Der Krieg in Libyen und die Krise der Europäischen Union

Der folgende Artikel beruht auf einem Bericht, den Peter Schwarz, Sekretär des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, auf einem Seminar der Partei für Soziale Gleichheit während der Osterfeiertage 2011 gab.

Der Krieg in Libyen kennzeichnet einen weltpolitischen Wendepunkt.

Die Entscheidung, das Land zu bombardieren, fiel praktisch über Nacht – nur wenige Wochen nach Ausbruch der Revolutionen in Tunesien und Ägypten und nur wenige Tage nach Beginn der sogenannten Rebellion gegen Gaddafi. Im Gegensatz zu den Kriegen in Afghanistan und im Irak ging die Initiative nicht von den USA aus, sondern von den ehemaligen europäischen Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien (und mittlerweile auch Italien), denen sich die USA angeschlossen haben. Erstmals seit sie 1956 zum Abbruch des Suez-Kriegs gezwungen wurden, haben Frankreich und Großbritannien in der arabischen Region wieder einen Krieg begonnen.

Offiziell wird dieser Krieg als „humanitäres“ Eingreifen ausgegeben – mit Unterstützung der Pseudo-Linken von den Pablisten über die Sozialdemokratie bis zu den Grünen. Doch es ist offensichtlich, dass es sich um ein imperialistisches Unternehmen handelt. Es geht um die beträchtlichen Öl- und Gasreserven in dem Wüstenstaat, um den Zugang zu den Rohstoffen und Märkten Afrikas, um die ein Kampf zwischen den alten imperialistischen Mächten und dem Aufsteiger China tobt, und um die Unterdrückung der Revolution in Nordafrika und dem Nahen Osten, die die imperialistischen Interessen in der Region bedroht.

Die Vehemenz, mit der sich der Krieg entwickelt hat, ist sowohl ein Ergebnis der scharfen Konflikte zwischen den führenden imperialistischen Mächten wie der zugespitzten Klassengegensätze innerhalb dieser Länder selbst. Wie die meisten Kriege ist auch der Libyen-Krieg teilweise von innenpolitischen Motiven bestimmt. Er dient dazu, von sozialen Konflikten abzulenken und die Voraussetzungen zu schaffen, um sie gewaltsam zu unterdrücken. Sowohl Sarkozy wie Berlusconi sind dabei, enorm unpopuläre Sparmaßnahmen gegen die Arbeiterklasse durchzusetzen. Beide befinden sich seit Monaten in einem Umfragetief.

Die Perspektive „Der Libyen-Krieg und die Verschärfung der inter-imperialistischen Konflikte“, die am 19. April auf der WSWS erschien, hat auf den „immer schärferen Zwist zwischen Frankreich, Großbritannien und den USA auf der einen und Deutschland auf der anderen Seite“ hingewiesen, der mit dem Libyen-Krieg sichtbar wurde. Erstmals hat Deutschland im UN-Sicherheitsrat eine gemeinsame Front mit Russland, China, Indien und Brasilien gegen seine traditionellen Verbündeten Frankreich, Großbritannien und die USA gebildet. Es enthielt sich bei der Abstimmung über die Libyen-Resolution der Stimme und hat sich bisher nicht am Krieg beteiligt, während Frankreich, Großbritannien und die USA für die Resolution stimmten und die führende Rolle im Krieg übernahmen.

Dieser Zwist ist kein Zufall, sondern das Ergebnis tiefgehender wirtschaftlicher und politischer Gegensätze zwischen Deutschland und Frankreich sowie einer fortgeschrittenen Krise der Europäischen Union.

Die deutsch-französische Achse bildete seit den Römer Verträgen von 1957 das Rückgrat der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Union. Die beiden Länder haben bei der Gestaltung der politischen Verhältnisse in Nachkriegseuropa die führende Rolle gespielt und sind die größten Volkswirtschaften, die den Euro als gemeinsame europäische Währung, führen. Nun zeigt diese Achse deutliche Risse.

Die USA, die jahrzehntelange eine Politik der Aufrechterhaltung der politischen und militärischen Einheit Europas verfolgten, haben diese Politik durch die Teilnahme an einem Krieg, dem Berlin sich offiziell widersetzt, so gut wie aufgegeben.

In Deutschland selbst ist eine heftige Debatte über die Abstimmung im UN-Sicherheitsrat entbrannt. Führende Politiker aus allen Parteien sowie zahlreiche Medienkommentare sind der Ansicht, Außenminister Westerwelle habe einen „schweren Fehler“ begangen. Deutschland hätte auf keinen Fall gemeinsame Sache mit den sog. BRIC-Staaten gegen seine traditionellen Bündnispartner machen dürfen, selbst dann nicht, wenn es sich nicht selbst am Krieg beteiligt.

Ein Kommentar auf SpiegelOnline fasste diese Kritik mit den Worten zusammen: „Bisher galt, dass sich Deutschland an der Seite Amerikas und Frankreichs positionieren müsse. Das war nicht immer einfach. Manchmal, wie vor dem Irak-Krieg, war es unmöglich. Dann musste die Bundesrepublik zwischen einem der beiden wichtigsten Partner wählen. Auf keinen Fall aber, das war die feste Überzeugung, durfte sie sich gleichzeitig gegen beide stellen. Diese Grundlinie deutscher Politik hat die Regierung nun verlassen.“

Ein Rückblick in die Geschichte

Um die Aufregung über das deutsche Abstimmungsverhalten im Sicherheitsrat zu verstehen, muss man einen Blick zurück in die Geschichte werfen. Die Angst, politisch isoliert zu werden, hatte schon die Außenpolitik Bismarcks dominiert. Er sprach damals von einem „cauchemar des coalitions“, einem „Alptraum der Bündnisse“.

