Zwanzig Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion

Die kapitalistische Krise und die Radikalisierung der Arbeiterklasse

Das gerade zu Ende gegangene Jahr war Zeuge außergewöhnlicher Ereignisse in aller Welt. 2011 wird in die Geschichte eingehen als das Jahr, in dem es international zum Wiederaufleben des Klassenkampfes kam. Vor nur zwölf Monaten brachten Massenproteste die Diktatur in Tunesien zu Fall. Dem Zusammenbruch des Ben-Ali-Regimes folgte fast unmittelbar ein sozialer Ausbruch in Ägypten, der innerhalb von Wochen zu Hosni Mubaraks Abdankung führte. Die World Socialist Website schätzte die historische Bedeutung des Kampfes, der sich auf Kairos Tahir-Platz entfaltete, korrekt ein. In einer Perspektiven-Kolumne vom 1. Februar schrieb die WSWS: „Die Geschichte hat sich mit aller Macht zurückgemeldet. Was sich gegenwärtig in Kairo und in ganz Ägypten abspielt, ist nichts anderes als Revolution.“

Die WSWS unterschätzte weder die Herausforderungen, vor denen die ägyptische Arbeiterklasse stand, noch erwarteten wir unabhängig von Mubaraks Schicksal einen leichten Sieg über die Bourgeoisie. Wir schrieben:

„Diese Revolution befindet sich erst im Anfangsstadium. Die Klassenkräfte, die durch die Explosion entfesselt wurden, fangen gerade erst an, die Form konkreter Forderungen anzunehmen. Es gibt kaum Programme. Nach Jahrzehnten der Unterdrückung hat die Arbeiterklasse ihr eigenes Programm noch nicht formuliert. In dieser Anfangsphase des Kampfes könnte es gar nicht anders sein… Wie immer zu Beginn revolutionärer Auseinandersetzungen sind die vorherrschenden Losungen allgemein demokratischer Art. Die herrschenden Eliten, die sich vor dem Näherrücken des Abgrundes fürchten, versuchen verzweifelt zu retten, was sie von der alten Ordnung retten können. „Reform“-Versprechen kommen ihnen leicht über die Lippen. Die oberen Schichten der Gesellschaft wünschen sich Veränderungen nur in dem Maße, in dem ihr Vermögen und ihr sozialer Status nicht bedroht werden. Sie richten flammende Appelle an die „Einheit“ aller demokratischen Kräfte – natürlich unter der politischen Kontrolle der Vertreter der Kapitalistenklasse.“

Vor fast einem Vierteljahrhundert sagte das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) voraus, dass die nächste Phase revolutionärer Kämpfe sehr schnell internationale Dimensionen annehmen werde. Die WSWS übertrug diese Einsicht auf die Entwicklungen in Ägypten und schrieb:

In der ganzen Welt hat die soziale Ungleichheit dramatische Ausmaße angenommen. Einigen Berichten zufolge ist die Einkommensungleichheit in den USA größer als in Ägypten und Tunesien. Darüber hinaus verlangen die Regierungen in ganz Europa und den Vereinigten Staaten massive Einschnitte bei den Sozialausgaben und setzen diese durch. Immer größere Teile der Arbeiterklasse verarmen.

Die politischen Machtapparate in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern – obwohl zweifellos propagandistisch erheblich besser ausgerüstet – sind genauso verknöchert und genauso blind für die Unzufriedenheit der breiten Massen wie die ägyptische Regierung…

Was sich in den Straßen Kairos, Alexandrias und im Rest des Landes abspielt, ist von welthistorischer Bedeutung. Die Ereignisse in Ägypten enthüllen die Form, die der gesellschaftliche Umbruch in allen Ländern annehmen wird, auch in den fortgeschrittensten. Wir sind Zeugen, wie sich in diesem alten Land eine neue Epoche der sozialistischen Weltrevolution zu regen beginnt.“

Diese Perspektive wurde durch den Ausbruch sozialer Konflikte in aller Welt bestätigt. Innerhalb weniger Wochen nach Mubaraks Sturz begannen in Wisconsin Massenproteste gegen die Angriffe der Walker-Regierung auf grundlegende Rechte der Arbeiter. In Europa kam es in Spanien und Griechenland zu Massenprotesten gegen die scharfen Einschnitte bei den Sozialausgaben, die die Europäische Zentralbank (EZB) forderte. Hunderttausende Israelis demonstrierten gegen unhaltbare soziale Zustände. Auch in Russland und China ist es zu erheblichen Protesten gekommen. Die Occupy-Wall-Street-Bewegung ist die erste bedeutende Volksbewegung gegen die soziale Ungleichheit in den Vereinigten Staaten seit mehr als einer Generation.

Die WSWS hat gegenüber den Bewegungen, die sich 2011 entwickelten, keinen unkritischen Standpunkt vertreten. Zu allererst muss erkannt werden, dass sich keine dieser Bewegungen auf ein sozialistisches und schon gar nicht auf ein marxistisches Programm gründet. Die kleinbürgerlichen Parteien, von der WSWS als „pseudo-links“ eingestuft, arbeiten unablässig darauf hin, jede Bewegung der Arbeiterklasse, die die bürgerliche Herrschaft gefährden könnte, zu verhindern. In Ägypten haben die Revolutionären Sozialisten (die weder revolutionär, noch sozialistisch sind) versucht, Illusionen in das Militär und die Moslembruderschaft zu schüren. Den gleichen verräterischen Prozess beobachtet man in Griechenland und Spanien, wo die Massenproteste der Arbeiter und Jugendlichen von den pseudo-linken Organisationen wie SYRIZA und ANTARSYA in Griechenland und Izquierda Anticapitalista in Spanien im Rahmens bürgerlicher Politik gehalten werden.

An den Protesten in den Vereinigten Staaten haben sich noch keine bedeutenden Teile der Arbeiterklasse beteiligt. Sie sind nach wie vor weitgehend von Studenten beherrscht. Die politischen Kräfte, die diese Proteste dominieren – die ihre eigene Politik hinter der Parole „Keine Politik“ verstecken – vertreten Teile des Kleinbürgertums, das mit der Verteilung des Reichtums innerhalb der obersten zehn Prozent der Bevölkerung unzufrieden ist. Ihr Ziel ist eine Verbesserung der eigenen finanziellen Lage und des eigenen sozialen Status.

