Leo Trotzkis Analyse der aufstrebenden globalen Rolle des US-Kapitalismus

Die WSWS organisierte auf der 42. Jahrestagung der Vereinigung für slawische, osteuropäische und eurasische Studien ein Forum zum Thema “Das kulturelle, ökonomische und geostrategische Denken Leo Trotzkis: Eine rückschauende Analyse siebzig Jahre nach seiner Ermordung“. Der Kongress fand vom 18. bis zum 21. November in Los Angeles statt. Etwa 1400 Historiker, Politik- und Literaturwissenschaftler legten Arbeiten über ein weites Themenfeld vor.

 

Die erste Arbeit von David North, dem Vorsitzenden derInternationalen WSWS-Redaktion, wurde am 27. November veröffentlicht. Die zweite Arbeit von Nick Beams, dem nationalen Sekretär der Socialist Equality Party (Australien) und Mitglied der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site wird hiermit heute vorgelegt. Mehring Books präsentierte seine Literatur parallel dazu in der Ausstellungshalle.

Trotzkis Studium und seine Analyse der Vereinigten Staaten und ihrer globalen Vorherrschaft sind, wie sein gesamtes theoretisches Werk, untrennbar mit der Entwicklung der Perspektive der sozialistischen Weltrevolution verbunden.

Trotzki sah die Russische Revolution vor allem als Startschuss für die Weltrevolution. Seine Theorie der Permanenten Revolution von 1905, untersuchte die Probleme, vor denen die marxistische Bewegung in Russland stand, auf der Grundlage einer Analyse der wirtschaftlichen und politischen Widersprüche des Weltkapitalismus.

David North, der Redaktionsvorsitzende der World Socialist Web Site, stellte fest: „Trotzkis Haltung bedeutete einen erstaunlichen theoretischen Durchbruch. So wie Einsteins Relativitätstheorie – ein weiteres Geschenk des Jahres 1905 an die Menschheit – den konzeptionellen Rahmen, in dem der Mensch das Universum betrachtete, grundsätzlich und unwiderruflich veränderte und Mittel und Wege eröffnete, um Probleme anzugehen, auf die im starren Korsett der Newton’schen Physik keine Antworten gefunden werden konnten, so veränderte Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution die analytische Perspektive, von der aus revolutionäre Prozesse gesehen wurden, grundlegend. Vor 1905 war die Entwicklung von Revolutionen als ein Fortschreiten nationaler Ereignisse gesehen worden, deren Ausgang durch die Logik innerer sozio-ökonomischer Strukturen und Beziehungen bestimmt wurde. Trotzki schlug einen anderen Denkansatz vor: die Revolution in der modernen Epoche zu begreifen als einen im Wesentlichen welthistorischen Prozess gesellschaftlicher Umwandlung von der Klassengesellschaft, politisch in den Nationalstaaten verwurzelt, zu einer klassenlosen Gesellschaft, die sich auf der Grundlage einer global integrierten Wirtschaft und einer international vereinten Menschheit entwickelt.“[1]

Die Theorie der Permanenten Revolution erwies sich als die strategische Schlüsselkonzeption, die der bolschewistischen Partei den Weg eröffnete, den revolutionären Aufstand der russischen Arbeiterklasse, der Anfang 1917 ausbrach, anzuführen und die politische Macht zu erobern.

Die russische Revolution war der Höhepunkt einer internationalen Bewegung, die in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg begann, gegen Ende des Krieges wieder aufflammte und dann nach dem Oktober 1917 an Tiefe und Breite gewann.

Wie von den Bolschewisten erwartet, brachen nach der Revolution in Russland revolutionäre Kämpfe aus, wurden aber unterdrückt. Dies war nicht das Ergebnis ungünstiger Umstände, sondern ergab sich aus der Tatsache, dass es keine Partei vergleichbar den Bolschewisten gab, die den Kampf um die Macht hätte führen und organisieren können.

