Missbrauchte und misshandelte Heimkinder werden abgespeist

Heimkinder sind in den ersten vier Jahrzehnten nach Kriegsende in der Bundesrepublik Deutschland systematisch misshandelt worden. Heute sollen sie dafür heute mit Almosen abgefunden und „entschädigt“ werden – aber erst nach individuellem Nachweis erlittenen Unrechts und einer daraus resultierenden „schwierigen Lebenssituation“.

Dies ist das Ergebnis zweijähriger Beratungen des Runden Tischs Heimerziehung, der am Montag seinen Abschlussbericht präsentierte. Darin schlägt er die Einrichtung eines 120 Millionen Euro umfassenden Hilfsfonds unter dem Dach einer zu gründenden Stiftung für ehemalige Heimkinder der Bundesrepublik vor. Der vom Bundestag eingesetzte Runde Tisch hat somit das geschafft, wozu er einberufen wurde – die berechtigten Entschädigungsansprüche jener Menschen abzuwehren, die von Kriegsende an und bis in die 1980er Jahre hinein in konfessionellen oder staatlichen Heimen schikaniert, missbraucht und ausgebeutet wurden.

In dieser Zeit wuchsen rund 800.000 Kinder in Heimen auf. Sie kamen ins Heim, weil sie nicht den Vorstellungen der damaligen Gesellschaft von Ordnung und Moral entsprachen. So genannte „verwahrloste“ oder „aufmüpfige“ Kinder und Jugendliche wurden weggesperrt. Nachbarn, Lehrer oder gar die eigenen Eltern denunzierten sie bei den Jugendämtern.

„Beim Jugendamt haben Lehrer angerufen und auf Schulversäumnisse oder häufiges Zuspätkommen hingewiesen“, erzählte der ehemalige Jugendamtsbeschäftigte aus Paderborn Rudolph Mette dem Spiegel-Autor Peter Wensierski. „Nachbarn berichteten, dass ein Kind einer alleinerziehenden Mutter unpassend gekleidet sei oder mit 15 schon einen Freund oder Freundin hatte, auf Tanzveranstaltungen ging und die Schule schwänzte. Unpassend gekleidet konnte heißen: mit knisterndem Petticoat oder mit engen Hosen, weitem Pullover, offenen langen Haaren oder Pferdeschwanz.“

Wensierski berichtet in seinem 2007 erschienen Buch Schläge im Namen des Herrn - Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik beispielsweise, dass in Bad Schwalbach 1964 das Amtsgericht den siebenjährigen Thomas und seinen neunjährigen Bruder in die geschlossene Fürsorgeerziehung schickte. „Die Anhörung der Mutter hat ergeben“, so das Gericht, „dass sie mit den beiden Kindern nicht fertig wird.“ Die „gehörte Mutter“ habe „selbst zugegeben“, dass die Kinder keinen Respekt vor ihr hätten. Es sei auch schon vorgekommen, dass sie sie „u. a. ‚blöde Kuh‘ nennen“.

Mette schildert die damalige vorherrschende Praxis folgendermaßen: „Die Vormundschaftsrichter haben sich die Kinder praktisch nie angesehen. Sie haben nach Aktenlage sehr schnell entschieden, ohne Auseinandersetzungen, ohne großes Hin und Her.“ Oft habe er den Antrag auf Fürsorgeerziehung morgens zum Gericht gebracht und gleich auf den Beschluss warten können. „Die Richter haben immer für die Heimeinweisung des Kindes entschieden. Immer.“

In den Heimen erwarteten die Kinder und Jugendlichen „Erziehungsmethoden“ aus einer dunklen Epoche – offensichtlich wirkte die Nazizeit noch nach. Die Zeit war hinter den Mauern der Heime scheinbar stehen geblieben. Im 67-seitigen Abschlussbericht des Runden Tisches heißt es: „Für ein Heim konnte nachgewiesen werden, dass ohne Einwilligung der Kinder und deren Personensorgeberechtigten und trotz anfänglicher Bedenken des Landesjugendamtes im Jahr 1966 eine mehrwöchige Versuchsreihe mit sedierenden Medikamenten (Truxal) durchgeführt wurde.“

Bereits im Zwischenbericht des Runden Tisches wurde ausgeführt: „Berichtet werden sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt unterschiedlichster Formen und unterschiedlicher Dauer bis hin zu schwerer und sich jahrelang wiederholender Vergewaltigung. Als Täter (überwiegend Männer) werden vor allem Erzieher, Heimleiter und Geistliche, aber auch heimexterne Personen wie Ärzte, Landwirte oder Personen in Privathaushalten, an die die Jugendlichen als Arbeitskräfte ‚ausgeliehen‘ wurden, benannt.“

Vor allem die kirchlichen Heime hatten eigene Betriebe aufgebaut, in denen die Kinder und Jugendlichen zur Arbeit gezwungen waren.

