Historische Grundlagen der Partei für Soziale Gleichheit

Teil 2

Die Historischen Grundlagen der Partei für Soziale Gleichheit wurden am 23. Mai 2010 von einem Bundesparteitag der PSG nach ausführlicher Diskussion einstimmig verabschiedet. Wir veröffentlichen das Dokument in 11 Teilen. Es kann auch als Ganzes im PDF-Format heruntergeladen werden und wird demnächst als Buch erscheinen.

V. Der Zentrismus der USPD

27. In Deutschland bildete sich auf Initiative Rosa Luxemburgs noch am Abend des 4. August 1914 die Gruppe Internationale. Sie bezog in Die Internationale und den illegal verbreiteten Spartakusbriefen (daher der Name Spartakusbund) entschieden Stellung gegen den Krieg und verfügte mit Karl Liebknecht, der die Kriegskredite ablehnte, über einen Abgeordneten im Reichstag. Der erste Leitartikel von Die Internationale aus der Feder Rosa Luxemburgs begann mit den Worten: "Am 4. August 1914 hat die deutsche Sozialdemokratie politisch abgedankt, und gleichzeitig ist die sozialistische Internationale zusammengebrochen. Alle Versuche, diese Tatsache zu leugnen, zu verschleiern oder zu beschönigen, haben, gleichviel aus welchen Motiven sie hervorgehen mögen, objektiv nur die Tendenz, jene fatalen Selbsttäuschungen der sozialistischen Parteien, jene inneren Gebrechen der Bewegung, die zum Zusammenbruch geführt hatten, zu verewigen, zum bewussten Normalzustand zu erheben, die sozialistische Internationale auf die Dauer zur Fiktion, zur Heuchelei zu machen." Es folgte eine scharfe Abrechnung mit der rechte Parteimehrheit und Karl Kautsky, dem Vertreter des "marxistischen Zentrums" oder "Theoretiker des Sumpfes", wie es Luxemburg ausdrückte. [12]

28. Der von Kautsky verkörperte Zentrismus erwies sich als weit größeres Hindernis für die revolutionäre Entwicklung der Arbeiterklasse als die weitgehend diskreditierte Politik der rechten SPD-Führung. Er schwankte zwischen Opposition und Anpassung, passte sich in Worten der radikalen Stimmung der Arbeiter an, während er in der Praxis dem rechten Kurs der SPD-Führung zuneigte. Im April 1917 organisierten sich die Zentristen in der Unabhängigen SPD, nachdem zuvor mehrere Reichstagsabgeordnete aus der SPD ausgeschlossen worden waren, weil sie sich geweigert hatten, die Kriegskredite zu verlängern. Die USPD wurde von den Reichstagsabgeordneten Hugo Haase und Georg Ledebour geführt. In ihren Reihen fanden sich viele führende Köpfe der Vorkriegssozialdemokratie, wie der Revisionist Eduard Bernstein, der Ökonom und spätere Finanzminister Rudolf Hilferding und der Theoretiker Karl Kautsky. Als sich im November 1918 die Arbeiter- und Soldatenräte erhoben und den Kaiser zur Abdankung zwangen, wandte sich die USPD gegen die Errichtung einer Räterepublik und trat der Regierung des Mehrheitssozialdemokraten Friedrich Ebert bei. Während sich Ebert mit der Obersten Heeresleitung verbündete, die Räte entmachtete, Arbeiteraufstände niederschlug und die bürgerliche Ordnung rettete, diente ihm die USPD als linkes Feigenblatt.