Später schrieb Trotzki: “Erst als die Nachkriegsgärung in den Massen nachließ, begannen die kommunistischen Parteien, Form anzunehmen, und das auch nur in groben Zügen.“[2]

Mit dem Nachlassen des revolutionären Nachkriegsaufschwungs, vor allem durch die Niederlage der Märzaktion in Deutschland gekennzeichnet, orientierte sich der Dritte Kongress der Kommunistischen Internationale neu. Bevor sie den Kampf um die Macht aufnahmen, mussten die jungen kommunistischen Parteien die Massen durch die Taktik der Einheitsfront und den Kampf für Übergangsforderungen gewinnen.

Die Besetzung des Ruhrgebiets im Januar 1923 durch Frankreich und die folgende wirtschaftliche und politische Krise stellte die Frage der Machteroberung in Deutschland einmal mehr auf die Tagesordnung. Aber die KPD versäumte es, ihre Arbeit an der neuen Situation zu orientieren. Obwohl bereits ein Termin für den revolutionären Kampf um die Macht vereinbart war, sagte die Führung ihn im letzten Moment ab. Wie der Führer der KPD, Heinrich Brandler, später erklärte, war er „nicht gegen die Vorbereitungen für den Aufstand von 1923“, „sah die Situation aber nicht als akut revolutionär an“.[3] Das Schwanken der Führung in der Spitze der KPD ließ den deutschen Oktober in einem politischen Fiasko enden.

Das Scheitern der deutschen Revolution eröffnete eine Periode kapitalistischer Stabilisierung im Nachkriegseuropa, bei der die Vereinigten Staaten die führende wirtschaftliche und politische Rolle spielten. 1924 stabilisierte der Dawes-Plan die deutsche Währung und Wirtschaft durch ein deflationäres Programm und die Bereitstellung von hohen Krediten durch die USA. Die Führer der europäischen kapitalistischen Mächte wurden dadurch mit einer neuen Wirklichkeit konfrontiert: der gewaltigen Verschiebung wirtschaftlicher und damit politischer Macht, die sich in dem Jahrzehnt seit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges ergeben hatte, zur anderen Seite des Atlantiks.

Trotzki begann sofort, die Bedeutung dieses neuen Faktors in der Weltwirtschaft und der Weltpolitik zu studieren.

Sein Gespür für die Bedeutung der USA war durch die kurze Periode, die er in den ersten Monaten des Jahres 1917 in New York verbracht hatte, geschärft worden. Wie viele andere Besucher jener großen und für das moderne Zeitalter so beispielhaften Metropole war auch er beeindruckt von der Dynamik und der Kraft der Wirtschaft, die sie hervorgebracht hatte. Später schrieb er, er habe für einen kurzen Moment „in jene Schmiede hineinblicken“ können, „in der das Schicksal der Menschheit geschmiedet wird.“[4]

Der Aufstieg der Vereinigten Staaten warf eine ganze Reihe grundsätzlicher Fragen auf. Was bedeutete er für die wirtschaftliche und politische Ordnung Europas und für die Beziehungen zwischen den europäischen Staaten? Zunächst nahm die amerikanische Intervention die Form der Aussöhnung an – die Bereitstellung von Krediten zur Stabilisierung der deutschen Wirtschaft und zur Wiederherstellung des politischen Gleichgewichtes – aber welche Formen würde die Intervention langfristig annehmen? Was waren die Triebkräfte dieser Verlagerung und wo würden sie hinführen? Was bedeutete das offensichtliche wirtschaftliche Wachstum der Vereinigten Staaten für die Perspektive der sozialistischen Weltrevolution? Und schließlich die wichtigste strategische Frage: Bedeuteten der Aufstieg der USA und ihre wirtschaftliche Dynamik, dass die Russische Revolution voreilig gewesen war?

Lassen Sie mich, bevor ich mich diesen Fragen widme, etwas Allgemeines zu Trotzkis Methode der Analyse sagen – einer Methode, die seinen Denkansatz im Vergleich zu allen anderen Marxisten seiner Zeit am ausgeprägtesten kennzeichnet und die ihn für die gegenwärtige historische Epoche so maßgeblich macht.

