Bill Keller von der NYT über den Irak: Bekenntnis eines liberalen Falken

Bill Keller, der seinen Posten als Chefredakteur der New York Times in diesem Monat aufgab, nutzte den zehnten Jahrestag der Anschläge des 11. September, um eine lange Verteidigungsrede für seine Unterstützung der Bush-Regierung im März 2003 beim Einmarsch in den Irak zu veröffentlichen.

Der unter dem Titel "My Unfinished 9/11 Business: Eine genaue Untersuchung, warum ich den Krieg wollte" auf vier Seiten in der Sonntags-Ausgabe der Zeitung publizierte Artikel hält sein Versprechen jedoch nicht ein. Statt einer "genauen Untersuchung" stellt die Verteidigungsrede eine armselige Ausrede für seine eigenen "Gefühle" und die des gesamten politischen und sozialen Milieus der ehemaligen Liberalen und Ex-Linken im Zuge der Terroranschläge von 2001 dar.

Einer der wichtigsten Verteidigungspunkte Kellers besteht darin, dass er Teil einer "großen und achtenswerten Gruppe" von Experten war, die er als "Ich kann nicht glauben, dass ich ein Falke bin"-Club bezeichnete. Zu denjenigen, die er zu dieser Kategorie zählt, gehören unter anderem Thomas Friedman von der Times, Fareed Zakaria von Newsweek, George Packer und Jeffrey Goldberg vom New Yorker, Richard Cohen von der Washington Post, sowie Andrew Sullivan, Paul Berman und Christopher Hitchens.

Der Artikel hat einen egozentrischen Unterton, der durch den gesamten Text hindurch anhält. Keller beginnt sein Bekenntnis mit der Klage, dass die Gedenkfeiern zum 11. September nur die Opfer und das Heldentum der Ersthelfer ehrt, während sie den "Gefühlen", die er und seine Kollegen an diesem Tag durchlebten, nicht angemessen gedenken: "Die Fassungslosigkeit, die Verletzbarkeit, die Ohnmacht."

Dieses letztere "Gefühl" ist ein Gedankengang, der sich durch Kellers gesamte Abhandlung zieht. In der Zeit nach dem 11. September, erzählt er uns, "fühlte sich sein vorsichtiges Expertentum bald als unzulänglich an."

Er schiebt die Schuld für seine Verwandlung in einen Kriegsbefürworter zum Teil auf die Geburt seiner Tochter und sagt, dass der Drang "etwas zu tun, etwas zu beweisen, seine langjährige Schulung, vorsichtig und skeptisch zu bleiben, überwältigt habe."

Keller sagt, dass er am Vorabend des Krieges keine Argumente gegen den Krieg aufgreifen konnte, weil er und die anderen einstigen Liberalen "noch ein wenig unter dem Einfluss von Testosteron standen. Und vielleicht ein wenig zu sehr mit uns selbst zufrieden waren, weil wir uns dem Bösen entgegenstellt hatten und der Karikatur der Liberalen als, Brie-essende Kapitulations-Affen, getrotzt hatten, um einen Ausdruck aus jenen Tagen zu nutzen."

Ist es glaubwürdig, dass Keller, der Sohn eines ehemaligen Geschäftsführers von Chevron, nach all den Jahren meint, es geschah alles nur wegen dem Testosteron, wenn alle anderen wissen, dass sich alles nur um das Öl drehte? Das Wort mit zwei Buchstaben verdient bei ihm nicht einmal eine Erwähnung.

Schließlich gibt er zu, dass der Krieg gegen den Irak im Nachhinein "ein monumentaler Fehler" war, doch er behauptet: "Ob es falsch war, die Invasion zu dem Zeitpunkt zu unterstützen ist, eine schwierigere Frage." Abschließend folgert er, dass er die Begründung der Bush-Regierung für den Krieg hätte durchschauen können, wenn er "genau genug hingesehen" hätte. Er tat es nicht, sagt er, weil "ich auf der handelnden Seite stehen und mithelfen wollte, denn nur auf der richtigen Seite zu stehen, war nicht genug."