Die Bewegungen haben jedoch erhebliche Unterstützung in der Bevölkerung gewonnen. Die meisten Menschen, die sich an verschiedenen Demonstrationen beteiligt haben, lehnen die herrschende soziale Ungleichheit aus zutiefst ehrlichen Motiven heraus ab. Es wäre ein ernster Fehler, die Proteste wegen der kleinbürgerlichen und reformistischen Politik ihrer Führungen nicht ernst zu nehmen. Sie sind Ausdruck der wachsenden Wut in der Bevölkerung. Im ganzen Land sehen Arbeiter und Jugendliche die Proteste als längst überfällige Antwort auf die Konzentration des Wohlstands innerhalb eines winzigen Teils der Bevölkerung, auf das kriminelle Parasitentum der Finanzinstitutionen, auf den Machtmissbrauch der Großkonzerne und den unerbittlichen Niedergang des Lebensstandards der großen Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung. Wie die WSWS in ihrer ersten Perspektiv-Kolumne zum Neuen Jahr erklärte:

Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise, der fallende Lebensstandard, die zunehmende soziale Ungleichheit, die staatliche Gesetzlosigkeit, ökologische Katastrophen und die unablässig zunehmende Bedrohung durch einen neuen Weltkrieg führen zu einer um sich greifenden Masseneinsicht, dass der Kapitalismus gescheitert ist. Die Zunahme sozialer Kämpfe, an denen schon weltweit Dutzende Millionen Menschen teilgenommen haben, zeigen an, dass die objektive Krise des Kapitalismus im subjektiven Bewusstsein der entscheidenden revolutionären Kraft auf diesem Planeten, der internationalen Arbeiterklasse, verinnerlicht wird.

Für die herrschende Klasse in den USA und in der ganzen Welt sind die Ereignisse von 2011 überaus verstörend. Das Gefühl, dass die Proteste des letzten Jahres sich fortsetzen und zunehmen werden, greift um sich. Moisés Naím schrieb Anfang dieses Monats in der Financial Times: „Ungleichheit wird das zentrale Thema des Jahres 2012… Die friedliche Koexistenz mit der Ungleichheit wird 2012 enden und die Forderungen und Versprechen, sie zu bekämpfen, werden schärfer werden und sich stärker ausbreiten als zu irgendeinem Zeitpunkt seit dem Ende des Kalten Krieges.“ In einem weiteren Kommentar in der Financial Times warnte Anne-Marie Slaughter: „Das große Thema von 2012 wird immer wieder dasselbe sein: gewaltige Proteste werden sich über die verschiedensten Länder ausbreiten und sich in vielen von ihnen in Revolutionen verwandeln.“

Das Magazin Time hat die Bedeutung der 2011 ausgebrochenen sozialen Bewegung erkannt und den “den Demonstranten” zur „Person des Jahres“ ernannt. Time sieht die Ereignisse des vergangenen Jahres als den Schlusspunkt einer langen Periode sozialer und politischer Apathie, die der von Francis Fukuyama als „das Ende der Geschichte“ gefeierten Auflösung der Sowjetunion folgte. Während der darauffolgenden Jahre, so schreibt Time, „war Kredit einfach zu haben, Selbstgefälligkeit und Apathie waren weit verbreitet und Straßenproteste wirkten wie sinnlose Nebenkriegsschauplätze – veraltet, kurios, so fehl am Platz wie eine Kavallerie in einem Krieg in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die seltenen Demonstrationen in der reichen Welt schienen wirkungs- und belanglos.“

Aber diese lange Periode sozialer und politischer Stagnation ist plötzlich zu Ende gegangen. Wie Time schreibt:

„2011 war, kurz gesagt, anders als alle Jahre seit 1989 – aber außergewöhnlicher, globaler, demokratischer, denn 1989 war der Zerfall der Regimes das Ergebnis eines einzigen Zusammenbruchs im Hauptquartier, ein einziger Stecker, der in Moskau gezogen wurde und das gesamte System von der Stromversorgung abschnitt. So war 2011 anders als jedes Jahr seit 1968 – aber konsequenter, weil sich mehr Demonstranten stärker einbrachten. Ihre Proteste waren nicht Teil eines kulturellen Gegenentwurfs wie 1968 und verwandelten sich schnell in ausgewachsene Rebellionen, die Regimes zu Fall brachten und den Lauf der Geschichte veränderten. Es war, anders ausgedrückt, anders als irgendetwas zu unseren Lebzeiten, wahrscheinlich anders als alle Jahre seit 1848, als ein Straßenprotest in Paris zu einer dreitätigen Revolution erblühte, die die Monarchie in eine republikanische Demokratie verwandelte und dann – teilweise dank neuer Technologien (Telegrafie, Eisenbahnen, Druckpressen) innerhalb von Wochen - eine nicht zu bremsende Kaskade des Protestes und der Aufstände in München, Berlin, Wien, Mailand, Venedig und an Dutzenden anderer Orte in ganz Europa inspirierte.“

Der Vergleich der Ereignisse von 2011 mit jenen von 1848 und 1968 durch das Magazin Time ist vereinfachend und hält einer ernsthaften historischen, politischen und gesellschaftlichen Analyse nicht stand. Die politische und die soziale Dynamik der damaligen Bewegungen waren vollkommen anders. Hier ist nicht der Ort, um die Ereignisse jener Jahre unter die Lupe zu nehmen, aber die Rolle der Arbeiterklasse in den früheren Kämpfen war ungleich größer. Vor allem 1848 nahm der Kampf der Arbeiterklasse einen aufständischen und direkt revolutionären Charakter an. Die Kämpfe jenes Jahres waren Zeuge des Aufstiegs der Arbeiterklasse und des Sozialismus als einer entscheidenden Kraft. Und 1968 war nicht nur ein „kultureller Gegenentwurf“. In Frankreich kam es zu einem Generalstreik, der die Frage nach der Arbeitermacht stellte. In jenem Kampf war ein bedeutender Teil der Arbeiterklasse von sozialistischen Überzeugungen inspiriert. Das Überleben des Kapitalismus hing von der bewusst konterrevolutionären Politik der stalinistischen französischen Kommunistischen Partei ab.

Der Artikel in Time ist jedoch – in dem Maße, in dem er Einsicht in die Antwort der herrschenden Klasse auf die Ereignisse von 2011 verschafft – von Bedeutung. Das Augenmerk von Time liegt fast ganz auf dem Element der Unzufriedenheit der Mittelklasse, das den Protesten des vergangenen Jahres seine besondere politische Färbung verlieh. Time interessiert sich vor allem für das „mittelständische und gebildete“ Segment der „Vorhut des Protestes“. Hinter dieser Sichtweise verbirgt sich die ernsthafte Besorgnis, dass die herrschenden Eliten – die aus den superreichen 0,1 und 0,01 Prozent der Bevölkerung bestehen – sich unklugerweise isoliert haben.