Trotzki gründete seine geopolitische Analyse auf eine Untersuchung des Widerspruchs zwischen der Weltwirtschaft – der globalen Entwicklung der Produktivkräfte – und dem Nationalstaaten-System des Kapitalismus. Für Trotzki waren die Zusammenstöße zwischen den verschiedenen imperialistischen Mächten nicht einfach das Ergebnis gegensätzlicher wirtschaftlicher und politischer Interessen der verschiedenen Gegner – die er natürlich ausführlich beschrieb - sondern vor allem der Ausdruck von etwas weitaus Grundsätzlicherem.

„Der Imperialismus“, so schrieb er während des ersten Weltkrieges, „repräsentiert den räuberischen kapitalistischen Ausdruck einer progressiven Tendenz in der wirtschaftlichen Entwicklung – die menschliche Wirtschaft im Weltmaßstab zu organisieren, befreit von den einengenden Fesseln der Nation und des Staates.“[5] Genau hierin liege die objektive Notwendigkeit für den Sozialismus, da er den einzigen Ausweg aus dem Widerspruch darstelle, der nun die Gesamtheit der menschlichen Kultur bedrohe.

Trotzkis nahm seine Analyse des Aufstiegs der Vereinigten Staaten und ihrer globalen Rolle von diesem Standpunkt aus vor. In einer Rede, die er 1922 hielt, als seine Aufmerksamkeit sich auf die Veränderungen in der Nachkriegssituation zu richten begann, bemerkte er, dass die Kommunistische Internationale erst in jüngster Zeit begonnen hatte, zwischen den USA und Europa zu differenzieren. Während man zu Recht behauptete, der europäische Kapitalismus verrotte, konnte dasselbe nicht von den Vereinigten Staaten gesagt werden. In der Tat, der amerikanische Kapitalismus blühte. Aber diese Beobachtung erschöpfte die Frage nicht… Sie war nur der Ausgangspunkt der Analyse. Die Frage hieß: Was bedeutet der Aufstieg Amerikas für Europa und für die Welt?

Trotzki nahm die Frage in einer wichtigen Rede am 28. Juli 1924 mit dem Titel „Perspektiven der Weltentwicklung“ erneut auf, die er am Vorabend der Restabilisierung Deutschlands durch den Dawes-Plan hielt. Er begann damit, dass er auf die enorme Überlegenheit der Vereinigten Staaten hinwies, eine Überlegenheit gegenüber den Rivalen, die sogar die Großbritanniens in seiner Blütezeit übertraf. Dies, so betonte er, war der zentrale Faktor in der europäischen und der Weltpolitik. Ohne dies zu erkennen, konnte gar nichts verstanden werden.

Amerikas aktiver Eintritt in die globale Politik, der 1898 begann, war das Ergebnis der gewaltigen wirtschaftlichen Transformation, die dem Ende des Bürgerkriegs und dem Triumph des industriellen Nordens folgte. Am Ende des Jahrhunderts war der dynamische amerikanische Kapitalismus aber über den Rahmen des amerikanischen Kontinents hinausgewachsen. Als der erste Weltkrieg ausbrach, so erklärte Trotzki, waren die Amerikaner zumindest eine Zeitlang damit zufrieden, das Blut der europäischen „Narren“ in Dollars zu verwandeln. Als sich aber die Möglichkeit eines deutschen Sieges abzeichnete, intervenierten die USA direkt, um der Bedrohung durch den gefährlichsten potentiellen Rivalen entgegen zu treten.

Trotzki zeigte auch, wie gewisse Bedingungen, unter denen sich der amerikanische Kapitalismus entwickelt hatte – die Vorteile, die er wegen der ungeheuren Ressourcen eines ganzen Kontinents genoss – sich ideologisch ausgedrückt hatten. Der amerikanische Kapitalismus, obwohl räuberisch und kriminell, war nichtsdestoweniger in der Lage, im Weltmaßstab unter dem Banner des Pazifismus zu intervenieren. Die viel höhere Arbeitsproduktivität des amerikanischen Kapitalismus bedeutete, dass er Parolen vor sich her tragen konnte wie „Freiheit“, die „offene Tür“, „Freiheit der Meere“, „das Selbstbestimmungsrecht der Völker“, „keine Annexionen“, usw. Ungeachtet dieser hehren Beteuerungen strebte Amerika jedoch nichts anderes an als die Reorganisierung der Welt unter der eigenen Herrschaft.