Die Gründung des deutschen Kaiserreichs im Jahr 1871 hatte das Kräfteverhältnis auf dem europäischen Kontinent grundlegend verändert. „Das Gleichgewicht der Macht ist völlig zerstört“, hatte Benjamin Disraeli, der Führer der Tories im britischen Unterhaus, damals die Reichsgründung kommentiert. Bisher war England die unbestrittene Weltmacht gewesen. Es beherrschte die Meere, während sich auf dem europäischen Kontinent die Großmächte Frankreich, Russland und Österreich gegenseitig die Waage hielten. Mit der Einigung Deutschlands unter preußischer Vorherrschaft entstand im Zentrum des Kontinents eine neue Großmacht, die die Stellung der alten Großmächte bedrohte.

Die Außenpolitik Bismarcks war darauf ausgerichtet, ein Bündnis dieser Großmächte gegen Deutschland zu verhindern. Zu diesem Zweck entwickelte er ein kompliziertes Bündnissystem und nutzte die Auseinandersetzung um das Erbe des türkischen Reichs auf dem Balkan skrupellos, im die anderen Mächte gegeneinander auszuspielen und so im Gleichgewicht zu halten.

Das Bismarcksche System konnte allerdings nur so lange funktionieren, wie Deutschland mit der inneren wirtschaftlichen Konsolidierung beschäftigt war und keine eigenen imperialistischen Ziele verfolgte. Ab ungefähr 1890 war das nicht mehr der Fall. Da um diese Zeit Wilhelm I starb, nach einem kurzen Zwischenspiel durch seinen Enkel Wilhelm II abgelöst wurde und Bismarck zurücktrat, werden das Scheitern des Bismarckschen Systems und die Veränderungen der deutschen Außenpolitik oft mit dem Personalwechsel an der Spitze des Reiches erklärt. Doch das stimmt nur sehr bedingt.

Entscheidend war der wirtschaftliche Aufstieg Deutschlands, das Zugang zu den Rohstoffen und Absatzmärkten der Welt brauchte und dessen Kapital nach neuen Investitionsmöglichkeiten suchte. Der Bau einer Flotte, die England die Seeherrschaft streitig machte, das Projekt der Bagdad-Bahn, die dem deutsche Kapital den Weg in den Orient bahnen sollte, und das Bemühen um eigene Kolonien waren das Ergebnis davon. Trotzki hat die Lage Deutschlands später in der Formel zusammengefasst: „Je größer die innere dynamische Kraft der Produktivkräfte Deutschlands ist, desto mehr wird sie durch das europäische Staatensystem erdrosselt, das dem Käfig-System einer zusammengeschrumpften Provinzmenagerie gleicht.“

Nun geschah, was Bismarck hatte verhindern wollen. Die anderen Großmächte schlossen sich gegen Deutschland zusammen. 1902 war Deutschland weitgehend isoliert. Es hatte nur noch Österreich-Ungarn als Bündnispartner, während sich England, Frankreich und Russland verbündeten. Die Bündnisse und Machtblöcke, die im Ersten und im Zweiten Weltkrieg aufeinander prallen sollten, standen weitgehend fest.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die „deutsche Frage“ dann durch die Integration des westdeutschen Staats in die Nato und die Europäische Gemeinschaft entschärft. Das wurde auch durch die Tatsache erleichtert, dass die Bundesrepublik nur noch etwa halb so groß war wie das Kaiserreich. Zwischen Deutschland und Frankreich entwickelte sich eine rege politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit. Frankreich ist bis heute der wichtigste Handelspartner Deutschlands; dasselbe gilt umgekehrt.

Die Rückkehr der „deutschen Frage“

Doch bereits 1990 wurde die „deutsche Frage“ mit der Wiedervereinigung wieder akut. Das innere Gleichgewicht Europas wurde durch die Vereinigung Deutschlands und den Fall des Eisernen Vorhangs empfindlich gestört. Die britische, die französische und die italienische Regierung hatten sich damals bekanntlich der deutschen Vereinigung widersetzt, konnten sie aber nicht verhindern.

Man einigte sich schließlich darauf, Deutschland durch eine gemeinsame europäische Währung und die Gründung der Europäischen Union enger einzubinden. Frankreich erhoffte sich davon eine bessere Kontrolle über den wirtschaftlich stärkeren Nachbarn. Bundeskanzler Helmut Kohl gab die ursprüngliche deutsche Forderung auf, der Währungsunion müsse eine politische Union vorangehen. Stattdessen sollte Europa, gestützt auf die Logik des Binnenmarkts und der gemeinsamen Währung, nach und nach enger zusammenwachsen.

In den folgenden Jahren war die Vorstellung, die ökonomische Dynamik des Euro werde Europa harmonisch expandieren und zusammenwachsen lassen, weit verbreitet. Noch im Jahr 2000 hielt der damalige deutsche Außenminister Joschka Fischer (Grüne) an der Humboldt-Universität eine viel beachtete Rede, in der er sich zum Ziel eines föderalen Europa bekannte. Die EU selbst wurde bis 2007 auf 27 Mitglieder erweitert, der Euro 1999 als gemeinsame Rechnungswährung und 2002 als Bargeld eingeführt. Mittlerweile ist er die offizielle Währung von 17 EU-Mitgliedsstaaten.

Doch der politische Einigungsprozess kam zunehmend ins Stocken.