Als Ganzes genommen ist Kellers Bekenntnis sowohl empörend als auch erbärmlich. In Anbetracht der egozentrischen Fixierung auf seine Gefühle, würde man kaum denken, dass er über einen Krieg schreibt, der über einer Million Irakern das Leben gekostet hat, und in dem über 4.000 US-Soldaten getötet und Zehntausende verstümmelt und verwundet wurden. Alle diese Opfer hatten Eltern, ebenso wie seine Tochter, die ebenfalls ihre Kinder schützen wollten. Im Gegensatz zum Chefredakteur der New York Times, haben deren Gefühle aber nicht gezählt.

Während ihm kein geringer Anteil gebührt, der amerikanischen Bevölkerung diesen illegalen Krieg aufgezwungen zu haben, hat Keller selbst nicht im Geringsten unter diesem "monumentalen Fehler" gelitten. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass nicht wenige der Leser, die auf dem Internet auf sein Werk geantwortet haben, sich die Frage stellen, weshalb das Opus nicht seinen Rücktritt beinhaltet.

Aber natürlich gehört Keller zu einer sozialen Schicht, für die Verantwortung zu übernehmen praktisch unbekannt ist. Im Jahr 2005 wurde berichtet, dass der Chefredakteur der Times ein Jahresgehalt von 650.000 US-Dollar bezieht, was ihn direkt zum Mitglied des obersten Prozents der Gesellschaft macht, wo das Wiederaufleben des imperialistischen Militarismus seine wichtigsten Unterstützer findet.

Vieles, was Keller schreibt, ist in grober Weise eigennützig, wenn nicht sogar einfach nur unehrlich.

Seine Unterstützung für den Krieg rechtfertigt er mit den Worten: „Wir vergessen gerne, wie sehr die Meinung verbreitet war, dass Hussein Waffen verstecke, die den Holocaust über einen Nachbarn, oder mittels eines Stellvertreters sogar über Amerika hätten bringen können.

Wenn jemand etwas vergessen hat, dann ist es Keller selbst. Hans Blix, Chef der UN-Rüstungskontrollkommission, Mohammed ElBaradei, Chef der Internationalen Atomenergiebehörde, und Scott Ritter, der ehemalige Chef-Inspektor der UN-Rüstungskontrollkommission, betonten alle, dass es keine Beweise für Massenvernichtungswaffen im Irak gab.

Darüber hinaus besteht die Vorstellung eines "Konsenses" nur bei Keller und seinen gut bezahlten Experten-Kollegen und der herrschenden Elite, der sie dienen. Massen von Menschen auf der ganzen Welt wiesen die Behauptungen einer irakischen Bedrohung ab und über zehn Millionen demonstrierten im Februar 2003, knapp einen Monat vor der Invasion, gegen den Krieg,. Vermutlich sah Keller aus seinem Fenster im New York Times Gebäude die über eine halbe Million starke Menschenmenge, die am 15. Februar die Straßen von New York City gefüllt hatte, um gegen den Krieg zu demonstrieren. Die Times hat ihr Bestes getan, um den Umfang und die Bedeutung dieser Demonstrationen zu verbergen.

Die vielleicht betrügerischste Passage in Kellers Artikel ist die folgende: "... als die Truppen einmarschierten, gingen sie mit meinem Segen. Natürlich glaube ich nicht, dass Präsident Bush die Erlaubnis eines Leitartikel-Kommentators der New York Times, oder besser gesagt von meinen Freunden in der Nachrichtenredaktion der New York Times, benötigte, die in der Vorkriegs-Debatte einige bekanntermaßen leichtgläubige Geschichten über irakische Waffen veröffentlicht hatten. Die Regierung war jedoch sichtlich erfreut darüber, die liberalen Falken als Beweis anführen zu können, dass die Invasion im Irak nicht nur eine ungestüme Handlung von Neokonservativen Cowboys war."

Welch falsche Bescheidenheit! Die Times, mit ihrem Ruf als "führende Zeitung", wie unverdient dieser auch sein mag, spielte eine entscheidende Rolle in der politischen und ideologischen Vorbereitung des Krieges gegen den Irak.

Keller lässt die Namen seiner "Freunde" in der Redaktion diskret weg, obwohl er sich vermutlich auf Judith Miller bezieht, die zusammen mit Regierungsbeamten und rechten Thinktanks systematisch die Lügen über Massenvernichtungswaffen verbreitete. Er vergisst auch die Rolle von Thomas Friedman zu erwähnen, des außenpolitischen Hauptkolumnisten der Zeitung, der eine Kolumne nach der anderen produzierte, um das zu rechtfertigen, was er gerne als "war of choice" (unprovozierten Krieg) gegen den Irak im Namen der Demokratie, der Menschenrechte und des Öls bezeichnete.