Wir können Trotzkis Analyse sinnvollerweise unter zwei Überschriften untersuchen: Die Ursachen der Großen Depression und der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges.

Beginnen wir mit der ersten. Trotzki vertiefte seine Analyse des Aufstiegs der USA in einer bedeutenden im Februar 1926 gehaltenen Rede mit dem Titel „Europa und Amerika“. An ihrem Ende sprach er eine zentrale historische Frage an: Hatte die Perspektive der Weltrevolution, auf die sich die russische Revolution gegründet hatte, nun durch die gegenwärtige Situation ihre Berechtigung verloren?

“Ist der Kapitalismus noch fähig, die Produktivkräfte im Weltmaßstab zu entfalten und die Menschheit vorwärts zu bringen? Dies ist eine grundlegende Frage. Sie ist von entscheidender Bedeutung für das Proletariat Europas und für die unterdrückten Völker des Ostens, für die ganze Welt und vor allem – für das Schicksal der Sowjetunion. Wenn es sich erweisen sollte, dass der Kapitalismus noch fähig ist, eine fortschrittliche historische Mission durchzuführen, dass er fähig ist, die Völker reicher und ihre Arbeit produktiver zu machen, dann würde es bedeuten, dass wir, die Kommunistische Partei der Sowjetunion, uns zu früh auf den Leichenschmaus vorbereitet haben, oder, mit anderen Worten zu früh die Macht zu in unsere Hände genommen haben, um den Sozialismus aufzubauen. Denn Marx hat uns gelehrt, dass keine soziale Gesellschaftsordnung verschwindet, ehe alle in ihr liegenden Möglichkeiten erschöpft sind. Angesichts der neuen Wirtschaftslage, die sich vor uns entfaltet, jetzt, damit Amerika sich über die gesamte kapitalistische Menschheit erhebt, indem es das Verhältnis der Wirtschaftskräfte radikal geändert hat, müssen wir uns wieder die Frage vorlegen: Hat sich der Kapitalismus überlebt oder steht ihm noch eine Entwicklungsperiode bevor?“[6]

Für Europa ließ sich die Frage definitiv mit “nein” beantworten. Aber in Amerika schien das Bild anders, und in großen Teilen Asiens und Afrikas hatte der Kapitalismus kaum begonnen, Fuß zu fassen.

Wenn man die Weltwirtschaft in dieser Weise aufteilte, dann schien es, dass der Kapitalismus noch immer eine fortschrittliche Rolle zu spielen hatte. Aber eine solche Vorgehensweise war nicht korrekt. Genauso wenig, wie die Russische Revolution von 1905 als nationales Phänomen verstanden werden konnte, verhielt es sich mit den Vereinigten Staaten.

Amerika war nicht länger autark. Es konnte nicht isoliert betrachtet werden, weil sich die amerikanische Expansion auf ein globales Gleichgewicht stützte. Europa war von Amerika abhängig, aber Amerika seinerseits hing von Europa ab.

“Gerade deshalb, weil die Vereinigten Staaten die ganze Welt in eine steigende Abhängigkeit von sich bringen. Geraten sie mit jedem Tage mehr in ein Abhängigkeitsverhältnis zu eben dieser Welt mit all ihren Widersprüchen und bedrohlichen Erschütterungen.“[7]

Trotzkis Denkweise ist der Schlüssel zum Verständnis der Großen Depression – dem schwersten wirtschaftlichen Zusammenbruch in der Geschichte des Kapitalismus, der weniger als vier Jahre nach seiner Rede einsetzen sollte.

Ben Bernanke, der Vorsitzende der US-Zentralbank Federal Reserve, hat sein Leben damit zugebracht, das zu verfolgen, was er den „Heiligen Gral“ der Ökonomie nennt: Eine Erklärung der Ursachen der Großen Depression. Ich erlaube mir die Bemerkung, dass er vermutlich mehr Erfolg gehabt hätte, wenn er weniger Milton Friedman und etwas mehr Leo Trotzki gelesen hätte. Dies deshalb, weil die Ursachen der Großen Depression genau in der Wechselbeziehung und den Widersprüchen zwischen Europa und Amerika zu finden sind, die das Zentrum von Trotzkis Analyse bilden.