Die massive Konzentration von Wohlstand hat wichtige Teile der Mittelklasse verstimmt, die sich der Kluft zunehmend bewusst werden und damit unzufrieden sind – was Wohlstand, Aufstiegsmöglichkeiten, Einfluss und Prestige angehen, die sie von den Superreichen trennen. Deshalb sind sie zu der Einsicht gelangt, „dass die politischen Systeme und die Wirtschaften ihrer Länder zerrüttet und korrupt sind – Scheindemokratien, die zugunsten der Reichen und Mächtigen manipuliert werden und bedeutenden gesellschaftlichen Wandel verhindern.“

Diese Unzufriedenheit ist das Nebenprodukt des Wirtschaftszusammenbruchs von 2008. „Während der Erfolgsjahre“, schreibt Time, „floss genug Geld, um sie bei Laune zu halten, aber jetzt gibt ihnen die nicht enden wollende Finanz- und Wirtschaftskrise das Gefühl, als Betrogene dazustehen.“

Time sieht die Ereignisse von 2011 als Weckruf. Die herrschenden Eliten sollten sich der Gefahr, die sich aus ihrer Isolation ergibt, bewusst sein. Obwohl das Wort „Sozialismus“ in dem Artikel nicht ein einziges Mal vorkommt (und die „Arbeiterklasse“ nur einmal im Vorübergehen erwähnt wird), stellt Time fest, dass „in der Nexus-Datenbank der Nachrichtenmedien jetzt etwa 500 Mal pro Woche „soziale Ungleichheit“ vorkommt, während es in der Woche, bevor die Occupy-Wall-Street-Bewegung begann, nur 91 Mal vorkam.“

Jenseits der mehr oder weniger privilegierten Schichten der Mittelklasse, die mit der Verteilung des Vermögens unter den obersten zehn Prozent unzufrieden sind, gibt es eine breite Masse arbeitender Menschen, deren Lebensumstände einer gewaltigen und erbarmungslosen Verschlechterung ausgesetzt sind. Eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen ist unmöglich, ohne dass sie sich in einen offenen Kampf gegen das kapitalistische System begeben, und zwar mit allen revolutionären Folgen, die solch ein Kampf nach sich zieht. 2012 werden wir das Eingreifen immer größerer Teile der Arbeiterklasse in solche Kämpfe sehen. Zu den ausschlaggebenden Aufgaben, vor denen unsere Partei steht, gehört die Entwicklung eines Bewusstseins ihrer sozialen und politischen Interessen in der Arbeiterklasse und die Einführung einer sozialistischen Orientierung in diese Kämpfe. Die SEP muss versuchen, unter Arbeitern und Jugendlichen die Einsicht zu wecken, dass ihre Kämpfe in den USA integraler Bestandteil des internationalen Klassenkampfes sind und dass der Kampf gegen die amerikanische herrschende Klasse sich auf eine internationale sozialistische Strategie gründen muss.

Zwanzig Jahre nach dem Ende der UdSSR

Man kann die Probleme der politischen Orientierung und des Bewusstseins nicht überwinden, ohne den welthistorischen Zusammenhang zu verstehen, der in der Entwicklung der Arbeiterklasse als internationaler revolutionärer Kraft eine so entscheidende Rolle spielt.

Die Kämpfe, die 2011 ausbrachen, haben eine zwanzigjährige Periode politischer Stagnation beendet, die auf die Auflösung der UdSSR am 25. Dezember 1991 zurückgeführt werden kann, als die Fahne der Sowjetunion vom Kreml geholt wurde. Dieses Ereignis, das Ergebnis stalinistischen Verrats, hatte immens desorientierende Auswirkungen auf die Arbeiterklasse. Das Ende der UdSSR löste ein bürgerliches Triumphgeheul aus, das sich zu der Behauptung verstieg, dieses Ereignis bedeute die endgültige Widerlegung des Marxismus und das Ende des Sozialismus. Basis dieser Behauptungen war die Gleichsetzung von Marxismus und Sozialismus mit Stalinismus.

Seit ihrer Gründung unter der Führung Leo Trotzkis im Jahr 1938 hat die Vierte Internationale die stalinistische Bürokratie als den Totengräber der Sowjetunion angeprangert. In ihrem Gründungsprogramm warnte die Vierte Internationale davor, dass sich die Bürokratie immer offener zum Instrument kapitalistischer Restauration entwickeln werde, wenn sie nicht durch eine politische Revolution der Arbeiterklasse gestürzt werde. Nach dem sowjetischen Sieg über Nazi-Deutschland kamen in der Vierten Internationale revisionistische Tendenzen auf, die sich Teilen des Kleinbürgertums anschlossen, das durch ein Bündnis mit dem Kreml und seinen Marionettenparteien eine Art linksreformistisches oder radikal-nationalistisches Gegengewicht zum Imperialismus herstellen wollte. Die pablistischen Revisionisten versuchten, ihren Verrat an Trotzkis revolutionärem Programm zu rechtfertigen, indem sie verkündeten, dass der Sozialismus in der Sowjetunion und international unter Führung der Stalinisten erlangt werden könne, allerdings in einem Jahrhunderte dauernden Prozess.

Es ist schwer, sich heute die Ehrfurcht vorzustellen, die die scheinbare Macht der stalinistischen Regimes in den Reihen der Pablisten und linksbürgerlichen politischen Gruppierungen im Allgemeinen erzeugte. Die verschiedenen staatskapitalistischen Strömungen – d.h. die kleinbürgerlichen Organisationen, die verkündeten, die sowjetische Bürokratie sei nicht, wie Trotzki behauptete, eine parasitäre Kaste, sondern eine neue herrschende Klasse – stimmten in diese Verherrlichung stalinistischer Macht ein. Nichts schien ihnen absurder als Trotzkis Voraussage, dass das stalinistische Regime die Sowjetunion in den Ruin treiben würde, falls es nicht durch die Arbeiterklasse gestürzt würde.

In den 1980er Jahren hatte der Skeptizismus gegenüber Trotzkis Analyse in der Führung der Workers Revolutionary Party, zu jener Zeit die britische Sektion des Internationalen Komitees, um sich gegriffen. Ich erinnere mich an eine Diskussion im Jahr 1983, als der Generalsekretär der WRP, Michael Banda, mir zu meiner großen Überraschung erzählte, dass Trotzkis Warnung falsch gewesen sei. Das ewige Überleben der UdSSR sei „historisch entschieden“. Aber heißt das nicht, fragte ich Banda, dass die Analyse des Stalinismus, auf der Trotzkis Entscheidung zur Gründung der Vierten Internationale beruhte, falsch ist? Banda wich einer Antwort aus. Aber in weniger als drei Jahren sollte Banda den Trotzkismus zurückweisen, die Vierte Internationale verurteilen und seine Bewunderung für Stalin verkünden.