Bereits in den 1990er Jahren konnten sich die europäischen Mächte nicht auf ein gemeinsames Vorgehen in der Jugoslawienkrise einigen. Während Deutschland auf eine schnelle Spaltung drängte, widersetzten sich England und Frankreich diesem Kurs. Das öffnete die Tür für das Eingreifen der USA, die den anschließenden Krieg dominierten.

2003 versetzte der Irakkrieg den Plänen für eine gemeinsame europäische Außenpolitik einen weiteren Schlag. Europa war tief gespalten. Während England und Polen den Krieg unterstützten, lehnten ihn Deutschland und Frankreich ab.

2005 scheiterte der Entwurf einer europäischen Verfassung an Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden. Der Vertrag von Lissabon, der Ende 2009 an ihrer Stelle in Kraft trat, erwies sich als schwacher Ersatz. Die Ernennung der weitgehend unbekannten Catherine Ashton zur EU-Außenvertreterin war der lebende Beweis dafür, dass keine europäische Regierung bereit war, ihre außenpolitischen Interessen einer gemeinsamen europäischen Linie unterzuordnen.

Mit dem gemeinsamen Vorgehen Frankreichs, Englands und der USA in Libyen hat die Spaltung Europas jetzt ein neues Stadium erreicht. Frankreich und England handeln sowohl politisch wie militärisch völlig außerhalb der bestehenden EU-Strukturen. Anders als im Irakkrieg verläuft die Spaltung nicht mehr zwischen dem „alten“ und dem „neuen“ Europa, sondern zwischen Frankreich, England und einigen westeuropäischen Staaten auf der einen und Deutschland und den osteuropäischen Staaten auf der anderen Seite.

Deutsche Interessen in Nordafrika

Die Stimmenthaltung Deutschlands im UN-Sicherheitsrat entspringt dabei ebenso wenig einer individuellen Laune von Außenminister Westerwelle wie vor 120 Jahren die Politik des Kaiserreichs den subjektiven Intentionen Wilhelms II und seines Kanzlers Bernhard von Bülow. Beide sind das Ergebnis langfristiger Tendenzen und Entwicklungen. Westerwelles Stimmenthaltung ist die logische Folge von außenpolitischen und ökonomischen Differenzen zwischen Deutschland und Frankreich, die sich über lange Zeit entwickelt haben.

Deutschland verfolgt in Nordafrika und im Nahen Osten eigene Interessen, die mit jenen Frankreichs zusammenprallen. In einer Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik über die „Deutsche Nah-, Mittelost- und Nordafrikapolitik“, die bereits zwei Jahre vor dem Libyen-Krieg erschien, heißt es dazu: „Noch in den neunziger Jahren spielte der Maghreb in der hiesigen Außenpolitik eine marginale Rolle; von klarer Formulierung deutscher Interessen konnte keine Rede sein. Spätestens seit der Jahrtausendwende hat die Region indes für deutsche Außenpolitik aus drei Gründen sukzessive an Bedeutung gewonnen: dem höheren Stellenwert der Energiesicherheit, der Eindämmung der Migration sowie der Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität.“

Die Energieversorgung steht dabei an erster Stelle: „Öl und Gas aus diesen Staaten (werden) für die deutsche Energieversorgung immer wichtiger. Libyen ist heute Deutschlands viertwichtigster Erdöllieferant; Algerien liegt an achter Stelle“, heißt es in der Studie.

Der Interessenkonflikt zwischen Deutschland und Frankreich im arabischen Raum war schon vor drei Jahren, bei der Auseinandersetzung über die sogenannte Mittelmeerunion deutlich geworden. Sarkozy hatte das Ziel einer Mittelmeerunion seit seiner Amtsübernahme im Jahr 2007 verfolgt. Sie sollte alle Mittelmeeranrainerstaaten unter französischer Führung vereinen und ein Gegengewicht zum wachsenden wirtschaftlichen und politischen Einfluss Deutschlands in Osteuropa bilden. In Berlin stießen Sarkozys Pläne auf erbitterten Widerstand. Man fürchtete, Frankreich könnte durch eine Neubelebung seiner kolonialen Ambitionen Deutschland die führende Rolle in der EU streitig machen. Außerdem sah man die deutschen Interessen in Nordafrika in Gefahr.

In der bereits zitierten SWP-Studie heißt es dazu: „Die von Frankreich lancierte Idee einer Mittelmeerunion, die ursprünglich nur Mittelmeeranrainer umfassen sollte, war als Instrument zur Absicherung und zum Ausbau des französischen Einflusses in der Region gedacht. Die französische Sonderposition hat insbesondere für deutsche Wirtschaftspolitik negative Folgen. Zwar gelten deutsche Produkte als solide, deutsche Formen als ausgesprochen seriös, und nahezu permanent rufen maghrebinische Offizielle nach einem stärkeren deutschen Engagement. Bei Vertragsabschlüssen kommt aber nach wie vor die französische Wirtschaft häufiger zum Zuge.“

Gleichzeitig ist Deutschland nicht das einzige Land, das sich für Nordafrika interessiert: „Längst ist ein sich intensivierender Wettbewerb einer immer größeren Zahl von internationalen Akteuren im Gange: Die USA, Russland, Spanien, Italien, Großbritannien und zunehmend auch China, Indien und lateinamerikanische Staaten bemühen sich um Energie- und Sicherheitskooperation (inklusive Waffenverkäufe) sowie um den Aufbau der maghrebinischen Transportinfrastruktur und generell um Aufträge im Bausektor.“

Wie stark sich China bereits engagiert hat, zeigte sich, als bei Ausbruch des Libyen-Kriegs 75 chinesische Firmen und 36.000 chinesische Arbeiter das Land verlassen mussten. Libyen ist übrigens das einzige nordafrikanische Land, das die Mittelmeerunion ablehnte.