Der amerikanische Kapitalismus hatte die Arbeitsproduktivität mittels der Fließbandproduktion – was Trotzki das “Fließbandsystem” nannte – in einem nie dagewesenen Ausmaß entwickelt. Aber in Europa konnte diese Entwicklung nicht kopiert werden. Hier hatten die Produktivkräfte nicht die Expansionsmöglichkeiten wie in den USA – Massenproduktion erfordert schließlich einen Massenmarkt – sondern waren innerhalb der Verstrickungen des europäischen Nationalstaatsystems gefangen und eingeschnürt. Der erste Weltkrieg war ausgebrochen, weil der Kapitalismus im engen Rahmen der europäischen Nationalstaaten erstickte. Aber nach vier Jahren Zerstörung und Verarmung hatte der Vertrag von Versailles die Situation noch verschlimmert.

Gehen wir auf der Grundlage von Trotzkis Analyse ein bisschen weiter bei der Untersuchung dieser Situation. Marx hat einmal bemerkt, dass die Realisierung des Mehrwertes an einer Stelle seine Auspressung an anderer Stelle erfordert. Damit wollte er sagen, dass die Akkumulation von Kapital keine individuelle Angelegenheit ist – wie sehr das auch einer einzelnen Firma oder einer einzelnen kapitalistischen Wirtschaft so erscheinen mochte – sondern ein gesellschaftlicher Prozess. Der amerikanische Kapitalismus hatte die Auspressung und Anhäufung von Mehrwert durch das „Fließband-System“ zu neuen Höhen getrieben. Aber mit dieser Entwicklung konnte Europa nicht mithalten.

Ungeachtet der enormen Dynamik des amerikanischen Kapitalismus konnte der Akkumulationsprozess deshalb nicht in globalem Maßstab fortschreiten. Aus diesem Grunde stürzte die kapitalistische Weltwirtschaft nur sechs Jahre nach der Einführung des Dawes-Plans zur Restabilisierung Europas in eine Depression mit verheerenden Konsequenzen für seine beiden am meisten fortgeschrittenen Bestandteile, die Vereinigten Staaten und Deutschland.

Von Anbeginn an machte Trotzki klar, dass der Aufstieg des amerikanischen Kapitalismus ungeachtet der “Toga” des Pazifismus, in die er sich hüllte, zum Ausbruch eines neuen Weltkrieges von noch größerem Ausmaß als dem von 1914-1918 führen würde.

Das amerikanische Programm, die Welt unter die eigene Kontrolle zu bringen, war eine Perspektive, die nur die „Aussichten für die großen Weltraufereien“ vorbereite, “die sich auf dem Stillen und Atlantischen Ozean abspielen… Denn die Vorstellung, dass die Bourgeoisie aller Länder sich demütig treten lassen und sich widerstandslos in einen Vasall Amerikas verwandeln wird, ist nicht haltbar. Zu groß sind die Widersprüche zu mächtig die Profitgier“[8]

Trotzki sah die Haupttrennungslinie zunächst zwischen den USA und Großbritannien. Die Ereignisse nahmen nicht ganz diesen Verlauf. Aber nimmt man den grundlegenden Rahmen seiner Analyse und betrachtet sie unter dem Vorbehalt, dass eine Voraussage umso bedingter ist, je präziser sie ist, so hat sich Trotzkis fundamentale Perspektive als vollständig richtig erwiesen.

Betrachtet man das Ergebnis des Zweiten Weltkrieges, so war seine Voraussage, dass die USA versuchen würden, sich, in welcher Form auch immer der Krieg ausbrach, das Erbe Großbritanniens zu sichern, erstaunlich genau.