Als Gorbatschow im März 1985 die Position des Generalsekretärs der KPdSU übernahm, konnten die Revisionisten ihn gar nicht schnell genug zum neuen sozialistischen Messias erklären. Sie begrüßten seine Politik von Glasnost und Perestroika mit Begeisterung. Keine dieser Strömungen unternahm einen Versuch, Gorbatschows sozioökonomisches und politisches Programm auch nur der kleinsten kritischen Prüfung zu unterziehen. Ernest Mandel, der führende pablistische Theoretiker, bejubelte Gorbatschow als den größten lebenden Politiker und verurteilte „die lächerliche Theorie, dass der sowjetische Führer versuche, den Kapitalismus in der Sowjetunion wieder einzuführen.“ (Ernest Mandel, Beyond Perestroika, Verso Books, 1989, S. 129)

Die “lächerliche Theorie”, die Mandel anprangerte, war die des Internationalen Komitees der Vierten Internationale. Im März 1987 veröffentlichte das Internationale Komitee eine detaillierte Analyse der Politik des Gorbatschow-Regimes unter dem Titel “Was geschieht in der UdSSR?” in der es davor warnte, dass die neue Politik des Kreml auf die Zerstörung der durch die Revolution von 1917 eingeführten Eigentumsverhältnisse abziele. In der Erklärung heißt es:

„In einer Zeit, in der die sowjetische Wirtschaft zunehmend von der Krise des westlichen Kapitalismus betroffen ist, untergraben Gorbatschows Reformen die Grundlagen der Planwirtschaft. Indem er es zulässt, dass zwanzig Ministerien und siebzig Staatsunternehmen ihre eigenen Handelsbeziehungen mit kapitalistischen Ländern und Firmen eingehen und vierzig Prozent der Devisen für sich selbst behalten dürfen, untergräbt Gorbatschow – zum ersten Mal, seit Lenin und Trotzki Stalins Versuch, eine Verbindung zwischen den NEP-Männern und dem Weltmarkt zu schaffen, vereitelten – das Staatsmonopol des Außenhandels. Gleichzeitig setzt er einen Prozess kapitalistischer Akkumulation in Gang, der die verstaatlichten Besitzverhältnisse nachhaltig untergraben wird.“ (Erklärung des IKVI vom 23. März 1987, Fourth International, Juni 1987, S. 38]

Diese Analyse ist durch wissenschaftliche Untersuchungen der Ursachen des Zusammenbruchs der sowjetischen Wirtschaft, der die Auflösung der UdSSR beschleunigte, bestätigt worden. In Russia Since 1980 (Russland seit 1980), 2008 von Cambridge University Press veröffentlicht, weisen die Professoren Steven Rosefielde und Stefan Hedlund nach, dass Gorbatschow Maßnahmen einführte, die im Nachhinein wirken, als hätten sie auf die Sabotage der sowjetischen Wirtschaft abgezielt. „Gorbatschow und sein Umfeld“ schreiben sie, „scheinen einen korrupten Plan in der Tasche gehabt zu haben, der dazu führte, dass die Dinge schnell außer Kontrolle gerieten.“ (S. 38) In einer vernichtenden Einschätzung von Gorbatschows Politik stellen Rosefielde und Hedlund fest:

„Die Geschichte enthüllt, dass die Enkel des bolschewistischen Staatsstreiches die Sowjetunion nicht in dem heldenhaften Bemühen zerstörten, die Sache des Allgemeinwohls voranzutreiben oder gar in ihr europäisches Haus zurückzukehren; stattdessen verwandelten sie sowjetische Manager und Minister in vagabundierende Banditen (gierige Privatiers) mit einer stillschweigenden präsidentiellen Anweisung, das Volksvermögen und die Volkseinkünfte unter der neuen Moskauer Führung zu privatisieren.

Statt im Umgang mit Staatseinkünften, Rohstoffen und staatlichem Eigentum die angemessene Sorgfalt an den Tag zu legen, wie es jedem Bolschewisten seit 1917 eingeschärft worden war, sah Gorbatschow geflissentlich darüber hinweg, wie die Konterrevolution die Büchse der Pandora öffnete. Er gestattete Unternehmen und anderen nicht nur, den Profit für den Staat zu maximieren, was segensreich war, sondern auch, Staatsvermögen zu veruntreuen und die Erlöse ins Ausland zu schaffen. Bei diesen Vorgängen missachteten rote Direktoren Staatsverträge und Verpflichtungen, brachten den Materialnachschub zwischen einzelnen Industriezweigen durcheinander und verursachten so eine Depression, von der sich die Sowjetunion nie erholt hat und aus der Russland gerade erst herauskommt.

Angesichts all der hitzigen Debatten, die sich später darüber entspinnen sollten, wie Jelzin und seine Schocktherapie Massenplünderungen heraufbeschworen, sollte man nicht vergessen, dass die Plünderungen unter Gorbatschow begannen. Es war seine bösartige Vernachlässigung, die vom Gerede über den Marktkommunismus zur Plünderung des Volksvermögens führte.

Das Ausmaß dieser Plünderungen war verblüffend. Es trieb die Sowjetunion nicht nur in den Bankrott und zwang Präsident Jelzin, die G 7 am 6. Dezember 1991 um eine sechs-Milliarden-Dollar-Hilfe zu bitten, sondern löste Anfang 1990 einen freien Fall in der Gesamtproduktion aus, die auch auch unter dem treffenden Namen catastroika bekannt wurde.

Rückblickend brach die sowjetische Wirtschaft nicht zusammen, weil die liberalisierte Kommandowirtschaft, die nach 1953 konzipiert wurde, zum Untergang verurteilt war. Das System war in vielerlei Hinsicht ineffizient, korrupt und verwerflich, aber zukunftsfähig, wie die CIA und die meisten Sowjetologen behaupteten. Es wurde zerstört, weil Gorbatschow in stiller Komplizenschaft duldete, dass Privatleute Staatsvermögen veruntreuten, Material stahlen, spontan Privatisierungen vornahmen und ihr unrechtmäßig erworbenes Gut außer Landes brachten, was die Produktion vollständig desorganisierte.“ (S. 49)

Rosefields und Hedlunds Analyse ist zwar in ihrer Einschätzung von Gorbatschows Vorgehen akkurat, aber doch vereinfachend. Gorbatschows Politik lässt sich nur im Rahmen grundlegender politischer und sozioökonomischer Faktoren verstehen. Zuerst und vor allem entwickelte sich die wirkliche objektive Krise der sowjetischen Wirtschaft (die schon lange vor Gorbatschows Machtübernahme existierte) aus der autarken nationalistischen Politik des Sowjetregimes, seit Stalin und Bucharin 1924 das Programm vom „Sozialismus in einem Land“ eingeführt hatten. Das rapide Wachstum und die zunehmende Komplexität der sowjetischen Wirtschaft erforderten Zugang zu den Ressourcen der Weltwirtschaft. Dieser Zugang konnte nur auf zwei Arten erlangt werden: entweder durch die Ausweitung der sozialistischen Revolution auf die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder oder durch die konterrevolutionäre Integration der UdSSR in die wirtschaftlichen Strukturen des Weltkapitalismus.

