Renate im Wunderland

Das Wahlprogramm der Berliner Grünen

Bestätigen sich die aktuellen Umfragen, könnte Berlin ab Herbst als zweites deutsches Bundesland nach Baden-Württemberg von den Grünen regiert werden. Mit 29 Prozent liegt die Umweltpartei zwei Punkte vor der SPD, während die CDU mit 20 Prozent weit abgeschlagen ist, die Linkspartei bei 14 Prozent stagniert und die FDP mit 3 Prozent den Einzug ins Abgeordnetenhaus verfehlt.

Das Bündnis aus SPD und Linkspartei, das die Hauptstadt seit zehn Jahren regiert, wird bei der Abgeordnetenhauswahl vom 4. September wohl kaum mehr eine Mehrheit finden. Bleiben die Grünen stärkste Partei, könnte Renate Künast, die frühere Bundesministerin für Verbraucherschutz, Landwirtschaft und Ernährung, den Sozialdemokraten Klaus Wowereit als Regierende Bürgermeisterin ablösen. Die Grünen hätten dann die Wahl zwischen SPD und CDU als Koalitionspartner, falls diese nicht unerwartet ein Bündnis gegen die Grünen schließen.

Die Grünen treten mit einem Programm zur Wahl an, das an die Geschichte von Alice im Wunderland erinnert. Es beschreibt auf 230 Seiten eine Hauptstadt, die mit der Lebensrealität ihrer 3,5 Millionen Einwohner nicht das Geringste zu tun hat. Jeder fühlt sich wohl, Vernunft und Toleranz triumphieren, die verbreitete Armut und Arbeitslosigkeit sind wie weggeblasen, ohne dass sich – außer in blumigen Worten – etwas ändert.

Schon der Titel des Wahlmanifests ist Programm. Er lautet „Eine Stadt für alle“. Die Grünen versprechen, dass sie „alle“ Interessen vertreten – die des Villenbesitzers in Dahlem und des Immobilienmaklers in Grunewald ebenso wie die des Arbeiters in Spandau, des Hartz-IV-Empfängers in Marzahn und des Immigranten in Neukölln. Da sie „alle“ vertreten, werden sie die Privilegien nicht antasten, die Berlins reiche Oberschicht von der breiten Maße der Bevölkerung trennt. Sie wollen nicht die gesellschaftliche Realität verändern, die von tiefen Klassengegensätzen gezeichnet ist, sondern lediglich die Vorstellung von dieser Realität.

Die grundlegenden Interessengegensätze zwischen den lohnabhängig Beschäftigten und den zur Arbeitslosigkeit Verdammten einerseits und den Unternehmern und Besitzenden andererseits finden im Wahlprogramm der Grünen keine Erwähnung. Für Klassengegensätze gibt es darin keinen Platz. Sie werden hinter einem Wust von Versatzstücken aus der Umwelt-, Identitäts- und Kulturpolitik verborgen.

„Blockaden lösen“, „eine neue politische Kultur“, „Diversity: Politik der Vielfalt“, „Kreativität“, „geschlechtergerechtes Berlin“, „Stadt verschiedener sexueller Identitäten“, „Fahr Rad“ und – immer wieder – „Klimahauptstadt Berlin“, „grüne industrielle Revolution“ sowie „ökologische Stadtentwicklung“ lauten die Schlagworte des grünen Programms. Auch mit sozialen Versprechen geizt es nicht. Die Verheißung von „Arbeit und sozialer Sicherheit für alle“ findet sich darin ebenso wie „gute Bildung für alle“.

Blickt man allerdings hinter die blumigen Worte, stößt man auf eine knallharte Klassenpolitik. Die Grünen sind entschlossen, das Spardiktat des Finanzkapitals mit aller Konsequenz durchzusetzen. Sie wollen den Austeritätskurs des Wowereit-Senats verschärfen. In dieser Frage werden sie ausnahmsweise konkret. Sie verpflichten sich, die in der Verfassung verankerte Schuldenbremse einzuhalten und die 60 Milliarden Schulden des Landes Berlin rasch abzubauen.

„Wollen wir handlungsfähig sein, müssen wir in der kommenden Legislaturperiode angesichts der unvermeidlichen Kostensteigerungen mindestens 500 Millionen Euro effektiv einsparen“, heißt es dazu im Wahlprogramm. „Wahlgeschenke wird es keine geben und mit Ausnahme der Bildung werden wohl alle Politikbereiche von Budgetkürzungen betroffen sein.“ Mit anderen Worten, sämtliche anderen Wahlversprechen, die das Programm der Grünen zieren, dürfen entweder nichts kosten oder werden dem Rotstift zum Opfer fallen.

Im Wowereit-Senat war sieben Jahre lang Thilo Sarrazin für die Sparpolitik verantwortlich. 2009 wechselte er in die Chefetage der Bundesbank und veröffentlichte seine berüchtigte Hetzschrift gegen islamische Immigranten. Das Sparprogramm der Grünen knüpft direkt an das Erbe Sarrazins an. Auch sie wollen vor allem auf Kosten der sozial Schwachen und des Öffentlichen Diensts sparen.

So werden im Wahlprogramm „die Erbringung und das Zustandekommen sozialer Leistungen“ ausdrücklich als Beispiele für Einsparmöglichkeiten genannt. Hier allein sollen mindestens 100 Millionen Euro gekürzt werden. Als weitere Sparreserve wird die Verwaltung angeführt. In diesem Bereich wollen die Grünen durch Personalabbau 250 Millionen Euro im Jahr einsparen.

Auf der Einnahmeseite sollen dagegen lediglich 190 Millionen Euro zusätzlich aufgebracht werden, 150 Millionen durch die Erhöhung der Gewerbesteuer und 40 Millionen durch eine „City-Tax“ auf Hotelübernachtungen. Ob diese Steuern jemals erhoben werden, ist allerdings höchst fraglich, bekennt sich das Wahlprogramm doch ausdrücklich zu den Interessen der Berliner Wirtschaft, die alles daran setzen wird, eine Erhöhung der Steuern zu verhindern.

Das Wahlprogramm buhlt regelrecht um das Vertrauen der Wirtschaft und internationaler Investoren. So heißt es darin: „Wir wollen nicht nur Touristen, sondern auch Investoren überzeugen, nach Berlin zu kommen. Dafür müssen wir unsere Ressourcen anpreisen und uns als verlässlicher Partner präsentieren. Für Berlin als grünen Wirtschaftsstandort national wie international zu werben – das wird zu den ersten Amtshandlungen einer grünen Bürgermeisterin gehören.“

Zu diesem Zweck wollen die Grünen die Berliner Verwaltung an die Bedürfnisse der Wirtschaft anpassen: „Berlins Wirtschaft ist kreativ – Berlins Verwaltung muss es noch werden. Moderne Wirtschaftsverwaltung räumt Hindernisse aus dem Weg und unterstützt Menschen und Unternehmen, die diese Stadt voranbringen wollen.“

An anderer Stelle bieten die Grünen der Berliner Wirtschaft „einen Pakt für Wirtschaft und Arbeit“ an und versprechen: „Wir begreifen die Wirtschaft als Partner, mit dem wir gemeinsam Neues entwickeln.“ Ein solcher Pakt diente bisher immer als Mechanismus für soziale Angriffe.

Sakrosankt sind für die Grünen auch die Verpflichtungen des Lands Berlin an die Banken. So werden die Zinszahlungen und die bestehenden Renditezusagen der Sonderfonds, die mit ursächlich für den Berliner Bankenskandal waren, nicht angetastet.

Auch in anderen Passagen des grünen Wahlprogramms wird sein rechter Charakter hinter dem Schleier wohltönender Worte sichtbar. So wollen die Grünen zur Behebung der Finanznot der Stadt „privates und öffentliches Geld miteinander versöhnen“. Damit dürften Projekte der Privat Public Partnership gemeint sein, die ganz und gar keine neue Idee sind und in den vergangenen Jahren dazu geführt haben, dass Städte ihr kommunales Eigentum im Zuge dubioser Finanzgeschäfte verloren.

Die Grünen wollen öffentliche Aufgaben durch Private finanzieren lassen und „im Tausch“ dafür die inhaltliche Mitgestaltung der privaten Geldgeber an den mitfinanzierten Projekten gestatten. Dieses Modell dürfte zu einem weiteren Demokratieabbau führen, denn wer bezahlt, bestimmt auch, wo es lang geht. Die Grünen lehnen sogar die vom rot-roten Senat versprochene Rekommunalisierung der Betriebe der Daseinsvorsorge, wie beispielsweise der Berliner Wasserbetriebe, ab.

Auffallend am Programm der Grünen ist auch, dass es auf Polemik gegen SPD und CDU weitgehend verzichtet. Schließlich braucht man sie noch als Koalitionspartner.

Der Name Sarrazin, der für sieben Jahre brutale Sparpolitik und für antiislamische Hetze steht, wird nicht erwähnt. Stattdessen passen sich die Grünen selbst an die Sprache der Rechten an. So fordert Renate Künast von den Migranten und ihren Kindern, sich bei der Integration in die Mehrheitsgesellschaft mehr „anzustrengen“. Sie hat sich in der Integrationspolitik auch bei negativen Zuschreibungen wie „Ehrenmorde“ und „verbrecherische Großfamilien“ innerhalb der Partei durchgesetzt.

Der Stimmenzuwachs der Grünen ist nicht mit Unterstützung für ihr rechtes Programm gleichzusetzen. Sie profitieren von der Krise der anderen bürgerlichen Parteien und dem Fehlen einer fortschrittlichen Alternative in der Arbeiterklasse.

Auf Bundesebene sind Union und FDP in allen wichtigen politischen Fragen zerstritten und haben in den Umfragen ein Rekordtief erreicht. In Berlin hat sich die CDU nie vom Bankenskandal erholt, der einen Abgrund der Korruption offenbarte und 2001 zum Sturz des letzten Regierenden CDU-Bürgermeisters Eberhard Diepgen führte. Seither haben SPD und Linkspartei ein Sparprogramm gegen die Arbeiterklasse durchgesetzt, das selbst konservativ regierte Bundesländer übertrifft und Berlin die zweithöchste Arbeitslosenrate Deutschlands beschert hat.

Das politische Vakuum, das so entstanden ist, füllen jetzt die Grünen. Ihr diffuses Wahlprogramm findet aufgrund der weit verbreiteten politischen Konfusion einen gewissen Widerhall. Es vertuscht gezielt die Klassenfragen, indem es sogenannte Menschheitsfragen wie den Umweltschutz in den Vordergrund stellt.

Außerdem verfügen die Grünen über Stammwähler in Kreisen der wohlhabenden und akademischen Mittelklasse sowie im „alternativen“ Milieu von Stadtteilen wie Kreuzberg-Friedrichshain. Für letzteres verkörpern die Grünen weniger ein politisches Programm, als einen alternativen Lebensstil.

Der Höhenflug der Grünen kann aber nur eine vorübergehende Erscheinung sein. Übernehmen sie die Regierungsverantwortung, wird die Kluft zwischen ihrem lebensfremden Programm und ihrer tatsächlichen Politik schnell sichtbar werden. Umso dringender ist es, eine sozialistische Alternative in der Arbeiterklasse aufzubauen. Sonst besteht die Gefahr, dass äußerst rechte Kräfte von der resultierenden Enttäuschung profitieren.

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