehmen" 64 sollten die Unternehmen auch das Recht haben, mit kapitalistischen Unternehmen des Auslands autonom Handels- und Fusionsverträge abzuschließen.

Dieser Weg der auf betriebliche Ebene beschränkten Selbstverwaltung unterhöhlt damit die Grundlagen des Arbeiterstaates, öffnet mit seinem Angriff auf die Planwirtschaft und das Außenhandelsmonopol kapitalistischen Profitinteressen Tür und Tor. Weit davon entfernt, der Befreiung der Arbeiterklasse von der bürokratischen Bevormundung zu dienen, kann er ganz im Gegenteil von der Bürokratie selbst eingeschlagen werden, um die Wirtschaftskrise auf Kosten der Arbeiterklasse zu lösen und die privilegierte Position und das Herrschaftssystem der Bürokratie zu sichern.

So finden sich heute in Gorbatschows "Perestrojka" (Umbau) der Gesellschaft viele Elemente des "Netz"-Planes wieder: die Aufweichung des Außenhandelsmonopols, das Selbstfinanzierungsprinzip der Betriebe mit allen seinen Konsequenzen wie Lohnsenkungen und Entlassungen bei,Unrentabilität‘ oder Zahlungsunfähigkeit. Ja sogar mehr "demokratische Selbstverwaltung" ist Gorbatschow bereit zuzugestehen, weil sie unter solchen Bedingungen die Macht der Bürokratie über die "selbstverwalteten Betriebe", ihre Position im Staats- und Regierungsapparat keineswegs angreift. Die Bürokratie soll dadurch im Gegenteil sogar aus der Schusslinie der Opposition in der Arbeiterklasse genommen werden, indem die Organe der Selbstverwaltung unter dem Druck des Selbstfinanzierungsprinzips, unter dem Druck des "frei zugänglichen" Weltmarktes und unter dem Druck der Konkurrenz der Betriebe untereinander auf ganz "demokratische" und so viel effektivere Weise die die Rolle des Einpeitschers gegenüber der Belegschaft übernehmen. Darüber hinaus tragen sie zwangsläufig mit den Instrumenten der Prämien und Gewinnbeteiligung die Korruption in die obersten, gut ausgebildeten Arbeiterschichten und sollen so helfen, die soziale Basis, die Anhängerschaft der verhassten und gesellschaftlich isolierten Bürokratie zu verbreitern.

Die "Lubliner Gruppe"

Die Landesverständigungskommission, das Führungsgremium der Solidarnosc, befand auf den Rat der "Experten" hin die Vorstellungen des Netzes zu Recht als verträglich mit ihrer Politik der "sich selbst beschränkenden Revolution" und befürwortete auf dem Delegierten-Kongress der Solidarnosc ihre weitgehende Aufnahme in das Programm der Gewerkschaft. Als eine Art linke Alternative zum "Netz" trat jedoch auf dem Kongress die "Arbeitsgruppe für die überregionale Zusammenarbeit der Arbeiterräte" oder kurz "Lubliner Gruppe" auf, deren Programm stark von einem Kreis von Intellektuellen um Henryk Szlajfer, dem "Forum August '80", beeinflusst worden ist und einige Unterstützung in den Industriebetrieben von Oberschlesien, Lodz, Lublin und Warschau gefunden hat.

Szlajfer und die übrigen Vertreter dieser Gruppe hielten an der Notwendigkeit einer überregionalen und nationalen gesamtwirtschaftlichen Planung unter Arbeiterkontrolle fest, vertraten zum Teil außerdem radikalere Formen des gewerkschaftlichen Kampfs, wie den sog. "aktiven Streik", durch den die Arbeiter die Produktion von unten her unter ihre Kontrolle bringen sollten. Ihre programmatischen Forderungen bildeten auf dem Kongress der Gewerkschaft die Plattform derjenigen Delegierten, die in Opposition zu dem rechten Kurs Walesas und der "Experten" standen.