Die Mittelmeerunion wurde schließlich im Sommer 2008 gegründet und nahm im Mai 2010 ihre Arbeit auf. Doch Deutschland hatte sich weitgehend durchgesetzt. Statt nur die Mittelmeeranrainer gehörten ihr nun sämtliche EU-Mitglieder an, so dass Frankreich sie nicht mehr ausschließlich für seine Interessen einsetzen konnte.

Sarkozy hat nun die Ereignisse in Libyen benutzt, um wieder in die Offensive zu gelangen. Die Revolutionen in Tunesien und Ägypten hatten Frankreich schwer getroffen, das besonders enge Beziehungen zu den gestürzten Herrschern Ben Ali und Mubarak unterhielt. Mubarak war gemeinsam mit Sarkozy auch Vorsitzender der Mittelmeerunion. Deutschland versprach sich dagegen gute Chancen, nach einem Machtwechsel mit den neuen Herrschern ins Geschäft zu kommen. In Libyen bot sich Sarkozy nun die Chance, die Rebellion gegen Gaddafi im eigenen Interesse zu nutzen. Sarkozy erkannte als erster – zur Überraschung selbst seines Außenministers – den Übergangsrat in Bengasi an und drängte auf eine militärische Intervention. Der britische Regierungschef Cameron und Präsident Obama unterstützten ihn dabei.

Die Krise der Europäischen Union

Die Differenzen zwischen Deutschland und Frankreich beschränken sich nicht auf außenpolitische Fragen. Auch in Wirtschafts- und Finanzfragen gibt es heftige Konflikte, die den Euro und die Europäische Union zu sprengen drohen.

Anders als von Helmut Kohl, Joschka Fischer und anderen erwartet, hat die Einführung des Euro nicht zur Harmonisierung Europas geführt. Sie hat die ökonomischen und sozialen Gegensätze in Europa im Gegenteil deutlich verschärft. Es gibt zu dieser Frage viel statistisches Material, das deutlich zeigt, dass die wachsenden Differenzen zwischen Deutschland und Frankreich und das Auseinanderbrechen der EU keine zufälligen Entwicklungen sind.

Die deutsche Wirtschaft hat von der Einführung des Euro in hohem Maße profitiert. Die deutschen Exporte haben sich zwischen 1990 – dem Jahr der Wiedervereinigung – und 2008 fast verdreifacht: von 348 auf 984 Milliarden Euro. Auch die Importe sind stark gestiegen: von 293 auf 806 Milliarden Euro.

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Wichtig ist dabei vor allem der Anstieg des Außenhandelsüberschusses. Er hat sich zwischen 1990 und 2008 mehr als verdreifacht. Nach der Wiedervereinigung war er anfangs zurückgegangen. Die deutsche Wirtschaft war eher auf den Binnenhandel als auf den Außenhandel konzentriert. Doch im Laufe der 1990er Jahre stieg er dann kontinuierlich an. Der größte Sprung erfolgte von 2000 bis 2005. In diesen Jahren stieg der Außenhandelsüberschuss um 22 Prozent pro Jahr. 2007 erreichte er mit rund 200 Milliarden Euro einen Rekordwert.

Im Wesentlichen trugen drei Faktoren zum Anstieg der deutschen Exporte und des Außenhandelsüberschusses bei – die Einführung des Euro, die EU-Osterweiterung und die niedrige Lohnentwicklung aufgrund der Agenda 2010.

Der Euro schützte Deutschland gegen Währungsschwankungen innerhalb Europas, hielt den Wert der Währung im internationalen Maßstab niedrig und stärkte so die deutsche Exportindustrie in Europa und auf dem Weltmarkt.

2008 gingen 63 Prozent aller deutschen Exporte in die Europäische Union und 43 Prozent in die Eurozone. Zwei Drittel der Exporte wurden in Euro in Rechnung gestellt und waren damit von Wechselkursschwankungen weitgehend unabhängig.

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Der Euro hielt die deutsche Währung künstlich niedrig. Bei Beibehaltung der nationalen Währungen wäre der Kurs der D-Mark gegenüber inflationären Währungen wie der griechischen Drachme, der spanischen Peseta, der italienischen Lira und dem französischen Franc stark angestiegen. Auch gegenüber dem Dollar und dem Yen wäre die DM wohl höher bewertet worden als der Euro. Mit dem Euro blieben die Währungsrelationen dagegen stabil.

Während die Preise und die Nominallöhne in den schwächeren europäischen Ländern mit der Einführung des Euro stark anstiegen, erhöhten sie sich in Deutschland kaum. Das war in erster Linie der Agenda 2010 der Regierung Schröder, die einen riesigen Niedriglohnsektor schuf und das Lohnniveau deutlich senkte, sowie den niedrigen Lohnabschlüssen der Gewerkschaften zu verdanken.

Als Folge verzeichnete Deutschland im Zeitraum 2000 bis 2010 den geringsten Anstieg der Lohnstückkosten in ganz Europa. In Deutschland betrug der jährliche Anstieg lediglich 0,7 Prozent. Der EU-Durchschnitt lag bei 2,1 Prozent. In Griechenland stiegen die Lohnstückkosten jährlich um 3 Prozent, in Portugal um 2,7 Prozent und in Spanien um 2,6 Prozent. Auch in Frankreich stiegen die Lohnstückkosten mit jährlich 1,9 Prozent mehr als doppelt so schnell wie in Deutschland.