29. Programm und Politik der USPD waren von Unentschlossenheit, Kompromissen und Halbheiten geprägt. Sie standen in krassem Gegensatz zur Stimmung der Arbeiter, die in Berlin nur zehn Tage nach dem Gründungsparteitag der USPD erstmals in einen Massenstreik gegen den Krieg traten. Die Gegnerschaft der USPD gegen den Krieg beschränkte sich auf passive Aufrufe zum Frieden. Revolutionäre Initiativen lehnte sie ab. Nach ihrem Eintritt in die Regierung Ebert charakterisierte Rosa Luxemburg die USPD mit den Worten: "Sie trottete stets im Hintertreffen der Ereignisse und der Entwicklung, nie schritt sie an ihrer Spitze. Sie hat es nie vermocht, zwischen sich und den Abhängigen einen grundsätzlichen Grenzrain zu ziehen. Jede schillernde Zweideutigkeit, die zur Verwirrung der Massen führte: Verständigungsfrieden, Völkerbund, Abrüstung, Wilson-Kultus, alle die Phrasen der bürgerlichen Demagogie, die über die nackten, schroffen Tatsachen der revolutionären Alternative während des Krieges verdunkelnde Schleier breiteten, fanden ihre eifrige Unterstützung. Die ganze Haltung der Partei pendelte hilflos um den Kardinalwiderspruch, dass sie einerseits die bürgerlichen Regierungen als die berufenen Mächte fortgesetzt zum Friedensschluss geneigt zu machen suchte, andererseits der Massenaktion des Proletariats das Wort redete. Ein getreuer Spiegel der widerspruchsvollen Praxis ist die eklektische Theorie: ein Sammelsurium radikaler Formeln mit rettungsloser Preisgabe des sozialistischen Geistes. [...] Bis zum Ausbruch der Revolution war es eine Politik von Fall zu Fall, ohne geschlossene Weltanschauung, die Vergangenheit und Zukunft der deutschen Sozialdemokratie aus einer Lichtquelle beleuchtet, die für die großen Linien der Entwicklung einen Blick gehabt hätte." [13]

30. Theoretischer Kopf der USPD war Karl Kautsky, der ihre zentristische Politik mit historischen Versatzstücken untermauerte und die russische Oktoberrevolution denunzierte. Er akzeptierte "vom Marxismus alles, ausgenommen die revolutionären Kampfmittel, ihre Propagierung und Vorbereitung, die Erziehung der Massen gerade in dieser Richtung", wie Lenin spöttisch bemerkte. [14] Im Mittelpunkt von Kautskys Angriff auf den Marxismus stand die Zurückweisung der Diktatur des Proletariats. Zu einem Zeitpunkt, an dem der Krieg den demokratischen Staat überall als brutale Form der bürgerlichen Klassenherrschaft bloßstellte, sprach Kautsky der Arbeiterklasse das Recht ab, mit revolutionären Mitteln die Macht zu erobern und ihre eigene Herrschaft zu errichten. Nach dem Zusammenbruch des offiziellen Sozialpatriotismus war der internationale Kautskyanismus zum wichtigsten Faktor geworden, auf den sich die kapitalistische Gesellschaft stützte, wie Trotzki feststellte. [15]

31. Die Novemberrevolution bestätigte das. Durch den Eintritt in die Regierung Ebert trug die USPD maßgeblich zu ihrer Niederlage bei. Die Novemberrevolution, aus der die Weimarer Republik hervorging, war, wie Trotzki schrieb, "keine demokratische Vollendung der bürgerlichen Revolution", sondern "eine von der Sozialdemokratie enthauptete proletarische Revolution: richtiger gesagt, es ist die bürgerliche Konterrevolution, die nach dem Siege über das Proletariat gezwungen ist, pseudodemokratische Formen zu bewahren." [16] Das hatte tragische Folgen. Alle gesellschaftlichen Kräfte, die 15 Jahre später Hitler an die Macht verhelfen sollten, überlebten die Revolution unbeschadet: Der preußische Großgrundbesitz, der den Bodensatz der politischen Reaktion bildete; die Industriebarone und die Finanzaristokratie, die für die expansiven deutschen Kriegsziele verantwortlich waren; die Heeresleitung, die sich zum Staat im Staat entwickelte; die Richter und Beamten, die die Demokratie ablehnten; nicht zu sprechen von der Soldateska, der die Weimarer Republik keine zivile Perspektive bieten konnte und die zum Fußvolk der Nazis wurde. Die Arbeiterklasse musste für die Politik des Zentrismus einen hohen Preis entrichten. Das ist die bittere historische Lehre aus dem Verhalten der USPD in der Novemberrevolution.

VI. Die KPD

32. Obwohl der Spartakusbund die SPD und die USPD scharf kritisierte, brach er organisatorisch nicht mit ihnen. Er bestand zwar auf seiner vollen Aktionsfreiheit, blieb aber innerhalb der SPD und schloss sich 1917 der neu gegründeten USPD an. Erst einen Monat nach der Novemberrevolution trennte er sich schließlich von der USPD und gründete am 1. Januar 1919 die Kommunistische Partei Deutschlands. Nur zwei Wochen später wurden deren bekanntesten Führer, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, von den Mörderbanden des sozialdemokratischen Reichswehrministers Gustav Noske ermordet.

33. Rosa Luxemburg rechtfertigte das Verbleiben in der SPD und der USPD mit dem Argument: "Es genügt nicht, dass eine Handvoll Leute das beste Rezept in der Tasche hat und schon weiß, wie man die Massen führen soll. Die Massen müssen geistig den Traditionen der 50-jährigen Vergangenheit entrissen, von ihnen befreit werden. Und das können sie nur im großen Prozess ständiger innerer Selbstkritik der Bewegung im Ganzen." [17] Diese Haltung unterschätzte das Ausmaß der sozialen Kluft, die sich zwischen der SPD und der USPD auf der einen und der Arbeiterklasse auf der anderen Seite aufgetan hatte. Vor dem Krieg hätte der Austritt aus der SPD - einer legalen Massenpartei, die sich offiziell zum Marxismus bekannte und unter den Arbeitern große Autorität genoss - den revolutionären Flügel von den klassenbewussten Arbeitern isoliert. Doch nach der Zustimmung zu den Kriegskrediten stellte sich die Lage anders dar. Die SPD war vollständig ins Lager der herrschenden Klasse übergegangen. Das musste sie unweigerlich in Konflikt mit der Arbeiterklasse bringen. Diesen Konflikt galt es durch das Aufzeigen einer klaren politischen und organisatorischen Alternative vorzubereiten. Hatte in Russland 1917 das Vorhandensein einer Partei, die durch den jahrelangen Kampf gegen den Opportunismus gestählt war, den Sieg der Oktoberrevolution ermöglicht, so war in Deutschland das Fehlen einer solchen Partei 1918/19 die Ursache empfindlicher proletarischer Niederlagen.

34. Aufgrund ihrer späten Gründung und des Verlusts ihrer wichtigsten Führer gestalteten sich die ersten Jahre der KPD äußerst schwierig. Es fehlte ihr an politischer und theoretischer Geschlossenheit und einem erfahrenen Kader. Die Erbitterung über den Verrat der SPD verschaffte zeitweise ultralinken, antiparlamentarischen und anarchistischen Vorstellungen Einfluss und führte im April 1920 zu einer linken Abspaltung in Form der KAPD. Im Dezember desselben Jahres brach die Mehrheit der USPD mit den rechten Führern und schloss sich der KPD an. Das machte die KPD zur Massenpartei, brachte aber auch neue politische Probleme mit sich. Zwischen 1919 und 1921 beteiligte sich die KPD an mehreren verfrühten und schlecht vorbereiteten Aufstandsversuchen. Nur fünf Tage nach ihrer Gründung unterstützte sie den so genannten Spartakusaufstand in Berlin, der blutig unterdrückt wurde. 1921 riefen KPD und KAPD in der so genannten Märzaktion gemeinsam zum Generalstreik und zum Sturz der Reichsregierung auf, nachdem diese bewaffnete Polizeieinheiten gegen Arbeiter in Mitteldeutschland eingesetzt hatte. Die folgende Niederlage kostete rund 2.000 Arbeitern das Leben.