Trotz der scharfen Auseinandersetzungen zwischen dem "Netz" und der "Lubliner Gruppe" vor und während des Kongresses fanden sich beide Tendenzen jedoch schließlich zur Zusammenarbeit bereit, weil ihnen bei allen Differenzen eine gemeinsame Perspektive zu Grunde lag: nicht die der Revolution, sondern die der Reform, nicht die des proletarischen Internationalismus, sondern des kleinbürgerlichen Nationalismus, der den westlichen Imperialismus und die Moskauer Bürokratie als die allmächtigen und unbesiegbaren "Machtblöcke" in der Welt und als die beiden unveränderlichen, "die geopolitische Lage Polens" bestimmenden Faktoren betrachtet und daher die Herrschaft der stalinistischen Bürokratie in Polen als gegeben und unantastbar hinnimmt.

Während das "Netz" durch die Beschränkung der Selbstverwaltung auf betriebliche Ebene die Kontrolle der Bürokratie über den Staat und alle wirtschaftlichen und politischen Machtinstrumente von vornherein akzeptierte, versprach sich die "Lubliner Gruppe" eine Arbeiterkontrolle über die Gesamtwirtschaft durch eine "zweite Kammer des Sejm" (des polnischen Parlaments), eine Art Arbeiterkammer bestehend aus Vertretern der einzelnen Arbeiterräte und Selbstverwaltungsorgane, die jedoch mit dem von der stalinistischen Bürokratie beherrschten Parlament zusammenarbeiten und Bestandteil des gesamten Regierungssystems sein sollte.

Beiden Richtungen dieser "Bewegung für Selbstverwaltung" gaben nun, sobald sie auftauchten, die Pablisten umfangreiche und kritiklose Unterstützung 65, insbesondere aber dem "Forum August '80" und Henryk Szlajfer, einem Mitglied der der Polnischen Akademie der Wissenschaften (!), der bewusst an das Programm der stalinistischen "Oktober-Linken" von 1956 anknüpfte. Wie die "Oktober-Linke" zielte Szlajfer nicht auf den Sturz der stalinistischen Bürokratie durch die Arbeiterklasse ab, sondern auf ihre "Selbstreform", die durch die Bewegung und unter dem Druck der Arbeiterselbstverwaltung in Gang gebracht werden sollte: Die Mitglieder der stalinistischen Partei sollten "in den Gewerkschaften und in den Selbstverwaltungsorganen und den Vertretungsinstanzen der aktiven Mitglieder" deren "führende Rolle" beweisen. Von ihnen und insbesondere von den Mitgliedern in den Großbetrieben werde es abhängen, "ob die Partei in der Lage sein wird, sich selbst zu reformieren". 66

Der Brief von Jakob Moneta

Die Pablisten verschafften diesen reformistischen Ideologen der "Selbstverwaltung" jedoch nicht nur ein Forum in ihrer Presse, sondern sie bestärkten die Solidarnosc-Führer auch noch ausdrücklich in diesem Kurs. Jakob Moneta schrieb nach seinem Besuch auf der Lenin-Werft, bei Fiat und den Ursus-Werken an die Vertreter der Solidarnosc folgenden Brief:

"Die Regierung würde Euch gerne einige Mitbestimmungsrechte und Mitverantwortung übertragen, was, wie Ihr zu Recht fürchtet, dazu benutzt werden könnte, Euch die Verantwortung für die Krise aufzuhalsen.... Auf der anderen Seite wird auf die Dauer niemand verstehen, dass Ihr die Regierung nur kritisiert, ohne Eure eigenen Vorschläge zu machen(!).... Wir glauben daher, dass als erstes eine Erweiterung der Arbeiterkontrolle in den Fabriken erforderlich ist.... Ein Produktionsplan muss auf betrieblicher Ebene (!) entwickelt und diskutiert werden. Nicht allein "Experten", Unternehmensdelegationen müssten diese Pläne diskutieren. Auf zentraler Ebene müssten Delegierte der Regionen und Fabriken die Prioritäten für einen zentralen Plan festlegen. Diese Diskussion sollte auch offen in Eurer Presse geführt werden, ohne die Tatsache zu verbergen, dass z.B. die Entscheidung für größere Investitionen in der Landwirtschaft oder für den Wohnungsbau, im Gesundheits- oder Ausbildungssektor für jeden impliziert, dass er z.B. länger auf ein privates Auto oder andere Güter warten müsste".67