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Die Folge war ein starker Anstieg der wirtschaftlichen Ungleichgewichte in Europa. Während Deutschland steigende Außenhandelsüberschüsse erzielte, wuchsen in Frankreich und England die Defizite. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt erzielte Deutschland 2008 einen Außenhandelsüberschuss von 7,1 Prozent. Frankreich wies dagegen ein Defizit von 3,5 Prozent aus, England von 6,6 Prozent und Polen von 6,8 Prozent.

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Auch die Osterweiterung der Europäischen Union kam in erster Linie Deutschland zugute. Während der Anteil der Ausfuhren in die alten EU-Staaten deutlich abnahm, verdoppelte sich der Anteil der Ausfuhren in die neuen Mitgliedsländer. Diese werden von Deutschland als verlängerte Werkbank benutzt. In der Außenhandelsstatistik sind nämlich nicht nur die Ausfuhr fertiger Produkte wie Autos und Maschinen, sondern auch der sogenannte „intra firm trade“ enthalten. Wenn eine Ware im Verlauf ihrer Produktion mehrmals die Grenze überschreitet, schlägt sich dieser „Globalisierungseffekt“ in der Statistik nieder und bläht sie künstlich auf.

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Nicht nur in Europa, auch international haben sich die Gewichte im internationalen Handel in den vergangenen zwanzig Jahren deutlich verschoben. Deutschland hat die USA bei den Exporten überholt, während Japan stark zurückgefallen ist. Der eigentliche Aufsteiger ist aber China, dessen Exporte von 62 Milliarden US-Dollar im Jahr 1990 auf 1,4 Billionen US Dollar im Jahr 2008 gestiegen sind. Das ist eine Erhöhung um das 22-Fache.

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Ein weiterer wichtiger Maßstab für die internationalen Wirtschaftsbeziehungen sind die Internationalen Direktinvestitionen (Foreign Direct Investment, FDI). Die OECD definiert die FDI folgendermaßen: „Internationale Direktinvestition bezeichnet die Investition einer Einheit, die in einer Wirtschaft ansässig ist, mit dem Ziel, ein anhaltendes Interesse an einem Unternehmen zu erwerben, das in einer anderen Wirtschaft ansässig ist.“

Es geht also darum, durch Kapitalexport Arbeiter in anderen Ländern auszubeuten. Schon Lenin hatte den Kapitalexport als wichtiges Kennzeichen des Imperialismus bezeichnet. Er schrieb: „Für den alten Kapitalismus, mit der vollen Herrschaft der freien Konkurrenz, war der Export von Waren kennzeichnend. Für den neuesten Kapitalismus, mit der Herrschaft der Monopole, ist der Export von Kapital kennzeichnend.“

Auch auf diesem Gebiet hat in den letzten beiden Jahrzehnten eine starke Entwicklung stattgefunden. Gestützt auf seine hohen Exportüberschüsse ist Deutschland zu einem wichtigen Kapitalexporteur geworden. Seit 1990 haben sich die deutschen Kapitalinvestitionen im Ausland versechsfacht, während die ausländischen Kapitalinvestitionen in Deutschland um das Vierfache gestiegen sind.

Gemessen an der Wirtschaftsleitung und auch in absoluten Zahlen liegen aber die alten europäischen Kolonialmächte England und Frankreich hier aber noch deutlich vor Deutschland.

England hatte 2008 einen Gesamtbestand von Direktinvestitionen im Ausland von 57 Prozent des BIP. Es lag damit deutlich vor Frankreich mit 50 und Deutschland mit 40 Prozent. Auch in absoluten Zahlen lag England mit 1,8 Billionen Dollar vor Frankreich mit 1,3 und Deutschland mit 1,2 Billionen Dollar. Führend waren hier die USA mit 3,5 Billionen Dollar.

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Die deutschen Direktinvestitionen konzentrierten sich außerdem weitgehend auf Europa und die USA. 2004 waren 50 Prozent in den alten EU-Ländern und 30 Prozent in den USA investiert. 6 Prozent entfielen auf die neuen EU-Mitglieder und lediglich 1 Prozent auf China.

Die Folgen der internationalen Finanzkrise

Alle bisher angeführten Zahlen beziehen sich auf die Zeit vor Ausbruch der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise. Diese Krise markiert eine historische Zäsur. Alle ökonomischen Gegensätze, die sich unter der Oberfläche angesammelt hatten, sind aufgrund der Krise wie eine Eiterbeule aufgebrochen. Die Folge sind heftige politische und soziale Erschütterungen mit revolutionären Konsequenzen. Das Anwachsen interimperialistischer Konflikte geht – wie in der Periode vor dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg – mit heftigen Angriffen auf die Arbeiterklasse einher.

Der Lebensstandard der Arbeiterklasse hatte bereits vor der Krise seit rund dreißig Jahren stagniert und die sozialen Sicherheitssysteme waren seit langem systematisch abgebaut worden. In Osteuropa hatte die Restauration des Kapitalismus katastrophale Folgen. Von den einst relativ gut funktionierenden Bildungs- und Gesundheitssystemen war nichts übrig geblieben. Bei einem Preisniveau, das sich rasch dem westeuropäischen annäherte, verdienten Arbeiter und Angestellte teilweise nur einen Zehntel des westlichen Gehalts.

Die folgende Statistik zeigt das durchschnittliche Jahresgehalt eines Vollzeit Beschäftigten in einem Betrieb mit zehn oder mehr Angestellten im Jahr 2006. Es schwankt zwischen 43.000 Euro in Dänemark und 1.900 Euro in Bulgarien. Ein bulgarischer Arbeiter verdiente also im Schnitt weniger als ein Zwanzigstel des Gehalts eines dänischen Arbeiters. Griechenland und Spanien liegen mit 20.000 Euro irgendwo dazwischen. Das ist weniger als die Hälfte eines dänischen Gehalts, aber immer noch zehn Mal so viel wie in Bulgarien.