Für die sowjetische Bürokratie - eine parasitäre Kaste, die der Verteidigung ihrer Privilegien verpflichtet und in Angst vor der Arbeiterklasse erstarrt war – kam eine revolutionäre Lösung der Widersprüche der sowjetischen Wirtschaft absolut nicht in Frage. Der einzige Kurs, den sie in Betracht ziehen konnte, war die Kapitulation vor dem Imperialismus. Dieser zweite Kurs eröffnete den führenden Schichten der Bürokratie darüber hinaus die Möglichkeit, sich ihre Privilegien auf Dauer zu sichern und ihren Wohlstand auszubauen. Die privilegierte Kaste würde sich in eine herrschende Klasse verwandeln. Die Korruptheit Gorbatschows, Jelzins und ihrer Verbündeten war nur das notwendige Mittel, das die Bürokratie einsetzte, um dieses absolut reaktionäre und überaus destruktive Ziel zu erreichen.

Am 3. Oktober 1991, weniger als drei Monate vor der Auflösung der UdSSR, hielt ich in Kiew einen Vortrag, in dem ich mich gegen das – vom stalinistischen Regime weithin propagierte - Argument wandte, die Wiedereinführung des Kapitalismus werde dem Volk immense Vorteile bringen. Ich sagte damals:

„In diesem Land kann sich die kapitalistische Restauration nur auf der Grundlage einer breit angelegten Zerstörung der bereits bestehenden Produktivkräfte und der sozialen und kulturellen Institutionen, die von ihnen abhängen, vollziehen. In anderen Worten: Die Integration der UdSSR in die Strukturen der kapitalistischen Weltwirtschaft auf kapitalistischer Grundlage bedeutet nicht die langsame Entwicklung einer rückständigen Nationalökonomie, sondern die schnelle Zerstörung einer Wirtschaft, die Lebensbedingungen aufrechterhalten hat, die zumindest für die Arbeiterklasse weit näher an denen der fortgeschrittenen Länder als an denen der dritten Welt waren. Untersucht man die verschiedenen Entwürfe, die die Verfechter kapitalistischer Restauration vorgelegt haben, kann man nur zu der Schlussfolgerung gelangen, dass sie die tatsächliche Wirkungsweise des Kapitalismus keinen Deut besser verstehen als Stalin. Sie legen die Grundlage für eine soziale Tragödie, die die durch die pragmatische und nationalistische Politik Stalins herbeigeführte Katastrophe noch in den Schatten stellen wird.“ [“Soviet Union at the Crossroads,” veröffentlicht in The Fourth International (Fall- Winter 1992, Volume 19, No. 1, p. 109), Hervorhebung im Original.]

Vor fast genau zwanzig Jahren, am 4. Januar 1992, hielt die Workers League ein Mitgliedertreffen in Detroit ab, um die historischen, politischen und sozialen Auswirkungen der Auflösung der UdSSR zu untersuchen. Wenn ich den Bericht heute nachlese, so glaube ich sagen zu können, dass er den Test durch die Geschichte bestanden hat. In ihm heißt es, die Auflösung der UdSSR repräsentiere „die juristische Liquidation des Arbeiterstaats und seine Ersetzung durch Regimes, die offen und unmissverständlich die Vernichtung der Überreste der aus der Oktoberrevolution hervorgegangenen Nationalökonomie und des Planwirtschaftssystems betreiben. Die GUS (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten) oder ihre unabhängigen Republiken als Arbeiterstaaten zu definieren, hieße, die Definition vom konkreten Inhalt, den sie während der vorangegangenen Periode ausgedrückt hat, zu trennen. [David North, The End of the USSR, Labor Publications, 1992, S. 6]

Der Bericht fährt fort:

“Eine revolutionäre Partei muss sich der Wirklichkeit stellen und die Dinge beim Namen nennen. Die sowjetische Arbeiterklasse hat eine ernsthafte Niederlage erlitten. Die Bürokratie hat den Arbeiterstaat vernichtet, bevor die Arbeiterklasse in der Lage war, sich der Bürokratie zu entledigen. So unangenehm diese Tatsache auch sein mag, sie widerlegt nicht die Perspektive der Vierten Internationale. Seit ihrer Gründung im Jahr 1938 hat unsere Bewegung wiederholt gesagt, dass die Sowjetunion in dem Fall, dass die Arbeiterklasse es nicht schafft, die Bürokratie zu zerstören, Schiffbruch erleiden wird. Trotzki rief nicht zur politischen Revolution auf, weil er auf dieses oder jenes bürokratische Verbrechen überreagierte. Er sagte, dass eine politische Revolution notwendig sei, weil die Sowjetunion nur auf diesem Wege als Arbeiterstaat gegen den Imperialismus verteidigt werden könne.“ (S. 6)

Ich versuchte zu erklären, warum es der sowjetischen Arbeiterklasse nicht gelungen war, sich gegen die Liquidierung der Sowjetunion durch die Bürokratie zu erheben. Wie konnte es sein, dass die Zerstörung der Sowjetunion – die den Horror der nationalsozialistischen Intervention überstanden hatte – „von einer elendiglichen Truppe belangloser Gangster, die im Interesse des Abschaums der sowjetischen Gesellschaft handelten“ ausgeführt werden konnte? Meine Antwort lautete:

„Wir müssen diese Fragen beantworten, indem wir auf die Auswirkungen der massiven Vernichtung des revolutionären Kaders in der Sowjetunion durch das stalinistische Regime hinweisen. Fast alle menschlichen Vertreter der revolutionären Tradition, die die Revolution bewusst vorbereiteten und anführten, wurden eliminiert. Zusammen mit den politischen Führern der Revolution wurden die kreativsten Vertreter der Intelligenz, die in den ersten Jahren des Sowjetstaates eine Blütezeit erlebt hatten, ebenfalls ausgelöscht oder durch blanken Terror zum Schweigen gebracht.

Darüber hinaus müssen wir auf die tiefgreifende Entfremdung zwischen der Arbeiterklasse und dem Staatseigentum hinweisen. Das Eigentum gehörte dem Staat, aber der Staat „gehörte“ der Bürokratie, wie Trotzki bemerkte. Der grundlegende Unterschied zwischen Staatseigentum und privatem Eigentum – wie wichtig er auch vom theoretischen Standpunkt aus sein mag – verlor von einem praktischen Standpunkt aus zunehmend an Bedeutung. Es ist wahr, dass vom wissenschaftlichen Standpunkt aus keine kapitalistische Ausbeutung stattfand, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass die Alltagsbedingungen des Lebens in den Fabriken und Minen und an anderen Arbeitsplätzen genauso elend waren wie in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern, in vielen Fällen sogar erheblich schlimmer.