Der politische Inhalt der Perspektiven dieses Briefes wird besonders deutlich, wenn man ihn mit dem Brief vergleicht, den die Vierte Internationale am 13. Juli 1948 an die Führung und Mitgliedschaft der jugoslawischen KP geschrieben hat und der sich mit den politischen Alternativen befasst, die es für die jugoslawische Arbeiterklasse nach dem Bruch zwischen Tito und Stalin angesichts der politischen und wirtschaftlichen Angriffe durch die Kreml-Bürokratie gab:

"Eure erste Möglichkeit besteht in der Überlegung, dass es trotz der ernsten Schläge, die Euch die Führer der russischen kommunistischen Partei versetzt haben, in der gegenwärtigen Weltlage vor allem notwendig ist, eine vollständige monolithische Einheit mit der Politik und der Ideologie der russischen Kommunistischen Partei aufrechtzuerhalten... Unserer Meinung nach wäre eine solche Entscheidung ein irreparabler und tragischer Fehler, der nicht nur Eurer eigenen Partei und Arbeiterklasse enorm schaden würde, sondern auch dem internationalen Proletariat und der internationalen kommunistischen Bewegung, vor allem den Arbeitern in der UdSSR...

Bestimmt wird auch eine zweite Möglichkeit erwogen, die im Wesentlichen darin besteht, sich in Jugoslawien zurückzuziehen, die Angriffe und die kommenden Gewalttätigkeiten und Provokationen der Kominform und ihrer Agenten abzuwehren und zu versuchen, den Sozialismus im eigenen Land aufzubauen‘, wobei Handelsbeziehungen sowohl zu den osteuropäischen als auch den imperialistischen Westmächten aufgenommen werden. Wir wollen Euch nicht verhehlen, Genossen, dass wir diesen zweiten Weg für ebenso verderblich halten wie den ersten...

Schließlich gibt es noch eine dritte Möglichkeit. Das ist der schwierigste, mit Hindernissen gespickte Weg: der wirklich kommunistische Weg für die jugoslawische Partei und das Proletariat. Er bedeutet, zu Lenins Auffassung des Klassenkampfs zurückzukehren, zu einer internationalen Strategie des Klassenkampfs. Unserer Meinung nach muss man dabei von dem Verständnis ausgehen, dass die revolutionären Kräfte in Jugoslawien nur durch die bewusste Unterstützung der Arbeitermassen in ihrem eigenen Land und weltweit stärker werden und ihre Positionen sichern können. Dabei muss man vor allem verstehen, dass die entscheidende Kraft in der Weltarena weder der Imperialismus mit seinen Mitteln und Waffen ist, noch der russische Staat mit seinem riesigen Apparat. Die entscheidende Kraft ist die gewaltige Armee der Arbeiter, Bauern und kolonialen Völker, die sich immer mehr gegen ihre Ausbeuter erheben, und die nur eine bewusste Führung brauchen, ein passendes Aktionsprogramm und eine schlagkräftige Organisation, um die große Aufgabe der sozialistischen Weltrevolution zum Abschluss zu bringen.

Wir behaupten nicht, Euch einen fertigen Plan zu liefern. Wir verstehen, dass Ihr mit außerordentlich großen Schwierigkeiten zu kämpfen habt, in einem schlecht ausgerüsteten, vom Krieg verwüsteten Land. Wir möchten Euch nur darauf hinweisen, welcher Hauptlinie diese internationale revolutionäre Politik unserer Meinung nach folgen müsste - und nur eine solche Politik wird Euch in die Lage versetzen, durchzuhalten, während ihr auf neue Kämpfe der Massen wartet, die ihr so anspornen und mit denen ihr so siegen könnt." 68

Es liegt auf der Hand, dass die Politik der Pablisten ebenso wie alle die von ihnen so gefeierten Konzepte der "Selbstverwaltung" nicht auf der Linie des kommunistischen Weges, sondern auf der Linie des " Aufbaus des Sozialismus im eigenen Land" liegen, der die Arbeiterklasse zwangsläufig nicht nur der stalinistischen Bürokratie unterordnet, sondern auch in die Abhängigkeit vom Imperialismus, seinen Konzernen und Banken führt. Letztere lauern nur darauf, über "selbstverwaltete Betriebe", über deren autonome Handelsbeziehungen und Finanzierungsbedarf endlich wieder direkt in Osteuropa oder der Sowjetunion selbst Fuß fassen, die private Kapitalakkumulation ankurbeln und die Arbeiterklasse unmittelbar ihren Profitinteressen unterwerfen zu können. Jugoslawien selbst, das zwar Modelle der betrieblichen Selbstverwaltung praktiziert hat, jedoch damals 1948 entgegen dem Rat der Vierten Internationale ebenfalls den nationalen Weg des "Aufbaus des Sozialismus im eigenen Land" eingeschlagen hat, demonstriert heute mit Massenarbeitslosigkeit, seiner gigantischen Auslandsverschuldung und Unterwerfung unter das Diktat des Internationalen Währungsfonds drastisch das Ergebnis dieser Politik.

3. "Umgruppierungsprozess" in Polen - Vorbereitungen für einen neuen Verrat

Auch heute, fünf Jahre nach der Niederschlagung der Solidarnosc durch das Militärregime Jaruzelskis arbeiten die Pablisten mit aller Kraft daran, eine erneute revolutionäre Entwicklung in der polnischen Arbeiterklasse in dieses reaktionäre Fahrwasser zu lenken. In der " Internationalen Pressekorrespondenz" (Inprekorr) Nr. 188 verkünden sie die "Gründung einer revolutionären Partei" in Polen, der "Arbeiterpartei der selbstverwalteten Republik - RPSR", die sie offensichtlich als neuen "revolutionären Kern" mit "dem revolutionären Marxismus sehr nahekommenden Positionen" betrachten und zum Mitglied des "Vereinigten Sekretariats" machen möchten.

Das Programm dieser Partei 69 zeichnet sich dadurch aus, dass es alles, aber auch alles in sich vereinigt, was in den letzten 30 Jahren von "Reformstalinisten" wie der "Oktober-Linken", von Pseudomarxisten wie Kuron und Modzelewski und von "Beratern" und "Experten" der Solidarnosc an nationalistischen und antikommunistischen Konzepten hervorgebracht und mit dem Deckmantel "marxistischer" oder "antibürokratischer" Phrasen versehen worden ist: Es beginnt mit der "nationalen Unabhängigkeit Polens" als erstem Ziel - nicht etwa mit der sozialistischen Weltrevolution; es fährt fort mit der Beschreibung der Bürokratie als herrschender Ausbeuterklasse, tritt dann natürlich für die "selbstverwaltete Republik" ein - nicht für die Diktatur des Proletariats!; und sieht die Kraft für den " Sturz der totalitären Bürokratie" in der "Zusammenarbeit und Koordination der fortschrittlichen Bewegungen, die...für ein vereintes unabhängiges Deutschland (sie!) kämpfen". Es bekennt sich schließlich zum Pazifismus und endet mit der wiederholten Betonung, dass der Weg zum Sozialismus nur über die nationale Unabhängigkeit führe.