Was Keller über den Missbrauch der "liberalen Falken" in der New York Times durch die Bush-Regierung zur Rechtfertigung des Krieges schreibt, ist nur die Spitze des Eisbergs. Tatsache ist, dass die Zeitung eine große Rolle dabei gespielt hatte, den Ton in den gesamten amerikanischen Medien vorzugeben. Im Vorfeld des Irak-Krieges war das eine chauvinistische Kriegs-Propaganda.

Kellers Geständnis, wie seine Gefühle ihn angeblich irreführten, ist kaum zu glauben. Der Herausgeber der Times war kein naiver, frischgebackener Vater, der von seinen unkontrollierbaren Emotionen nach dem 11. September dazu getrieben wurde, den Krieg zu unterstützten. Er wusste ganz genau, was er tat.

Die Beziehungen zwischen den leitenden Redakteuren der Times und der Regierung in Washington sind viel enger als er vorgibt. Dies hat sich in der Zeit seit der Invasion im Irak deutlich gezeigt, als Keller sich entschied, auf Wunsch des Weißen Hauses unter Bush, die Enthüllungs-Geschichte über eine massive nationale Bespitzelungsoperation durch die NSA (Nationale Sicherheitsbehörde) bis nach den Präsidentschaftswahlen 2004 zu unterdrücken. Erst kürzlich gab es die koordinierte Überprüfung von geheimen Diplomatendepeschen, die von WikiLeaks veröffentlicht wurden, wobei die Times-Mitarbeiter vor der Veröffentlichung jeweils das Weiße Haus und die CIA um Genehmigung gebeten hatten.

Ist es so weit hergeholt zu glauben, dass ähnliche Konsultationen über die Berichterstattung der Zeitung und die redaktionelle Linie in Bezug auf die Vorbereitungen auf den Krieg im Irak stattgefunden haben könnten?

Gegen Ende seines Kommentars, schreibt Keller, dass die "letzte große Enthüllung" über seine Zeit als Times-Chefredakteur den Krieg gegen Libyen betrifft. Hier rühmt er sich, dass der "Präsident, die Öffentlichkeit und die Presse ihren Weg durch das Chaos viel vorsichtiger gewählt haben." Für sich persönlich schreibt er seine vermeintlich veränderte Herangehensweise "der teuer bezahlten Einsicht aus dem Irakkrieg" zu.

Diese "Einsicht" scheint darin zu bestehen, zu lernen wie man besser seine Spuren verwischt. In Libyen, genauso wie im Irak, posaunte die New York Times den offiziellen Vorwand, die Zivilisten zu schützen, überall herum und unterstützte dabei einen Angriffskrieg für " einen Regimewechsel ", das heißt zur Einsetzung einer fügsamen Marionettenregierung, um die uneingeschränkte Kontrolle über Libyens Ölreichtum zu sichern. Die Times war so begeistert über diesen neuen "humanitären" Krieg, dass sie ihre Leitartikel dazu verwendete, noch blutigere militärische Taktiken vorzuschlagen, einschließlich des Einsatzes von zu fliegenden Festungen umgebauten amerikanischen AC-130 Kampfflugzeugen zur Vernichtung jeglichen libyschen Widerstands gegen die NATO-Eroberung.

Kellers Geständnis entlarvt nur den intellektuellen und moralischen Bankrott, den er mit der ganzen Schicht von Liberalen und Ex-Linken teilt, die sich der Aufgabe gewidmet haben, am laufenden Band "demokratische" und "humanitäre" Rechtfertigungen für imperialistische Aggressionen zu produzieren. Am Ende war ihre Rolle im Irak-Krieg nicht besser als die der unzähligen kleinbürgerlichen Schreiberlinge, die sich der Aufgabe verschrieben hatten, Rechtfertigungen für die Verbrechen der Nazis zu erfinden.

Keller schreibt: "Präsident Bush hat versagt. Und ich ebenfalls." Nein, die Handlungen von Bush und seinen Komplizen im Irak waren nicht Fehler, sondern Kriegsverbrechen. Und die Rolle, die Keller bei der Förderung dieses illegalen Krieges gespielt hat, macht ihn zumindest zum Komplizen und Vermittler von Kriegsverbrechen.

Loading