Schließlich müssen wir die Auswirkungen des sich lange hinziehenden Niedergangs der internationalen sozialistischen Bewegung betrachten…

Insbesondere während des letzten Jahrzehnts hatte der Zusammenbruch effektiven Widerstands der Arbeiterklasse in allen Teilen der Welt gegen die bürgerliche Offensive auf die sowjetischen Arbeiter einen demoralisierenden Einfluss. Der Kapitalismus gewann eine Aura der „Unbesiegbarkeit“, obwohl es sich bei dieser Aura nur um die illusorische Widerspiegelung der Rückgratlosigkeit der Arbeiterbürokratien in aller Welt handelte, die die Arbeiter bei jeder Gelegenheit verraten haben und vor der Bourgeoisie kapitulierten. Was die sowjetischen Arbeiter sahen, waren nicht der bittere Widerstand von Teilen der Arbeiterschaft gegen die internationale Offensive des Kapitals, sondern ihre Niederlagen und ihre Auswirkungen.“ (S. 13-14)

Der Bericht stellte die Zerstörung der UdSSR durch die herrschende Bürokratie mit einem breiteren internationalen Phänomen in Zusammenhang. Die Zerschlagung der UdSSR spiegelte sich in den USA in der Zerschlagung der Gewerkschaften als einem wenn auch nur teilweise funktionierenden Instrument des Widerstands der Arbeiterklasse wider.

„In jedem Winkel der Erde, einschließlich der fortgeschrittenen Länder, stellen die Arbeiter fest, dass ihre Gewerkschaftsorganisationen an der systematischen Senkung der Löhne und der Verarmung der Arbeiterklasse mitwirken.“

Zu guter Letzt verwarf der Bericht jegliche Idee, dass die Auflösung der Sowjetunion eine neue Phase progressiver kapitalistischer Entwicklung einläute.

„Millionen Menschen werden den Imperialismus als das sehen, was er wirklich ist. Seine demokratische Maske wird ihm heruntergerissen werden. Die Vorstellung, Imperialismus und Frieden seien miteinander vereinbar, wird bloßgestellt werden. Die Arbeiter Russlands und der Ukraine werden daran erinnert werden, warum sie einmal eine Revolution gemacht haben. Die amerikanischen Arbeiter werden daran erinnert werden, warum sie sich früher in den heftigsten Kämpfen gegen die Konzerne engagiert haben. Die Arbeiter Europas werden daran erinnert werden, warum ihr Kontinent die Geburtsstätte des Sozialismus und von Karl Marx waren.“ (S. 25)

Nach der Auflösung der UdSSR: Zwanzig Jahre Wirtschaftskrise, sozialer Verfall und politische Reaktion

Der liberalen Theorie zufolge hätte die Auflösung der UdSSR ein neues Erblühen der Demokratie zur Folge haben müssen. Natürlich hat sich nichts Derartiges ereignet – weder in der früheren Sowjetunion, noch in den Vereinigten Staaten. Überdies folgte dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion – der sogenannten Niederlage des Kommunismus – auch kein triumphales Wiederaufleben seiner unversöhnlichen Feinde in der internationalen Arbeiterbewegung, der sozialdemokratischen und reformistischen Gewerkschaften und politischen Parteien. Das Gegenteil trat ein.

Alle diese Organisationen gerieten nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion in eine schwere und unlösbare Krise. In den Vereinigten Staaten ist die Gewerkschaftsbewegung – die sich während des gesamten Kalten Krieges vorrangig der Niederringung des Kommunismus gewidmet hatte – so gut wie zusammengebrochen. In den zwei Jahrzehnten, die dem Zusammenbruch der Sowjetunion folgten, hat die AFL-CIO eine erhebliche Anzahl ihrer Mitglieder verloren, ist in einen Zustand vollkommener Handlungsunfähigkeit zurückgefallen und hat aufgehört, auf irgendeine gesellschaftlich bedeutende Weise als Arbeiterorganisation zu existieren. Gleichzeitig verschlechterte sich in aller Welt die gesellschaftliche Stellung der Arbeiterklasse – vom Standpunkt ihres Einflusses auf die Richtung staatlicher Politik und ihrer Fähigkeit, ihren Anteil an dem von ihre selbst geschaffenen Mehrwert zu vergrößern.

Hieraus ergeben sich gewisse wichtige Schlussfolgerungen. Zuerst einmal war das Auseinanderbrechen der Sowjetunion nicht das Ergebnis des angeblichen Versagens von Marxismus oder Sozialismus. Wäre das der Fall gewesen, hätten die anti-marxistischen und anti-sozialistischen Arbeiterorganisationen in der postsowjetischen Ära aufblühen müssen. Dass diese Organisationen stattdessen schmachvoll untergingen, zwingt, das gemeinsame Element im Programm und der Ausrichtung aller sogenannter Arbeiterorganisationen bloßzulegen, ob „kommunistisch“ oder anti-kommunistisch. Was war dieses gemeinsame Element in der politischen DNA dieser Organisationen?

Die Antwort lautet, dass die großen Arbeiterorganisationen unabhängig von ihren Namen, ihren widersprüchlichen politischen Bündnissen und ihren oberflächlichen ideologischen Differenzen in der Nachkriegsperiode eine im Wesentlichen nationalistische Politik betrieben. Sie knüpften das Schicksal der Arbeiterklasse an den einen oder anderen Nationalstaat. Dies machte es ihnen unmöglich, auf die zunehmende Integration der Weltwirtschaft zu reagieren. Das Aufkommen transnationaler Konzerne und die damit verbundenen Erscheinungen kapitalistischer Globalisierung zerrütteten alle Arbeiterorganisationen, die sich auf nationalistische Programme gründeten.

Die zweite Schlussfolgerung ist, dass die Verbesserung der Lebensbedingungen der internationalen Arbeiterklasse auf die eine oder andere Weise mit der Existenz der Sowjetunion verbunden war. Trotz des Verrats und der Verbrechen der stalinistischen Bürokratie bürdete die Existenz der UdSSR - eines Staates, der aus einer sozialistischen Revolution hervorgegangen war - dem amerikanischen und europäischen Imperialismus gewisse politische und soziale Beschränkungen auf, die sonst inakzeptabel gewesen wären. Das politische Umfeld der vergangenen zwei Jahrzehnte – gekennzeichnet durch ungebremsten imperialistischen Militarismus, die Verletzung internationalen Rechtes und die Zurückweisung wesentlicher Prinzipien bürgerlicher Demokratie – ist das direkte Ergebnis der Auflösung der Sowjetunion.