35. Der Dritte Kongress der Kommunistischen Internationale setzte sich 1921 intensiv mit dem linken Radikalismus in der KPD und anderen Sektionen auseinander. Lenin wandte sich in der Schrift Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus gegen den "kleinbürgerlichen Revolutionarismus", der politische Kompromisse unter allen Umständen ablehnt, die Legitimität der Teilnahme an Wahlen oder am Parlament leugnet und es für unverzeihlich hält, in den reaktionären Gewerkschaften zu arbeiten. Der Kongress, so Trotzki, "stellte die Parole auf: ‚Heran an die Massen’, d.h. an die Eroberung der Macht durch die vorhergehende Eroberung der Massen in ihrem täglichen Leben und Kampf." [18] Er entwickelte ein Programm von Übergangsforderungen, die die Tagesbedürfnisse der Arbeiter mit dem Ziel der proletarischen Machteroberung verbanden, und befürwortete die Taktik der Einheitsfront. Diese Taktik bemühte sich darum, in Tageskämpfen durch praktische, gemeinsame Maßnahmen eine schlagkräftige Einheit herzustellen zwischen den reformistischen, sozialdemokratischen Organisationen und Parteien, in denen noch die große Mehrheit der Arbeiter organisiert war, und den revolutionären kommunistischen Parteien. Die Einheitsfront entsprach einem grundlegendem Bedürfnis und instinktiven Streben der Massen nach Einheit aller Arbeiter im Kampf zur Durchsetzung wichtiger Forderungen, zur Verteidigung von Löhnen und politischen Rechten und zur Abwehr faschistischer Angriffe auf die Organisationen der Arbeiterklasse. Sie bedeutete aber keinen Verzicht auf Kritik am politischen Gegner innerhalb der Arbeiterorganisationen. Sie schuf im Gegenteil die Voraussetzungen, unter denen sich die Massen aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen von der Tatkraft der Kommunisten und der Nutzlosigkeit der Sozialdemokratie überzeugen konnten.

36. Der auf dem Dritten Kongress vollzogene Kurswechsel stärkte und festigte die KPD. Doch 1923 änderte sich die politische Lage dramatisch. Die Besetzung des Ruhrgebiets durch Frankreich löste eine politische und ökonomische Krise aus, die in eine außergewöhnliche revolutionäre Situation mündete. Der Zusammenbruch der deutschen Währung führte zur Verelendung und Radikalisierung breiter Arbeiter- und Mittelschichten. Die SPD verlor rasch an Einfluss, während die Unterstützung für die KPD wuchs. Auf der Rechten erhielten faschistische Gruppen Zulauf. Im August zwang ein von der KPD initiierter Generalstreik die rechte Regierung des Großindustriellen Wilhelm Cuno zum Rücktritt. Der DVU-Politiker Gustav Stresemann bildete eine neue Regierung mit Beteiligung der SPD. Sie übergab die Exekutivgewalt an General von Seeckt, den Oberbefehlshaber der Reichswehr, und beseitigte mithilfe eines Ermächtigungsgesetzes die sozialen Errungenschaften der Novemberrevolution einschließlich des Acht-Stunden-Tags. Das ganze Land polarisierte sich. In Sachsen und Thüringen näherten sich linke SPD-Regierungen der KPD an, während in Bayern faschistische Kräfte im Bündnis mit Militärs einen Staatstreich gegen die Reichsregierung vorbereiteten.

37. Die KPD brauchte lange, bis sie die revolutionäre Lage erkannte. Erst ab August unternahm sie in enger Zusammenarbeit mit der Komintern ernsthafte revolutionäre Vorbereitungen. Doch am 21. Oktober sagte die Parteiführung unter dem Vorsitzenden Heinrich Brandler einen vorbereiteten Aufstand in letzter Sekunde wieder ab, weil linke SPD-Delegierte auf einem Betriebsrätekongress in Chemnitz ihre Zustimmung verweigerten. Statt in einer Revolution endete der deutsche Oktober in einem politischen Fiasko. In Hamburg traf die Entscheidung der Parteiführung, den Kampf um die Macht wieder abzublasen, zu spät ein, der Aufstand brach trotzdem aus, blieb isoliert und wurde gewaltsam niedergeschlagen. In Sachsen und Thüringen setzte die Reichswehr die linken Regierungen ab. Die KPD selbst wurde verboten.