So betrieb das von den „Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Vincenz von Paul“ geführte „Dortmunder Vincenzheim“ eine eigene Großwäscherei. Die Heimkinder mussten dort die Wäsche für Hotels, Firmen, Krankenhäuser und viele Privathaushalte machen. Die „Schwestern“ gaben den Mädchen dafür ein Taschengeld. Diese Jahre der Arbeit fehlen den Betroffenen heute beim Rentenanspruch. „Wir waren jugendliche Zwangsarbeiter“, sagen ehemalige Heimkinder heute verbittert.

Die Diakonie Freistatt bei Diepholz war mit seiner Presstorfproduktion, seinen Schlossereien und Schmieden von Beginn an als reiner Wirtschaftsbetrieb konzipiert, der auf billigen Arbeitskräften basierte. Die 14- bis 21-jährigen Jungen mussten im Sommer wie im Winter im Moor Torf stechen und pressen. Wensierski berichtet, dass es in den meisten Heimen Produktionswerkstätten für Kugelschreiber, Lackstifte, Verpackungen und Ähnliches gab. „In Don-Bosco-Heimen stellten Minderjährige in zehnstündigen Schichten 4.000 Kugelschreiber pro Tag her. Die Entlohnung: ‚Anerkennungsgutscheine‘ für fünf Zigaretten oder zwei Flaschen Cola.“

Im Heim „Zum Guten Hirten“ in Münster schwankte der Lohn für eine 40-Stunden-Woche noch zu Beginn der siebziger Jahre zwischen 2 und 4 DM. Auch hier waren die Jugendlichen nicht rentenversichert.

Ausreißern, Arbeitsverweigerern und „Versagern“ wurden bis weit in die siebziger Jahre die Köpfe kahl geschoren oder sie wurden für längere Zeit eingesperrt, oft in fensterlose, gefängnisähnliche Zellen.

Der Runde Tisch und sein Ergebnis

Als vor sieben Jahren erstmals das Schicksal der Heimkinder einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, musste sich der Petitionsausschuss des Bundestags gegen den Willen der Kirchen und der Regierung damit beschäftigen. Er empfahl dem Bundestag dann die Einrichtung des Runden Tischs. Dieser wurde aus Mitgliedern des Bundestages, Vertretern von Kirchen, Stiftungen und Wohlfahrtverbänden sowie ehemaligen Heimkindern und Ministerialbeamten im Februar 2009 gegründet. Als Vorsitzende wurde die ehemalige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und studierte Theologin Antje Vollmer (Grüne) bestellt.

Der Abschlussbericht empfiehlt, lediglich 20 Millionen Euro in einen Rentenfonds für Betroffene einzuzahlen, denen durch den Heimaufenthalt Rentenansprüche entgangen sind. 100 Millionen Euro sollen als Ausgleichszahlungen für Folgeschäden zur Verfügung stehen.

Auf Entschädigung hoffen dürfen allerdings nur Heimkinder, die von 1949 (dem Gründungsjahr der Bundesrepublik) bis 1975 Opfer körperlicher, seelischer und sexueller Gewalt wurden.

Pauschale Entschädigungen soll es überhaupt nicht geben. Dies wäre „nicht gerechtfertigt“, sagte Vollmer. Denn im „System Heimerziehung“ sei den Kindern zwar Unrecht wiederfahren, die Bezeichnung „Unrechtsystem“ für die Heimerziehung in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik lehnt der Runde Tisch jedoch ab. Auch das dürfte den konkreten Nachweis des erlittenen Unrechts trotz aller Schwüre auf „unbürokratische Hilfe“ für die Betroffenen erschweren.

Auch den Begriff der „Zwangsarbeit“, der etwaige Ansprüche untermauern könnte, lässt man für die Arbeiten, zu denen Heimkinder gezwungen wurden, nicht gelten. Im Zwischenbericht stellte der Runde Tisch fest: „Bei einigen der Arbeiten in Heimen wurden mögliche gesundheitliche Schädigungen vernachlässigt. Ziel war aber keinesfalls ein der Zwangsarbeit der NS-Zeit entsprechendes Konzept der gezielten Existenzvernichtung durch härteste körperliche Arbeit.“

Bei der Aufteilung der Zahlungen an den Hilfsfonds zwischen Bund, Ländern und Kirchen konnten letztere sich deutliche Vorteile verschaffen. Während 80 Millionen Euro aus Steuergeldern in den Fonds bezahlt werden sollen, zahlen die beiden christlichen Kirchen nur jeweils 20 Millionen.

Dabei waren rund 80 Prozent der Heime in konfessioneller Hand. Insbesondere die katholischen Frauen- und Männerorden führten jahrzehntelang zahlreiche Erziehungsanstalten, nämlich rund die Hälfte aller Heime.

Kirchenkritiker Herbert Steffen, der auch der Giordano Bruno Stiftung vorsteht, erklärte hierzu bereits im vergangenen Jahr: „Die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände haben in den letzten Jahrzehnten viele Milliarden vom Steuerzahler erhalten. Sie sind nachweislich im Besitz eines kolossalen Vermögens. Es wäre ein Skandal, würden sie sich jetzt ihrer Verantwortung entziehen […] das Unrecht zu kompensieren, das den Heimkindern widerfahren ist.“ Genau dies hat der Runde Tisch nun so empfohlen.

Firmen, für die die Kinder zwangsweise arbeiten mussten, sind überhaupt nicht dafür vorgesehen, in den Fonds einzuzahlen. Im Abschlussbericht des Runden Tischs heißt es, bislang liege „noch zu wenig gesichertes Wissen vor, um eine endgültige Bewertung über das Verhältnis von Heimen und externen Firmen abzugeben“. Es herrsche weiterer Forschungsbedarf.

Zudem steht selbst die Finanzierung des Hilfsfonds noch unter Vorbehalt. Bundestag und Länderparlamente müssen dem erst zustimmen. Der Vertreter der Bundesländer auf der Pressekonferenz am Montag bestätigte dies: „Das letzte beteiligte Länderparlament bestimmt“, wann die Stiftung und damit der Hilfsfonds wirklich gegründet wird. Viele Ehemalige haben die durchaus berechtigte Angst, all das nicht mehr zu erleben. „2011 sind aber etliche Landtagswahlen, in zwei Jahren haben wir wohl immer noch nichts“, sagte ein Betroffener.

Die erste Frau, die dem Spiegel 2003 von ihren Jahren bei den „Barmherzigen Schwestern“ im Dortmunder Vincenzheim berichtete, war Gisela Nurthen. Sie ist inzwischen verstorben.

Für die ehemaligen Bewohner der Heime in der DDR ist eine Entschädigung aus dem geplanten Hilfsfonds ebenfalls nicht vorgesehen. Bislang werden nur ehemalige Insassen des Jugendwerkhofs in Torgau nach dem SED-Unrechtsbereinigungsgesetz entschädigt, seit 2004 nach einem Gerichtsbescheid ist auch die Einzelfallprüfung beendet. Doch die Opfer anderer Jugendwerkhöfe und Spezialkinderheime müssen weiterhin um Rehabilitierung vor Gerichten kämpfen. Nach Angaben der Gedenkstätte in Torgau gab es 1989 in der DDR 32 Jugendwerkhöfe. Allein in Torgau hatten seit 1964 rund 4.000 Jugendliche gelitten.

Die Vorsitzende des Vereins ehemaliger Heimkinder Monika Tschapek-Güntner und ihre Mitstreiter berichteten auch davon, wie sie am Runden Tisch von den politischen und kirchlichen Vertretern behandelt wurden. Ein Beteiligter beschrieb, bei den Abschlussverhandlungen über die Endfassung des Berichts habe seine Gefühlslage „zwischen Nötigung und Erpressung“ geschwankt. Tschapek-Güntner hatte das Gefühl, bei den Verhandlungspartnern herrsche die Haltung vor: „Wenn ihr das nicht wollt, gibt es gar nichts!“ Jürgen Beverförden entschuldigt sich bei den Betroffenen: „Mit gar nichts wollte ich nicht zurückfahren.“

Die ehemaligen Heimkinder waren enttäuscht und empört über die Empfehlungen des Runden Tisches. Ihre Forderung beinhaltete ursprünglich eine pauschale Entschädigung von einmalig 54.000 Euro oder monatlich 300 Euro, was einen Fonds von 25 Milliarden Euro nötig gemacht hätte. Nach der nun getroffenen Vereinbarung bekämen geschätzte 30.000 Anspruchsberechtigte von der geplanten Stiftung jeweils etwa 2.000 bis 3.000 Euro, sagte Tschapek-Güntner. Es könne nicht sein, dass Menschen, die als Kind Misshandlungen, Folter und sexuellen Missbrauch erlebt hätten, derart abgefertigt würden.

„Eigentlich müssten alle, die am Runden Tisch sitzen, sich dafür schämen“, sagte sie und kündigte weitere rechtliche Schritte an.

siehe auch:

Buchbesprechung: Schläge im Namen des Herrn

Sexueller Missbrauch: Katholische Kirche in der Krise

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