Das Auseinanderbrechen der UdSSR war für die große Mehrheit seiner früheren Einwohner, eine vollständige Katastrophe. Zwanzig Jahre nach der Oktoberrevolution ermöglichten die von der Oktoberrevolution eingeführten Besitzverhältnisse trotz aller Verbrechen des stalinistischen Regimes eine außergewöhnliche Verwandlung des rückständigen Russlands. Und sogar nach den horrenden Verlusten während des vierjährigen Krieges mit Nazi-Deutschland erlebte die Sowjetunion in den darauf folgenden zwanzig Jahren ein fantastisches Wirtschaftswachstum, das durch wissenschaftliche und kulturelle Fortschritte begleitet wurde, die die ganze Welt in Erstaunen versetzten.

Aber wie urteilt die russische Bevölkerung über seine post-sowjetischen Erfahrungen? Zuerst und vor allem setzte die Auflösung der UdSSR eine demografische Katastrophe in Gang. Zehn Jahre nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion schrumpfte die Bevölkerung jährlich um 750.000. Von 1983 bis 2001 fiel die Anzahl der jährlichen Geburten um die Hälfte. 75 Prozent der schwangeren Frauen in Russland litten an Krankheiten, die ihre ungeborenen Kinder gefährdeten. Nur ein Viertel der Kinder wurde gesund geboren.

Der allgemeine Gesundheitszustand der russischen Bevölkerung verschlechterte sich nach der Restauration des Kapitalismus dramatisch. Es gab eine schwindelerregende Zunahme von Alkoholismus, Herzkrankheiten, Krebserkrankungen und Geschlechtskrankheiten. All dies geschah vor dem Hintergrund eines katastrophalen Zusammenbruches der Wirtschaft der ehemaligen UdSSR und eines dramatischen Anstiegs der Armut.

Was die Demokratie angeht, so wurde das postsowjetische System auf der Grundlage eines Massenmordes konsolidiert. Mehr als siebzig Jahre lang wurde die Auflösung der konstituierenden Versammlung im Januar 1918 – ein Ereignis, das nicht ein einziges Menschenleben kostete – als eine unvergessliche und unverzeihliche Verletzung demokratischer Rechte angeprangert. Aber im Oktober 1993 ordnete das Jelzin-Regime nach dem Verlust der Mehrheit in dem vom Volk gewählten Parlament die Bombardierung des mitten in Moskau gelegenen Weißen Hauses – des Sitzes des russischen Parlaments – an.

Es wird geschätzt, dass bei dem Militärangriff zweitausend Menschen ums Leben kamen. Auf der Grundlage dieses Blutbades verwandelte sich das Jelzin-Regime praktisch in eine Diktatur, die sich auf Militär- und Sicherheitskräfte stützte. Das Regime von Putin-Medwedew setzt dieselbe diktatorische Politik fort. Der Angriff auf das Weiße Haus wurde von der Clinton-Regierung unterstützt. Im Gegensatz zur Auflösung der konstituierenden Versammlung ist die Bombardierung des russischen Parlaments fast in Vergessenheit geraten.

Was gibt es über die postsowjetische Kultur zu sagen? Wie immer gibt es talentierte Menschen, die ihr Bestes geben, um ernsthafte Arbeiten zu erstellen. Aber das allgemeine Bild, das sich bietet, zeugt von Trostlosigkeit. Die Wörter, die nach dem Auseinanderbrechen der UdSSR aufgekommen sind und die moderne russische Kultur oder das, was von ihr übrig ist, charakterisieren, sind „Mafia“, „Biznessman“ und „Oligarch“.

Was sich in Russland ereignet hat, ist nur der extreme Ausdruck eines sozialen und kulturellen Zusammenbruches, der sich in allen kapitalistischen Ländern vollzieht. Kann man überhaupt mit Gewissheit behaupten, dass das in Russland entstandene Wirtschaftssystem korrupter als das in Großbritannien oder den Vereinigten Staaten ist? Die russischen Oligarchen sind vermutlich in ihren Methoden gröber und vulgärer. Es lässt sich jedoch mit Fug und Recht behaupten, dass ihre Plünderungsmethoden weniger effizient sind als jene ihrer Gegenspieler in der amerikanischen Hochfinanz. Schließlich schafften es die amerikanischen Finanzoligarchen, deren Spekulationsaktivitäten im Herbst 2008 fast zum Zusammenbruch der US-Wirtschaft und der globalen Ökonomie führten, die volle Last ihrer Schulden innerhalb weniger Tage auf die Steuerzahler abzuwälzen.

Es ist zweifellos wahr, dass die Auflösung der UdSSR Ende 1991 endlose Möglichkeiten für den Einsatz der amerikanischen Macht eröffnete – auf dem Balkan, im Nahen Osten und in Zentralasien. Aber der Ausbruch des amerikanischen Militarismus war schlussendlich der Ausdruck einer grundlegenderen und historisch bedeutsameren Entwicklung – des nachhaltigen Niedergangs der wirtschaftlichen Position des amerikanischen Kapitalismus. Diese Entwicklung wurde durch das Auseinanderbrechen der UdSSR nicht umgekehrt. Die Geschichte des amerikanischen Kapitalismus während der vergangenen zwei Jahrzehnte ist eine Geschichte des Zerfalls.

Die kurzen Phasen wirtschaftlichen Wachstums gründeten sich auf rücksichtslose und unhaltbare Spekulation. Der Clinton-Boom der 1990er Jahre wurde durch die „irrationale Ausgelassenheit“ der Wall-Street-Spekulation angeheizt, die sogenannte Dot.Com-Blase. Den großen Konzernikonen des Jahrzehnts – von denen Enron das glitzernde Symbol war – wurden auf Grund rein krimineller Machenschaften atemberaubende Werte zugeschrieben. 2000-2001 brach alles in sich zusammen. Das anschließende Wiederaufleben wurde durch überhitzte Spekulation auf dem Häusermarkt angetrieben. Und schließlich kam es zum Zusammenbruch von 2008, von dem es bis heute keine Erholung gegeben hat.

Wenn die Historiker einmal aus ihrer intellektuellen Benommenheit erwachen, werden sie den Zusammenbruch der UdSSR und den endlosen Niedergang des amerikanischen Kapitalismus als einander bedingende Episoden einer globalen Krise sehen, die sich aus der Unfähigkeit ergeben hat, die von der Menschheit auf der Grundlage des Privateigentums und im Rahmen des Nationalstaatensystems entwickelten massiven Produktionskräfte weiter zu entwickeln.