1928 unterzog Trotzki den von Bucharin und Stalin vorbereiteten Programmentwurf der Komintern einer vernichtenden und weitreichenden Kritik. Der erste Entwurf hatte die Vereinigten Staaten nicht einmal erwähnt, während der zweite es versäumte, die strategische Bedeutung ihres Aufstiegs zur globalen Vorherrschaft einzuschätzen, mit Ausnahme einiger leerer Verallgemeinerungen.

Trotzki bestand darauf, dass der unerbittliche Aufstieg der USA und die Reduzierung Europas auf immer kleinere Rationen zu einer „extremen Zuspitzung der Spannungen zwischen den Staaten in Europa bis hin zu heftigen Ausbrüchen militärischer Konflikte,“ führen würde, denn genau wie Klassen kämpfen auch Staaten um einen mageren und schrumpfenden Anteil noch verbissener als um einen üppigen und wachsenden.“[9]

“Der Entwurf”, so fuhr er fort, “erklärt nicht, dass das innere Chaos der Gegensätze zwischen den Staaten in Europa jeden einigermaßen ernsthaften und erfolgreichen Widerstand gegen die sich immer mehr zentralisierende nordamerikanische Republik aussichtslos macht. Die Überwindung dieses europäischen Chaos durch die Vereinigten sozialistischen Staaten von Europa eine der ersten Aufgaben der proletarischen Revolution darstellt.“[10]

Trotzkis Sorge galt der Entwicklung einer Perspektive für die Kommunistische Internationale. Aber die Frage, die er ansprach – der enorme Druck, den die nordamerikanische Republik auf die europäischen Mächte ausübte – wurde in ganz anderen Kreisen diskutiert.

Sie war zum Beispiel ein zentrales Thema in Adolf Hitlers unveröffentlichtem zweiten Buch, das 1928 fertig gestellt wurde. Hitler schlug vor, das Chaos der europäischen Wirtschaft und des Nationalstaatensystems durch die Gründung des Deutschen Reiches zu beenden und die durch die Eroberung und Kolonisierung der Sowjetunion erworbenen Ressourcen zu nutzen, um eine stabile Grundlage zu schaffen, von der aus man die Vereinigten Staaten bezwingen könne. Innerhalb von fünf Jahren sollte dies das Programm des deutschen Imperialismus werden.

Wie der Historiker Adam Tooze bemerkt: “Die Originalität des Nationalsozialismus bestand darin, dass Hitler sich nicht damit zufriedengab, für Deutschland einen Platz innerhalb der von wohlhabenden englischsprachigen Ländern beherrschten globalen Wirtschaftsordnung zu akzeptierten, sondern versuchte, die angestauten Frustrationen seiner Bevölkerung zu mobilisieren, um diese Ordnung in monumentaler Weise herauszufordern. Deutschland würde das, was die Europäer in den vergangenen drei Jahrhunderten im Weltmaßstab getan hatten, wiederholen und sich sein eigenes imperiales Hinterland erobern; durch eine letzte Landeroberung im Osten würde es die autarke Grundlage für heimischen Wohlstand und die notwendige Plattform schaffen, um im anstehenden Wettbewerb der Supermächte gegen die USA bestehen zu können. Die Aggressionen des Hitler-Regimes können so begründet werden als eine verständliche Antwort auf die Spannungen, die durch die ungleichmäßige Entwicklung des globalen Kapitalismus heraufbeschworen wurden – Spannungen, die uns natürlich bis heute begleiten. [11]

Nach dem Sieg der Nationalsozialisten in Deutschland warnte Trotzki immer wieder vor einem neuen Weltkrieg. Und die Vereinigten Staaten würden, wie auch immer der Konflikt begann, gezwungen sein zu intervenieren.

In dem bemerkenswerten Artikel “Nationalismus und Wirtschaftsleben”, der 1934 in Foreign Affairs veröffentlicht wurde, machte Trotzki auf die unterschwelligen Kräfte aufmerksam, die die USA in den Krieg trieben. Der amerikanische Kapitalismus hatte die Arbeitsproduktivität zu neuen Höhen getrieben. Aber diese fortgeschrittensten Techniken der Welt wurden überall in Europa und Asien durch Eingriffe von Staaten blockiert, die sich selbst auf einem viel niedrigeren technischen Stand befanden. Diese Situation konnte nicht auf Dauer fortbestehen.

“Früher oder später”, schrieb Trotzki, “muss der amerikanische Kapitalismus sich in allen Richtungen Wege über unseren ganzen Planeten eröffnen. Mit welchen Mitteln? Mit allen Mitteln. Ein hoher Wirkungsgrad der Produktion kennzeichnet auch einen hohen Wirkungsgrad an Zerstörung. Predige ich den Krieg? Absolut nicht. Ich predige gar nichts. Ich versuche nur, die Weltsituation zu analysieren und Schlussfolgerungen aus den Gesetzen der ökonomischen Mechanik zu ziehen.“[12]

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die USA in der Lage, die kapitalistische Weltordnung zu stabilisieren, wobei die stalinistischen kommunistischen Parteien bei der Unterdrückung des Nachkriegsaufstands der Arbeiterklasse eine Schlüsselrolle spielten. Die Ausbreitung seiner produktiveren Methoden in anderen fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern schuf die Grundlage für eine neue Periode kapitalistischen Aufschwungs.

Aber in den vergangenen dreißig Jahren befinden sich die USA im wirtschaftlichen Niedergang, zunächst relativ gesehen und nun auch absolut, eine wirtschaftliche Tatsache, die durch den Zusammenbruch des Finanzsystems 2008 augenscheinlich wurde. Trotzki beschrieb die explosive Bedeutung des Aufstiegs des amerikanischen Kapitalismus. Hat er auch etwas zu seinem Niedergang zu sagen? Ganz gewiss.

Vor über achtzig Jahren schrieb Trotzki: “In Zeiten der Krise werden die USA ihre Vorherrschaft vollständiger, offener und rücksichtsloser ausüben als in den Zeiten des Aufschwungs.“[13] Die Vereinigten Staaten, so schrieb er, würden sich ihren Problemen auf Kosten ihrer Rivalen, vor allem in Europa, zu entziehen versuchen, ob friedlich oder durch Krieg. Heute können wir ihre Rivalen in Asien hinzurechnen. Die sich verschärfenden Konflikte über Handelsfragen, Währungsparitäten, Zahlungsbilanzdefizite, wie auch die zunehmend aggressiven militärischen Aktivitäten der USA im Irak und in Afghanistan, und jetzt die offenen diplomatischen wie auch militärischen Schritte gegen China deuten darauf hin, dass eine neue revolutionäre Periode begonnen hat, die die Welt erschüttern wird und durch denselben Widerspruch zwischen der Weltwirtschaft und dem Nationalstaatensystem erzeugt wird, den Trotzki ins Zentrum seiner Betrachtungsweise rückte.

 

Anmerkungen:

[1] David North: Ein Beitrag zur Neubewertung von Vermächtnis und Stellenwert Leo Trotzkis in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, http://wsws.org/de/2001/jul2001/trot-j06.shtml

[2] The First Five Years of the Communist International, Leon Trotsky, Volume I, New Park Publications, London (1973), p. 1

[3] “Dialogue With Heinrich Brandler”, Marxism, Wars & Revolutions, Isaac Deutscher, Verso, London (1984) p. 162

[4] Leo Trotzki: Mein Leben, Frankfurt 1974 S. 244

[5] “Imperialism and the National Idea”, Leon Trotsky in Lenin’s Struggle for a Revolutionary International, Monad Press, New York (1984)

[6]Leo Trotzki: Europa und Amerika, Essen, 200, S. 295f

[7] ebd. S. 298

[8] ebd., S. 259

[9] Leo Trotzki: Die Dritte Internationale nach Lenin, Essen 1993, S 28

[10] ebd.

[11] The Wages of Destruction, Adam Tooze, Allen Lane, London (2006)

[12] “Nationalism and Economic Life”, Writings of Leon Trotsky 1933-34, Leon Trotsky, Pathfinder Press, New York, (1972), pp. 161-162

[13] The Third International After Lenin, Leon Trotsky, New Park Publications, London (1973), p. 8

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