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Nach der internationalen Finanzkrise nehmen die Angriffe auf den Lebensstandard der Arbeiterklasse zerstörerische Formen an. Die Billionensummen, die zur Deckung ihrer Spekulationsverluste an die Banken gingen, werden jetzt rücksichtslos auf Kosten der Arbeiterklasse wieder hereingeholt. Das beginnt an der europäischen Peripherie und pflanzt sich immer weiter ins Zentrum fort.

Ungarn, Rumänien, Griechenland, Irland und Portugal unterliegen jetzt schon Sparprogrammen des IWF, die den Lebensstandard der Bevölkerung um 20 bis 30 Prozent senken, die Preise durch höhere Mehrwertsteuern in die Höhe treiben und den öffentlichen Dienst durch Personalabbau und finanzielle Kürzungen dezimieren. Das Leben in diesen ohnehin schon armen Ländern wird dadurch buchstäblich unerträglich.

In Griechenland hat die Regierung Papandreou soeben ein weiteres Sparprogramm angekündigt, nachdem die ersten beiden den Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung bereits um dreißig Prozent gesenkt haben. Portugal muss ein ähnliches Spardiktat verwirklichen, nachdem es die EU und den IWF um Finanzhilfe gebeten hat.

Auch in England hat die Regierung Cameron ein Sparprogramm beschlossen, das vom öffentlichen Gesundheitssystem, der kostenfreien Bildung und anderen Errungenschaften der britischen Arbeiterklasse nichts übrig lassen wird.

In Deutschland und Frankreich konzentrieren sich die sozialen Angriffe derzeit auf die Erhöhung des Rentenalters, eine immer weitere Flexibilisierung der Arbeit, wachsenden Druck auf Sozialhilfeempfänger und – damit verbunden – die Ausdehnung der Niedriglohnarbeit. Aber sie werden dabei nicht Halt machen.

Leo Trotzki beschrieb Europa 1923 als ein Tollhaus, das zerrissen, zersplittert, erschöpft, desorganisiert und balkanisiert wird. Diese Tendenzen setzen sich heute wieder durch. Die Zeit, in der die deutsche Exportwirtschaft vom Euro profitierte, während der Euro ärmeren Ländern Zugang zu günstigen Krediten und damit zumindest den Schein von wirtschaftlichem Wohlstand verschaffte, sind vorbei. Die herrschende Klasse wendet sich in wachsendem Maße von ihrem europäischen Projekt ab und verfolgt aggressiv nationale Interessen. Die Kosten für den ökonomischen Niedergang und die wachende Militarisierung, die damit einhergehen, bürdet sie der Arbeiterklasse auf.

In den herrschenden Kreisen Deutschlands und anderer nordeuropäischer Länder mehren sich die Stimmen, die den Erhalt des Euro für zu teuer halten und die gemeinsame Währung lieber heute als Morgen aufgeben wollen. Auffassungen, man solle die gemeinsame Währung auf eine kleine Gruppe nordeuropäischer Länder beschränken, die bisher nur von Außenseitern wie Olaf Henkel in seinem Buch „Rettet unser Geld“ vertreten wurden, gewinnen Unterstützung. Rechtspopulistische Parteien, wie die Wahren Finnen und der französische Front National, die gegen die EU und den Euro auftreten, sind im Aufwind und werden von den Medien gefördert. Auch in Deutschland haben zahlreiche Talkshows Rechtspopulisten wie Thilo Sarrazin und Olaf Henkel über Wochen hinweg eine öffentliche Plattform geboten.

Zwischen Deutschland und Frankreich toben heftige Konflikte über die Gestaltung des Euro-Rettungsschirms. Während Deutschland für einen Schuldenschnitt eintritt, der Griechenland und andere betroffene Länder von privaten Krediten abschneiden und ihr Bankensystem zum Zusammenbruch bringen könnte, lehnt Frankreich dies vehement ab, da es fürchtet, selbst in Mitleidenschaft gezogen zu werden.

Die Abkehr vom Euro geht mit einer Neuorientierung der Wirtschafts- und Außenpolitik einher. Bisher liegen dazu noch keine umfassenden Daten vor, doch einige Tendenzen sind deutlich erkennbar.

So ist der deutsche Export 2009 als Folge der Krise um 19 Prozent eingebrochen. 2010 wurde dieser Einbruch wieder aufgeholt und der Rekordwert von 2008 fast wieder erreicht. Doch während die Exporte in die Eurozone nur um 14 Prozent zunahmen und damit deutlich hinter den Werten vor der Krise zurückblieben, erhöhten sich die Exporte nach China 2010 um 44 Prozent und die Exporte nach Russland um 28 Prozent.

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Auch für seine Direktinvestitionen wird Deutschland verstärkt Anlagemöglichkeiten außerhalb Europas suchen. Das ist einer der Gründe für die Auseinandersetzungen über den Libyen-Krieg. Es geht in diesem Krieg um Öl, aber auch um Absatzmärkte, Kapitalexport und die Unterdrückung der Revolution im gesamten arabischen Raum. Die Rückkehr Frankreichs und Englands (und inzwischen auch Italiens) zu einer aggressiven Kolonialpolitik muss in diesem Zusammenhang verstanden werden. Angesichts der Krise der Europäischen Union kehren sie zu den Methoden zurück, die ihnen in früheren Zeiten die Oberhand über den deutschen Rivalen gesichert haben.