Das Internationale Komitee und die Perspektive der sozialistischen Weltrevolution

In Zeiten politischer Reaktion fällt das Niveau gesellschaftlichen Denkens jäh ab. Es kommt zu einer allgemeinen Aufgabe von Prinzipien. Die verwirrten und von wechselnden politischen Winden desorientierten Intellektuellen scheinen die Fähigkeit zu rationalem oder gar systematischem Denken verloren zu haben. Sie fühlen einen unwiderstehlichen Drang, sich der „öffentlichen Meinung“ anzuschließen und sich bei ihr einzuschmeicheln. All diese schändlichen Tendenzen werden durch die Erkenntnis verstärkt, dass der Konformismus sich als finanziell lohnend erweisen, abweichende Meinungen dagegen teuer zu stehen kommen könnten.

Dem Zusammenbruch der Sowjetunion folgte eine mehr oder weniger umfassende Abkehr linker Intellektueller vom Marxismus und von der Perspektive des internationalen Sozialismus. Sie distanzierten sich von ihrer früheren Verbindung zum Marxismus und beeilten sich, die revolutionären Umtriebe des zwanzigsten Jahrhunderts als furchtbare Fehler zu verspotten. Professor Eric Hobsbawm, langjähriges Mitglied der britischen Kommunistischen Partei und Verfechter des Stalinismus, erklärte, die Auflösung der Sowjetunion 1991 hätte das „kurze“ zwanzigste Jahrhundert (das für ihn 1914 begonnen hatte) zum Abschluss gebracht. Diese Auffassung des „kurzen zwanzigsten Jahrhunderts“ war dem Wesen nach ein Echo von Fukuyamas „Ende der Geschichte“. Nun, da die turbulenten Kriegsjahre und Revolutionen zu Ende gegangen waren, konnte jeder zu einem selbstzufriedenen Liberalen werden.

Diese Revision der Geschichte war Teil eines breiteren Prozesses intellektueller Reaktion im Zusammenhang mit der Dominanz des Postmodernismus und des mit ihm zusammenhängenden antimaterialistischen philosophischen Irrationalismus. Der intellektuelle Zerfall drückte nicht nur die persönliche Demoralisierung im Gefolge politischer Niederlagen aus, obwohl die Demoralisierung bei der postsowjetischen Zurückweisung des Marxismus durch viele Akademiker und Intellektuelle definitiv eine Rolle spielte. Auf einer tieferen Ebene spiegelte die Zurückweisung des Marxismus einen objektiven Prozess sozialer Differenzierung wider. Die begüterteren sozialen Schichten des Kleinbürgertums – denen die Intellektuellen entstammten und für die sie sprachen – entfremdeten sich zunehmend von der Arbeiterklasse. Der Bruch der Intellektuellen mit dem Marxismus und dem Sozialismus spiegelte ihre materiellen Verbindungen und gemeinsamen Interessen mit der herrschenden Elite wider. Dies war die entscheidende Grundlage für die politische Eingliederung zahlloser „linker“ Tendenzen in den USA und international in die Strukturen bürgerlicher Politik.

Die Entwicklung des IKVI ist durch einen Prozess des Kampfes gegen all diese rückschrittlichen sozialen, politischen und intellektuellen Tendenzen vorangeschritten. Dass das IKVI nach der Auflösung der UdSSR allen Tendenzen zur Kapitulation widerstanden hat, war kein Zufall. Diese Widerstandsfähigkeit war das Ergebnis des Kampfes, der in den vorangegangenen zehn Jahren gegen die politische Kapitulation der Workers Revolutionary Party geführt worden war und bis auf das Jahr 1982 zurückging. Der Kampf gegen die WRP entwickelte sich, wenn man tiefer in die Geschichte hineinschaut, aus dem ein Jahrzehnt zuvor geführten Kampf innerhalb der Workers League (dem Vorgänger der Socialist Equality Party) gegen den Opportunismus von Tim Wohlforth und gegen die SWP von Joseph Hansen. Diese lange Geschichte des Kampfes, die die Bande zwischen dem IKVI und seinem trotzkistischen Erbe erneuerte, hatte es dem Internationalen Komitee ermöglicht, eine weltweite revolutionäre Perspektive auszuarbeiten, die die wichtigsten Züge der sich entwickelnden globalen Krise korrekt analysierte und die Bewegung auf die immensen Veränderungen vorbereitete, die durch das Auseinanderbrechen der Sowjetunion in Gang gesetzt wurden.

Betrachtet man die Entwicklung des IKVI in den vergangenen zwanzig Jahren, sollte man gewisse entscheidende Momente herausheben:

(1) Im März 1992 betonte das IKVI auf seinem 12. Plenum die Bedeutung eines spezifischen und sehr bewussten Kampfes zum Wiederaufbau einer internationalen sozialistischen Kultur in der Arbeiterklasse. In diesem Zusammenhang entwickelte das IKVI in den folgenden zwanzig Jahren eine erhebliche Arbeit in Fragen der Kunst.

(2) Im Februar 1993 begann das Internationale Komitee seine enge Zusammenarbeit mit dem inzwischen verstorbenen Wadim Rogowin und startete eine internationale Gegenoffensive gegen die sogenannte “post-sowjetische Schule der Fälschung”. Die Verteidigung der historischen Bilanz der Oktoberrevolution und insbesondere der Rolle Leo Trotzkis macht seit zwei Jahrzehnten einen großen Teil der Arbeit des IKVI aus. Von 2007 bis 2010 veröffentlichte das IKVI detaillierte Widerlegungen und Enthüllungen der Angriffe auf Trotzki durch die reaktionären Historiker Ian Thatcher, Geoffrey Swain und Robert Service. Diese Schriften wurden unter dem Titel „Verteidigung Leo Trotzkis“ veröffentlicht.

(3) Im Juni 1995 begann die Workers League ihre Umwandlung in die Socialist Equality Party - ein politischer Prozess, der von allen Sektionen des IKVI unterstützt und übernommen wurde.

(4) Im Februar 1997 begann die Arbeit zur Einführung der World Socialist Website, die im Februar 1998 offiziell ins Leben gerufen wurde.

(5) Im März 2003 wurde die erste nationale öffentliche Konferenz der Socialist Equality Party (USA) und der World Socialist Website abgehalten. Mit diesem Ereignis begann ein erhebliches Wachstum der Socialist Equality Party.

(6) In den folgenden Jahren weitete die Partei bei wachsender Mitgliederzahl ihre Offensive gegen die reaktionäre philosophische Untermauerung des kleinbürgerlichen Radikalismus aus. Von besonderer Bedeutung war in diesem Zusammenhang die Veröffentlichung von Marxismus, Geschichte und sozialistisches Bewusstsein.

(7) Im August 2008 hielt die Socialist Equality Party (USA) ihren Gründungskongress ab, auf dem sie Die Historischen und Internationalen Grundlagen der Socialist Equality Party annahm. In den folgenden drei Jahren hielten Sektionen des IKVI in Australien, Deutschland, Großbritannien und Sri Lanka ebenfalls ihre Gründungskongresse ab.

(8) