Ein Beitrag zum Thema: Was war die DDR?

Leserbrief vom 7. Oktober 2010

Euer Artikel hat mich an die Zeit erinnert, als ich 1987, kurz vor der Wiedervereinigung und dem „Zerfall des Kommunismus", mit Ostdeutschen zusammenarbeitete.

Die Begleitumstände sind recht interessant. Ich arbeitete damals als Fischereispezialist der National Marine Fisheries Service (NMFS), die zur US-Behörde für Wetter- und Ozeanografie (NOAA) gehört. Wir mussten den ausländischen Fischfang in amerikanischen Atlantikgewässern kontrollieren. Auch wurde ich auf mehrere kommerzielle amerikanische Fischereiboote im Pazifik geschickt. Diese Schiffe arbeiten wochen- oder monatelang auf hoher See, ohne einen Hafen anzulaufen oder Nachschub zu bekommen. Wie Samuel Johnson schrieb: „Das Leben an Bord ist wie im Gefängnis" – nur dass man dabei noch seekrank werden kann.

Diese Fischerboote waren Trawler, Netzschlepper und Robbenfänger aus den verschiedensten Ländern: Japan, der Sowjetunion, Holland, Spanien, Polen, Italien und Ostdeutschland (DDR). Die meisten waren so genannte Fabrikschiffe. Ich kann mich an ihre Tonnage nicht genau erinnern, aber die meisten waren wohl 45 bis 75 Meter lang und hatten eine große Crew von zwanzig bis sechzig Leuten an Bord. Auf jedem Schiff wurden Tausende Tonnen Fisch verarbeitet und konserviert.

Ich kann hier nicht auf die ganzen Arbeitsbedingungen auf diesen Schiffen eingehen, doch will ich ein paar Bemerkungen über die medizinische Versorgung der Crew machen, besonders was die DDR-Schiffe betraf.

In den engen Räumen dieser Kähne fing man sich alle Arten von Infektionen ein; es konnte gar nicht anders sein. Die Mannschaft hatte weder Heilsalben gegen Pilzinfektionen noch Antibiotika. Auf den amerikanischen Schiffen gab es keinen Schiffsarzt oder Mannschaftssanitäter, um medizinische Notfälle oder akute chronische Krankheiten zu behandeln – jedenfalls nicht auf den Schiffen, auf denen ich war. Für solche Extravaganzen hatten die Reeder kein Geld. Ich selbst hatte einen Erstehilfekurs gemacht, und ein paar andere auch. Das war alles.

Einmal bekam ich nur einen Tag, nachdem wir in See gestochen waren, eine akute Atemwegserkrankung (beim Einschiffen hatte ich noch keine Symptome gehabt). Der bösartige Erreger breitete sich wie eine Seuche in der ganzen Crew aus. Sehr wahrscheinlich war es eine bakterielle Infektion: Antibiotika wurden nicht ausgeteilt.

Ein andermal hatte ein Schiffsjunge einen Abszess am Zahn und litt wochenlang ganz schrecklich. Der Kommentar des Kapitäns war: „Pech gehabt! Er hätte darauf achten müssen, ehe er an Bord ging." Wir fischten zwei Monate lang tausend Meilen von der Küste entfernt.

Als ich auf einem gewaltigen holländischen Trawler arbeitete, hatte ich eine schmerzhafte Entzündung in den Beinen, die höllisch brannte. Nach einigen Tagen konnte ich kaum mehr gehen. Aufgrund meines Erstehilfekurses vermutete ich, Karbunkel zu haben (ich hatte Recht). Der Steuermann, der für medizinische Beschwerden zuständig war, konnte mir nichts geben, und die paar Tetrazyklintabletten, die ich bei mir hatte, nützten nichts. Dabei haben gerade die Holländer (wie die Japaner) besonders moderne und ausgeklügelte Fischereitechniken und Fischverarbeitungsanlagen an Bord. Eine Crew von fünfzehn Mann kann einen Trawler in zwei Wochen mit 25.000 Tonnen Makrelen füllen. Aber die Seeleute leiden an Krankheiten, die leicht zu kurieren wären.

Ein spanischer Kutter aus Galizien war noch schlimmer, viel schlimmer. Die Crew war unterernährt und eine Staphylokokken-Infektion ging um und wurde nicht behandelt. Die Männer badeten im Salzwasser, was nicht wirklich half. Die Crew drohte, das Weihnachts-Dinner zu boykottieren. Da kam der Kapitän in die Kantine herunter und begann, herumzuschreien. Es gelang ihm, die Männer so unter Druck zu setzen und einzuschüchtern, dass sie still waren, aber es roch nach Meuterei. Kein einziges Mannschaftsmitglied kroch ihm hinten rein. Die US-Behörde für Handel und die NMFS, die diese Fischereioperationen eigentlich hätten kontrollieren müssen, kümmerten sich überhaupt nicht um die Gesundheit der Seeleute, die unter internationalen Flaggen amerikanische Gewässer befuhren.

Das bringt mich auf die Schiffe der Deutschen Demokratischen Republik, die in den letzten Jahren der stalinistischen Ära aufkreuzten. Kurz nachdem ich an Bord eines solchen Schiffes gekommen war, wurde ich dem Schiffsarzt vorgestellt. Ich war überrascht und verwirrt. Ich erfuhr, dass dieser Arzt Dienst für die kleine Flotte der DDR-Fischerboote tat. Er untersuchte die Leute routinemäßig und behandelte auch ihre Zähne. Er war außerdem dafür ausgebildet, traumatische Verletzungen zu stabilisieren (die auf solchen Schiffen nicht selten vorkommen), und er konnte Blinddarmoperationen durchführen. Ich vermute, dass auch polnische und sowjetische Schiffe solche Ärzte hatten, aber das habe ich nie selbst erfahren.

Hier, auf einem ostdeutschen Schiff, konnte ich einen Arzt konsultieren, ich musste es nur sagen. Und das zu einer Zeit, als die Reagan/Bush-Regierungen sich über das „Reich des Bösen" ausließen. Meine amerikanischen Kollegen freuten sich immer, wenn sie diesen Schiffen zugeteilt wurden.

Dies soll keine Unterstützung eines sowjetischen Regimes sein, aber die Probleme in der DDR hatten nichts mit ihrer sensiblen und menschlichen Krankenpflege zu tun. Sie scheiterten wegen der „Festung Stalin", die den internationalen Sozialismus und die Mobilisierung der Arbeiterklasse aufgegeben hatte.

Hier in den Vereinigten Staaten haben wir das System, das Bedingungen wie auf jenem spanischen Schiff hervorbringt. Wir alle sind Schiffsjungen auf der USS Obama.

Danke, Peter

RR.

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