Auf militärischem Gebiet sind England und Frankreich Deutschland derzeit noch überlegen. Deutschland gibt nur 1,3 Prozent seines BIP für Militärausgaben aus. In Frankreich sind es 1,6 Prozent und in England mit 2,8 Prozent mehr als doppelt so viel. Beide verblassen allerdings gegenüber den USA, die fast 5 Prozent des BIP in Militärausgaben stecken.

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Wie 1890, als es sich von allen Seiten „isoliert“ fühlte, wird Deutschland nach Mitteln und Wegen suchen, seine Interessen mit anderen Methoden zu verteidigen. Eine außenpolitische Neuorientierung ist dabei ebenso unvermeidlich wie eine verstärkte Aufrüstung der Bundeswehr. Beides geht allerdings nicht ohne innere Konflikte und Krisen ab.

Die politische Krise in Europa

Der Umbruch in Europa hat eine tiefe Krise aller bürgerlichen Parteien ausgelöst. Weil die Mittelklassen auseinanderdriften bricht den sogenannten Volksparteien die soziale Basis weg, und die Neuorientierung der Außen- und Wirtschaftspolitik erzeugt unvermeidliche politische Spannungen. In Frankreich, Deutschland und Italien befinden sich die konservativen Regierungen in einer tiefen Krise. Wären demnächst Wahlen, würden sie sich wohl kaum an der Macht halten können.

Bisher konnte die herrschende Klasse diese Krise beherrschen, weil der Arbeiterklasse eine unabhängige Führung und politische Perspektive fehlt. Ab Mitte der 1990er Jahre stützte sie sich vor allem auf die sozialdemokratischen Parteien und auf die Gewerkschaften, um ihre Herrschaft zu sichern – auf Tony Blairs New Labour in England, die rot-grüne Koalition von Schröder und Fischer in Deutschland, die Regierung Jospin in Frankreich und die Regierung Prodi in Italien. Als Folge haben sich die Sozialdemokraten diskreditiert und nicht wieder davon erholt.

Seither benutzt die Bourgeoisie vermehrt ehemalige linke, kleinbürgerliche Kräfte, um die Arbeiterklasse unter Kontrolle zu halten und eine unabhängige revolutionäre Bewegung zu ersticken. Eine Schlüsselrolle spielen hier die französischen Pablisten, die vom Niedergang der Sozialistischen Partei profitieren und erhebliche Wahlerfolge erzielen konnten. Sie reagierten auf ihren „Erfolg“, indem sie jede formale Beziehung zum Trotzkismus abbrachen und die Neue Antikapitalistische Partei (NPA) gründeten. Seither treten sie immer offener als bürgerliche, pro-imperialistische Partei auf. Sie waren maßgeblich daran beteiligt, die Streikbewegungen gegen Sarkozy zu unterdrücken. Inzwischen rechtfertigen sie auch den Libyen-Krieg.

Eine ähnliche Rolle spielt in Deutschland die Linkspartei, die von Sozialdemokraten, Gewerkschaftsfunktionären und Ex-Stalinisten gegründet wurde, um Niedergang der Sozialdemokratie zu stoppen, und sämtliche kleinbürgerlichen Radikalen in ihre Reihen aufnahm.

Mittlerweile hat die Fäulnis der bürgerlichen Politik ein Ausmaß erreicht, in dem auch wieder rechte und faschistische Strömungen gedeihen. In Frankreich liegt der Front National in den Umfragen regelmäßig vor Sarkozys UMP. In Finnland haben die Wahren Finnen bei der jüngsten Wahl einen Fünftel der Stimmen erhalten. In Ungarn knüpft die regierende Fidesz an die autoritären Traditionen des Horthy-Regimes an. Und auch in Italien, Österreich, Dänemark, Holland und der Schweiz spielen rechtspopulistische Parteien eine wichtige politische Rolle.

Sie verdanken ihren Erfolg dem Umstand, dass die bürgerliche „Linke“ und „extreme Linke“ weit nach rechts gerückt sind und ihnen die Artikulierung des sozialen Protests überlassen. So hat Marine Le Pen, die die Führung des Front National im Januar von ihrem Vater Jean-Marie übernahm, den Schwerpunkt des Parteiprogramms verstärkt auf soziale Fragen verlagert und damit – das legen zumindest einige Umfragen nahe – auch Stimmen unter Arbeitern gewonnen.

Gleichzeitig erhalten die Ultrarechten erhebliche Unterstützung von den Medien und den traditionellen bürgerlichen Parteien. Diese bahnen ihnen den Weg, indem sie ihr ausländerfeindliches Programm übernehmen oder mit ihnen zusammenarbeiten. So sind in Frankreich Antiislamismus und Ausländerfeindlichkeit offizielle Regierungspolitik und werden – wie das Kopftuch- und Verschleierungsverbot – auch von angeblichen „Linken“ unterstützt. Ein Flügel der regierenden UMP plädiert für Wahlbündnisse mit dem Front National.

Für die Arbeiterklasse muss diese Unterstützung für die extreme Rechte eine Warnung sein. Die Bourgeoisie ist in wachsendem Maße bereit, zu faschistischen Methoden Zuflucht zu nehmen, um die Arbeiterklasse zu unterdrücken.

In Deutschland gab es ebenfalls gezielte Kampagnen zur Förderung von Ausländerfeindlichkeit und Rassismus. So haben die Medien Thilo Sarrazin wochenlang eine Plattform geboten, um seine rassistischen Thesen zu verbreiten. Unterstützung hat er damit vor allem in wohlhabenden Kreisen des Kleinbürgertums gefunden. Derzeit steht aber eine andere politische Entwicklung im Vordergrund: der Aufstieg der Grünen, der eine sorgfältige politische Analyse erfordert.