Es besteht kein Zweifel, dass die Pablisten mit der Unterstützung dieser rechten Partei, mit diesem "Umgruppierungsprozess" einen noch größeren Verrat an der polnischen Arbeiterklasse vorbereiten: Dem reformistischen Programm der "Selbstverwaltung" und "nationalen Unabhängigkeit" soll bei den nächsten Aufständen gegen die stalinistische Bürokratie durch die Patenschaft der pablistischen "Internationale", durch "trotzkistische" Phrasen erneut Glaubwürdigkeit verliehen werden, damit wiederum die Arbeiterklasse auf seiner Grundlage der Bürokratie untergeordnet werde.

Diesem Zweck dient auch das dreibändige Werk von Winfried Wolf, in dem er keine Gelegenheit auslässt, die Schwäche der Solidarnosc, die Begrenztheit ihres spontanen Bewusstseins, den reformistischen, nationalistischen Charakter ihrer politischen Tendenzen und nicht zuletzt den starken Einfluss der katholischen Religion bei den Massen als irrelevant oder sogar als "revolutionären Fortschritt" in dem unabänderlichen, objektiven Prozess der Geschichte hinzustellen.

So preist er die "Lubliner Gruppe" und ihre Version von nationalen Reformen mittels Arbeiterräte: "die Arbeiterselbstyerwaltung und die Zentralisierung der Arbeiterräte war in dieser Situation die einzig vorwärtsweisende Perspektive. Wieder einmal war es die gesellschaftliche Praxis, die zu einem Fortschritt auf dem revolutionären Wegführte." 70

Er bringt es sogar fertig, den Vorschlag einer "Zweiten Kammer des Sejm" als oberster Instanz der Arbeiterselbstverwaltung als "eine Forderung" zu bejubeln, deren "Verwirklichung nichts anderes hieße, als die Errichtung einer entwickelten Doppelherrschaft." 71

Wolf verdreht damit einen wichtigen Begriff des wissenschaftlichen Marxismus, der vor allem an Hand der Erfahrungen und Lehren der Oktoberrevolution von 1917 entwickelt worden ist 72, um die Arbeiterklasse zynisch über den wahren Charakter des Programms ihrer reformistischen Führer und über ihre wirklichen revolutionären Aufgaben zu täuschen. Während für Marxisten die Doppelherrschaft eine entscheidende, aber instabile und nur vorübergehende Phase im Klassenkampf darstellt, während der die aufsteigende, revolutionäre Klasse schon eigene, unabhängige Machtorgane besitzt und dabei ist, die noch bestehenden Institutionen und Machtorgane des alten herrschenden Regimes zu stürzen, verleiht Wolf mit der Verwendung dieses Begriffs einem Konzept einen revolutionären Anstrich, das durch und durch reformistisch ist und nach dem die "Arbeiterkammer" nichts anderes als ein verfassungsmäßiges Druckmittel oder "Gegengewicht" gegenüber der Bürokratie darstellen soll. Seine Verwirklichung hätte nichts anderes bedeutet oder würde nichts anderes bedeuten, als dass die " Arbeitervertreter" entweder vollständig in den stalinistischen Regierungsapparat integriert werden oder ebenso demütig wie vergeblich auf die wohlwollende Anerkennung durch Regierung, Justiz und Parlament warten würden.

Der Kampf für marxistisches Bewusstsein

Um das Maß an pablistischer Verwirrung und Verfälschung des Marxismus vollzumachen, leugnet Wolf in seinen Schlussfolgerungen die wichtigste Lehre aus dem Kampf und der Niederlage der Solidarnosc, nämlich die Notwendigkeit, gegen das spontane reformistische Bewusstsein für marxistisches Bewusstsein, für das Programm der Politischen Revolution und die Ziele der Weltrevolution zu kämpfen. In seinen "10 Thesen" des Kapitels "Noch ist Polen nicht verloren" schreibt er zu der Tatsache, dass die Arbeiterklasse in Polen keine marxistische Führung besaß: " Es geht nicht um die Frage, was die revolutionären Akteure denken - entscheidend ist allein ihr Handeln." 73