38. Trotzki widmete den Lehren aus dem deutschen Oktober große Aufmerksamkeit. Im Gegensatz zu Stalin und Sinowjew, die die Niederlage auf die angebliche Unreife der Situation zurückführten, bezeichnete er sie als "klassisches Beispiel einer verpassten revolutionären Situation", deren Ursachen "ausschließlich in der Taktik und nicht in den objektiven Umständen" lägen. Schon die russische Oktoberrevolution habe gezeigt, dass dem subjektiven Faktor, der Partei, in einer objektiv revolutionären Situation die ausschlaggebende Rolle zufalle. Dasselbe habe nun der deutsche Oktober auf negative Weise bewiesen.

39. "Mit Beginn der Ruhrbesetzung", bilanzierte Trotzki, "hätte die Kommunistische Partei unbedingt einen festen und entschlossenen Kurs in Richtung Machtergreifung einschlagen müssen. Nur eine mutige taktische Wende hätte das deutsche Proletariat im Kampf um die Macht vereinen können. Haben wir auf dem Dritten und teilweise auf dem Vierten Kongress den deutschen Genossen gesagt: ‚Ihr werdet die Massen nur gewinnen, wenn ihr eine führende Rolle in ihrem Kampf um Übergangsforderungen spielt’, so stellte sich die Frage Mitte 1923 anders: Nach allem, was das deutsche Proletariat in den letzten Jahren durchgemacht hatte, konnte es nur in die entscheidende Schlacht geführt werden, wenn es überzeugt war, dass die Kommunistische Partei diesmal aufs Ganze gehen würde (d.h. dass es nicht um diese oder jene Teilaufgabe, sondern um die Grundaufgabe geht), dass sie bereit sei, in die Schlacht zu ziehen, und fähig, den Sieg zu erringen. Aber die deutsche Kommunistische Partei vollzog diese Wende ohne das nötige Vertrauen und mit extremer Verspätung. Trotz der heftigen gegenseitigen Angriffe legten Rechte wie Linke bis zum September-Oktober eine ziemlich fatalistische Haltung gegenüber der Entwicklung der Revolution an den Tag. Während die gesamte objektive Situation von der Partei einen entscheidenden Schlag verlangte, unternahm die Partei nichts, um die Revolution zu organisieren, sondern wartete darauf." [19]

40. In der Broschüre Die Lehren des Oktober unterstrich Trotzki, dass die Führung einer revolutionären Partei imstande sein müsse, abrupte Veränderungen der objektiven Lage rechtzeitig zu erkennen und die Partei neu zu orientieren. Nach den bisherigen Erfahrungen, schrieb er, könne "man es als ein fast allgültiges Gesetz ansehen, dass beim Übergang von der revolutionären Vorbereitungsarbeit zum unmittelbaren Kampf um die Machtergreifung eine Parteikrise ausbricht". Eine taktische Neuorientierung bedeute immer einen Bruch mit den bisherigen Methoden und Gepflogenheiten. "Kommt der Umsturz sehr plötzlich und hat die vorhergehende Periode viele konservative Elemente in den führenden Organen der Partei angesammelt, so wird sie sich im entscheidenden Moment als unfähig erweisen, ihre Führerrolle zu erfüllen, zu der sie sich im Laufe vieler Jahre und Jahrzehnte vorbereitet hat. ... Die revolutionäre Partei befindet sich unter dem Druck fremder politischer Kräfte; in jeder Periode ihres Bestehens entwickelt sie andere Mittel, diesen Kräften zu widerstehen und sich ihnen entgegenzusetzen. Bei einer taktischen Neuorientierung und den damit verbundenen inneren Reibungen schwindet die Kraft, sich den zerstörenden äußeren Kräften zu widersetzen. Es besteht daher die Gefahr, dass innere Umgestaltungen der Partei, die im Hinblick auf die Notwendigkeit der taktischen Neuorientierung entstehen, über das Ziel hinauswachsen und verschiedenen Klassentendenzen als Stützpunkt dienen. Einfacher ausgedrückt: eine Partei, die mit den historischen Aufgaben ihrer Klasse nicht Schritt hält, läuft Gefahr, zum indirekten Werkzeug anderer Klassen zu werden oder wird es auch tatsächlich." [20]