Die Grünen haben ihre politischen Wurzeln in der 68er Protestbewegung. In dieser Hinsicht gibt es Parallelen zu den französischen Ex-Linken. Allerdings haben sich die Grünen bereits Ende der 1990er Jahre in eine offen imperialistische Partei verwandelt. Als Regierungspartei spielten sie eine entscheidende Rolle bei der Wiederbelebung des deutschen Militarismus und bei der Verwirklichung der Agenda 2010, bei der sie Bundeskanzler Gerhard Schröder gegen Opposition in den Reihen seiner eigenen Partei unterstützten. Nun werden sie angesichts der Krise aller anderen bürgerlichen Parteien gebraucht, um kleinbürgerliche Schichten gegen die Arbeiterklasse zu mobilisieren. Das ist der Inhalt ihres Programms, das blumige Versatzstücke aus der Umwelt-, Identitäts- und Alternativpolitik mit einem strikten Sparkurs verknüpft.

Die Aufgaben der PSG

Die fortgeschrittenen Krise in Europa stellt die Partei für Soziale Gleichheit und ihre europäischen Gesinnungsgenossen vor große politische Herausforderungen. Man kann schwer voraussagen, wie sich die nächsten Stadien der Krise konkret entwickeln werden. Sicher ist aber, dass sich diese Krise weiter verschärfen und über eine lange Zeit hinziehen wird.

Die Arbeiterklasse wird die Angriffe auf ihre sozialen und demokratischen Rechte nicht widerstandslos hinnehmen, auch wenn ihr ihre alten Organisationen in den Rücken gefallen sind. Wir haben in jüngster Zeit ein deutliches Anwachsen von Protesten und Arbeitskämpfen erlebt. Die Revolutionen in Tunesien und in Ägypten sowie das Erwachen des Klassenkampfs in den USA haben internationale Bedeutung.

Die Verantwortung, diesen Kämpfen eine Führung und Orientierung zu geben, liegt beim Internationalen Komitee der Vierten Internationale und seiner deutschen Sektion, der PSG. Unsere Arbeit während der letzten 25 Jahre hat uns auf diese Aufgabe vorbereitet.

1985/86 brachen wir von den Renegaten der britischen Workers Revolutionary Party, die dem Internationalismus den Rücken kehrten und sich dem Stalinismus, der Gewerkschaftbürokratie und dem kleinbürgerlichen Nationalismus zuwandten. Ohne diese Spaltung befänden wir uns heute im Lager der Linkspartei. Seither haben wir unsere Haltung zu den Gewerkschaften und den nationalen Bewegungen geklärt, die Partei für Soziale Gleichheit gegründet und die World Socialist Web Site aufgebaut.

Auch die Auseinandersetzung mit der Linkspartei, der französischen NPA und Strömungen, die versucht haben, die Ideologie der Frankfurter Schule in unsere Bewegung einzuschmuggeln, haben uns politisch und ideologisch auf jetzige Situation vorbereitet. Die erfolgreichen Konferenzen, die die amerikanische Socialist Equality Party kürzlich unter dem Motto „The Fight for Socialism Today“ durchgeführt hat, unterstreichen, dass unser Programm wachsende Resonanz in der Arbeiterklasse findet.

Der Aufbau des Internationalen Komitees der Vierten Internationale in Europa erfordert einen ständigen politischen und ideologischen Kampf gegen pseudo-linke und kleinbürgerliche Parteien wie die Grünen sowie eine systematische Offensive in der Arbeiterklasse. Beides ist untrennbar miteinander verbunden.

Unsere Teilnahme an der Berliner Abgeordnetenhauswahl im September wird dabei eine wichtige Rolle spielen. In Berlin bündeln sich in vieler Hinsicht alle sozialen und politischen Fragen Europas. Die Stadt wird von Arbeitslosigkeit und Niedriglohnarbeit dominiert. Im bürgerlichen Lager stehen sich auf der einen Seite die Grünen und auf der anderen ein Bündnis von Sozialdemokraten und Linkspartei gegenüber, das von den kleinbürgerlichen Ex-Linken unterstützt wird. CDU und FDP spielen kaum eine Rolle.

Unser Wahlkampf wird sich darauf konzentrieren, in einem systematischen politischen und ideologischen Kampf gegen beide Lager neue Mitglieder zu gewinnen und politisch auszubilden.

Wir werden diesen Wahlkampf auf der Grundlage einer europäischen und internationalen Perspektive führen. Die Perspektive der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa spielt sowohl im Kampf gegen die Anhänger der EU wie gegen ihre ultrarechten Gegner eine entscheidende Rolle. Vom Standpunkt der Arbeiterklasse ist der wirtschaftliche Zusammenschluss Europas unbedingt notwendig. Aber diese Aufgabe kann nicht der Bourgeoisie und ihren europäischen Institutionen überlassen werden, deren Politik die Gräben und Gegensätze in Europa ständig vertieft. Sie ist untrennbar mit der Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse und der Verwirklichung eines sozialistischen Programms verbunden.

In seiner Rede „Europa und Amerika“ sagte Leo Trotzki 1926 dazu: „Wo die Revolution auch anfangen mag, in welchem Tempo sie sich auch entfalten mag – die unbedingte Voraussetzung für den sozialistischen Umbau Europas ist ein wirtschaftlicher Zusammenschluss. Die Komintern hat das 1923 bereits gesagt: Alle jene, die Europa zersplittert haben, müssen zum Teufel gejagt werden, die Macht des zersplitterten Europa muss erobert werden, um Europa zu vereinigen, um die Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas zu schaffen.“

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