Seit Bernsteins "Das Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung ist alles!" ist dies der Schlachtruf aller Opportunisten, die die Arbeiterklasse dem spontanen, bürgerlichen Bewusstsein und damit den existierenden Herrschaftsverhältnissen unterordnen. Doch um sich und seinen pablistischen Theorien den Anschein zu geben, auf dem Boden des Marxismus, des Historischen Materialismus zu stehen, schreibt Winfried Wolf, schon Karl Marx habe in seinem Werk Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte diesen Widerspruch zwischen dem Denken und Handeln von Revolutionären, zwischen dem "sozialistischen Charakter des revolutionären Prozesses" und dem religiösen und unmarxistischen Denken der Arbeiterklasse und ihrer Führer herausgearbeitet, und führt dazu das bekannte Zitat aus diesem Werk an: "...gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören die Menschen ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparolen, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichte aufzuführen." 74

Mit diesem Zitat oder besser Bruchstück eines Zitats versucht W. Wolf dann die Vorherrschaft von Religion, Nationalismus, Reformismus in der Arbeiterklasse und ihrer Führung als "historisch-materialistisch begründet", daher legitim und völlig ausreichend hinzustellen, denn "die nachweisbare und überprüfbare Entwicklungsdynamik, d.h. die objektive Bewegungsrichtung der polnischen Revolution legt Zeugnis ab für diesen proletarischen und in der Zielsetzung sozialistischen Charakter". 75

Nachdem W. Wolf eben noch eingeräumt und es ausdrücklich für irrelevant erklärt hatte, dass das Denken "der revolutionären Akteure" nichtsozialistisch, dass in ihren Köpfen keine sozialistische Zielsetzung vorhanden war, behauptet er jetzt, dass eine solche Zielsetzung vorhanden gewesen sei, allerdings nicht im Bewusstsein der Menschen, sondern in der "objektiven Bewegungsrichtung" der Revolution. Wo diese mystische, außerhalb des menschlichen Bewussseins liegende "sozialistische Zielsetzung" ihren Ursprung und Sitz hat? - W. Wolf hüllt sich darüber in Schweigen. Man kann nur vermuten, dass Winfried Wolf wie Lech Walesa an den Heiligen Geist glaubt, welcher "dem objektiven Prozess" wohl durch Vermittlung von Papst Woytyla diese "sozialistische Zielsetzung" verliehen haben muss.

Woher auch immer dieser Geist geweht haben soll - das Gewand des Historischen Materialismus, das W. Wolf seiner abstrusen Neuauflage von Pablos Konzeption "objektiver, unaufhaltsam revolutionärer Prozesse" mit dem Marx-Zitat umzuhängen versucht, beruht auf Betrug: In Wirklichkeit spricht Karl Marx in diesen ersten Absätzen seines berühmten Werkes, aus dem W. Wolf sich einen halben Satz herausgreift, nicht von revolutionären Prozessen im Allgemeinen, sondern von ganz bestimmten, nämlich bürgerlichen Revolutionen. Er erklärt, dass die Heroen, Parteien und Massen der großen Französischen Revolution in den römischen Kostümen und mit römischen Phrasen die Aufgabe ihrer Zeit, die Entfesselung und Herstellung der modernen bürgerlichenGesellschaft vollbracht hatten:

"Und ihre Gladiatoren fanden in den klassisch strengen Überlieferungen der römischen Republik die Ideale und die Kunstformen, die Selbsttäuschungen, deren sie bedurften, um den bürgerlich beschränkten Inhalt ihrer Kämpfe sich selbst zu verbergen und ihre Leidenschaft auf der Höhe der großen geschichtlichen Tragödie zu halten. So hatten auf einer andern Entwicklungsstufe, ein Jahrhundert früher, Cromwell und das englische Volk dem Alien Testament Sprache, Leidenschaften und Illusionen für ihre bürgerliche Revolution entlehnt. Als das wirkliche Ziel erreicht, als die bürgerliche Umgestaltung der englischen Gesellschaft vollbracht war, verdrängte Locke den Habakuk.

Die Totenerweckung in jenen Revolutionen diente also dazu, die neuen Kämpfe zu verherrlichen, nicht die alten zu parodieren, die gegebene Aufgabe in der Phantasie zu übertreiben, nicht vor ihrer Lösung in der Wirklichkeit zurückzuflüchten, den Geist der Revolution wiederzufinden, nicht ihr Gespenst wieder umgehen zu machen." 76

Doch dann weist er auf den "springenden Unterschied" hin, der zwischen diesen bürgerlichen und den proletarischen Revolutionen besteht und den W. Wolf durch die betrügerische Zurechtstutzung des Zitats verwischt und leugnet:

"Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus ihrer Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muss die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eignen Inhalt anzukommen." 77

Mit anderen Worten: Die proletarische Revolution des neunzehnten Jahrhunderts, die auch heute im zwanzigsten Jahrhundert in Form der sozialistischen Revolution in den kapitalistischen Ländern und der politischen Revolution in den entarteten und deformierten Arbeiterstaaten auf der Tagesordnung steht, kann nicht siegen, ohne dass sich das Proletariat durch seine politische Führung von der Vorherrschaft der Religion, bürgerlicher und nationalistischer Vorstellungen befreit und zu einem wissenschaftlichen, marxistischen Bewusstsein über den Inhalt dieser Revolution und seiner eigenen historischen Aufgaben darin gelangt.

Anmerkungen:
59 übersetzt aus Fourth International, Winter 1958, S. 63 f.
60 ebenda; zitiert auch bei Steffie Engert, Winfried Wolf; Polen - der lange Sommer der Solidarität, Frankfurt/M. 1981, Bd. 1; S. 122
61 Steffie Engert, Winfried Wolf; Polen - der lange Sommer der Solidarität, Frankfurt/M. 1981, Bd. 1; S. 122
62 ebenda; S. 123/124
63 ebenda; S. 124
64 siehe Büscher, Solidarnosc..., op. cit.; Dokument 23, S. 220 ff.
65 vgl. dazu die Publikationen der Pablisten wie z. B. Internationale Pressekorrespondenz (Inprekoo) oder Intercontinental Press
66 "Forum August `80" Für eine selbstverwaltete Gesellschaft in: Internationale Pressekorrespondenz 2/81, Frankfurt; S. 29/30. Zitiert nach Büscher, Solidarnosc..., op. cit. S. 68
67 Unveröffentlichter Brief, zitiert bei Winfried Wolf, op. cit; Bd. 111, S. 30
68 übersetzt aus Fourth International, August 1948, S. 179 ff.; zitiert nach Das Erbe, das wir verteidigen - Eine Antwort auf den Renegaten Mike Banda von David North, Teil 12 veröffentlicht in der Wochenzeitung des Bunds Sozialistischer Arbeiter, Neue Arbeiterpresse, Nr. 481, 12. September 1986,
69 siehe Internationale Pressekorrespondenz Nr. 188, Dezember 1986, S. 14/15
70 Winfried Wolf, op. cit. Bd. 111, S. 139.
71 ebenda, S. 44
72 vgl. Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Frankfurt/M. 1973; Bd. 1, S. 188 ff.
73 Winfried Wolf, op.cit. Bd. 111, S. 270.
74 MEW, Bd. 8, S. 115: zitiert bei W. Wolf, a.a. O.
75 W. Wolf, a.a.O. Hervorhebung im Original.
76 MEW, Bd. 8 S. 116
77 ebenda, S. 117.

Siehe auch:
Olivier Besancenot in Polen
(21. Mai 2009)
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