VII. Der Stalinismus und die Linke Opposition

41. Die Niederlage der deutschen Revolution hatte unmittelbare Rückwirkungen auf die Sowjetunion. Sie stärkte die reaktionären Kräfte, aus denen schließlich die stalinistische Diktatur erwuchs. Die wirtschaftliche Rückständigkeit und die internationale Isolation des ersten Arbeiterstaats führten zur Herausbildung einer Bürokratie in Staat und Partei, die in wachsendem Maße ihre eigenen Interessen geltend machte. Die Sowjetregierung hatte mangels geschulter Kräfte viele ehemalige zaristische Beamte in die Verwaltung geholt und 1921 im Rahmen der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) Zugeständnisse an kapitalistische Elemente gemacht, um die Wirtschaft zu beleben und die verheerenden Folgen von Krieg und Bürgerkrieg zu überwinden. Diese konservativen Elemente übten wachsenden Einfluss auf die Kommunistische Partei aus, die durch den Bürgerkrieg erschöpft war. Sie begegneten dem Programm der sozialistischen Weltrevolution mit Misstrauen und waren bemüht, ihre eigene gesellschaftliche Stellung zu konsolidieren.

42. Die deutsche Niederlage gab diesen konservativen Strömungen Auftrieb. Sie zerschlug die Hoffnung, die Sowjetwirtschaft werde in kurzer Zeit Unterstützung durch ein fortgeschrittenes Industrieland bekommen. Die Sowjetunion blieb isoliert und das Versagen der KPD schien all jene zu bestätigen, die das Schicksal der Sowjetunion nicht mit den internationalen Erfolgen der kommunistischen Bewegung verknüpfen wollten, sondern auf die eigenen nationalen Kräfte setzten. "Hätte Ende des Jahres 1923 die deutsche Revolution gesiegt", fasste Trotzki die Auswirkungen der deutschen Niederlage zusammen, "so wäre die Diktatur des Proletariats in Russland ohne innere Erschütterungen gereinigt und gefestigt worden. Aber die deutsche Revolution endete mit einer der schrecklichsten Kapitulationen der Geschichte der Arbeiterklasse. Die Niederlage der deutschen Revolution gab allen reaktionären Prozessen in der Sowjetrepublik mächtigen Auftrieb. So kam es in der Partei zum Kampf gegen die ‚permanente Revolution’ und den ‚Trotzkismus’, zur Bildung der Theorie vom Sozialismus in einem Lande, usw." [21]

43. Nur wenige Wochen nach der deutschen Niederlage verkündeten Stalin und Bucharin die Theorie vom "Sozialismus in einem Land", die die materiellen Interessen der Bürokratie zum Ausdruck brachte und zum Dreh- und Angelpunkt ihres Angriffs auf den Marxismus wurde. Sie bedeutete die völlige Abkehr von der internationalen Perspektive, die die Oktoberrevolution angeleitet hatte, und wies die strategischen Schlussfolgerungen zurück, die Lenin, Trotzki und Luxemburg aus dem Zusammenbruch der Zweiten Internationale gezogen hatten. Ihr Ursprung ging auf den rechten deutschen Sozialdemokraten Georg von Vollmar zurück, der schon 1878 einen "isolierten sozialistischen Staat" propagiert hatte.

44. Trotzki fasste den Gegensatz zwischen der internationalen Perspektive des Marxismus und der nationalen Perspektive Stalins mit den Worten zusammen: "Der Marxismus geht von der Weltwirtschaft aus nicht als einer Summe nationaler Teile, sondern als einer gewaltigen, selbständigen Realität, die durch die internationale Arbeitsteilung und den Weltmarkt geschaffen wurde und in der gegenwärtigen Epoche über die nationalen Märkte herrscht. Die Produktivkräfte der kapitalistischen Gesellschaft sind längst über die nationalen Grenzen hinausgewachsen. Der imperialistische Krieg war eine der Äußerungen dieser Tatsache. Die sozialistische Gesellschaft muss in produktionstechnischer Hinsicht im Vergleich zu der kapitalistischen Gesellschaft ein höheres Stadium darstellen. Sich das Ziel zu stecken, eine national isolierte sozialistische Gesellschaft aufzubauen, bedeutet, trotz aller vorübergehenden Erfolge, die Produktivkräfte, sogar im Vergleich zum Kapitalismus, zurückzerren zu wollen. Der Versuch, unabhängig von den geographischen, kulturellen und historischen Bedingungen der Entwicklung des Landes, das einen Teil der Weltgesamtheit darstellt, eine in sich selbst abgeschlossene Proportionalität aller Wirtschaftszweige in nationalem Rahmen zu verwirklichen, bedeutet, einer reaktionären Utopie nachzujagen." [22]

45. Die Perspektive des "Sozialismus in einem Land" beeinflusste alle Aspekte der sowjetischen Innen- und Außenpolitik. In der Innenpolitik raubte sie der Führung den politischen Kompass. Die Stalinfraktion verfolgte einen empirischen Zickzackkurs, der die wirtschaftlichen Widersprüche und sozialen Gegensätze verschärfte und das Land mehrmals an den Rand des Bürgerkriegs trieb. Um ihre Stellung gegenüber der Arbeiterklasse zu stärken, förderte sie anfangs Großbauern und Spekulanten. Als diese erstarkten und ihre eigene Herrschaft bedrohten, vollzog sie einen panischen Linksschwenk, kollektivierte gewaltsam die Landwirtschaft und schlug ein Industrialisierungstempo ein, das die Kräfte der Arbeiter überforderte. Konsequent war sie nur in ihrem Vorgehen gegen die Linke Opposition, die sie nach jedem Schwenk heftiger verfolgte.

46. In der Außenpolitik opferte das stalinistische Regime die internationale revolutionäre Orientierung dem nationalen Interesse. Es verwandelte die Kommunistische Internationale in ein Werkzeug der sowjetischen Außenpolitik und benutzte deren Sektionen für seine Manöver mit bürgerlichen Regierungen. In Ländern, von deren Regierung die Sowjetunion Unterstützung erhoffte, schlugen die Kommunistischen Parteien einen Kurs der Klassenzusammenarbeit ein, der sie schließlich in Instrumente der Konterrevolution verwandelte. Die ersten Folgen dieser Politik waren die Niederlage des britischen Generalstreiks im Mai 1926 und der chinesischen Revolution im April 1927. In Großbritannien hatte sich die Kommunistische Partei unkritisch hinter den Gewerkschaftsdachverband TUC gestellt, zu dem Stalin freundschaftliche Beziehungen anstrebte. Als der TUC dem Generalstreik in den Rücken fiel - was sich leicht voraussehen ließ -, war die Arbeiterklasse völlig unvorbereitet. In China unterstützte die Kommunistische Partei die bürgerliche Kuomintang, die sich 1927 gegen die Kommunisten wandte und die Partei in einem Massaker weitgehend auslöschte.

47. Der Kampf zwischen der Stalinfraktion und der Linken Opposition beherrschte ab 1923 das innere Leben der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und der Kommunistischen Internationale. Trotzki und seine Anhänger kämpften für eine Korrektur ihres politischen Kurses. Sie schlugen Maßnahmen gegen die Bürokratisierung und zur Wiederherstellung der innerparteilichen Demokratie vor. Sie setzten sich für eine Wirtschaftspolitik ein, die die Arbeiterklasse und die armen Bauern gegen die Profiteure der NEP und die besser gestellten Bauern stärkte. Sie zogen die Lehren aus der deutschen Niederlage und liefen Sturm gegen die falsche Politik der Komintern in Großbritannien und China. Im Kern drehte sich der Konflikt um zwei unversöhnliche Perspektiven, die der permanenten Revolution und die des Sozialismus in einem Land. Die Linke Opposition beharrte darauf, dass das Schicksal des Arbeiterstaates und seine Weiterentwicklung zum Sozialismus untrennbar mit der Entwicklung der sozialistischen Weltrevolution verbunden seien. Die Stalinisten wollten auf der Grundlage der russischen Ressourcen eine national isolierte sozialistische Gesellschaft aufbauen.

48. Die Analysen, Voraussagen und Warnungen der Linken Opposition wurden in der Praxis regelmäßig bestätigt. In ihren Reihen fanden sich viele führende Parteimitglieder, die in der Oktoberrevolution eine herausragende Rolle gespielt hatten. 1926 bildete sie gemeinsam mit den Anhängern Sinowjews und Kamenews für einige Zeit die Vereinigte Opposition. Nun stand ein großer Teil von Lenins Parteiführung (einschließlich seiner Frau Krupskaja) in Opposition zur Stalinfraktion. Doch die internationalen Niederlagen, die sie teilweise selbst verschuldet hatte, stärkten die Bürokratie. "Sie siegte über all diese Feinde - die Opposition, die Partei und Lenin - nicht mit Ideen und Argumenten, sondern durch ihr eigenes soziales Schwergewicht. Das bleierne Hinterteil der Bürokratie wog schwerer als der Kopf der Revolution", [23] fasste Trotzki den Grund für den Sieg der Bürokratie zusammen. Die stalinistische Bürokratie ging mit Verleumdung, Geschichtsfälschung, Parteiausschluss, Verbannung, Verfolgung und schließlich mit Hinrichtungskommandos gegen ihre Gegner vor. Trotzki selbst wurde 1926 aus dem Politbüro und 1927 aus der Partei ausgeschlossen, 1928 nach Kasachstan verbannt, 1929 aus dem Land verwiesen und 1940 ermordet.

49. Die Linke Opposition fand Unterstützung in den Kommunistischen Parteien Europas und Chinas. 1928 brachte James P. Cannon Trotzkis Kritik des Programmentwurfs der Kommunistischen Internationale in die USA und legte damit den Grundstein für die amerikanische trotzkistische Bewegung. [24] In einem langen politischen und ideologischen Klärungsprozess entstanden schließlich die Internationale Linke Opposition und später die Vierte Internationale. Trotzki widmete nach seiner Ausweisung aus der Sowjetunion einen großen Teil seiner Energie dieser Aufgabe.

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Anmerkungen

12) Rosa Luxemburg, Der Wiederaufbau der Internationale, in: Gesammelte Werke, Band 4, Berlin 1987, S. 20

13) Rosa Luxemburg, Parteitag der Unabhängigen SP, in: ebd., S.423-424

14) W.I. Lenin, Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, Berlin 1990, S. 91

15) Leo Trotzki, Terrorismus und Kommunismus, Berlin 1990, S. 13-14

16) Leo Trotzki, Die permanente Revolution, Essen 1993, S. 58

17) Rosa Luxemburg, Rückblick auf die Gothaer Konferenz, in: Gesammelte Werke, Band 4, S. 274

18) Leo Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, S. 100

19) Leon Trotsky, The First Five Years of the Communist International, London 1973, S. 2-3

20) Leo Trotzki, Die Lehren des Oktober, Dortmund 1978, S. 17-18

21) LeoTrotzki, Die Verteidigung der Sowjetrepublik und die Opposition, in: Schriften 1.1,, Hamburg 1988, S. 95

22) Leo Trotzki, Die permanente Revolution, S. 39

23) LeoTrotzki, Die verratene Revolution, S. 141

24) Veröffentlicht in: Leo Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin

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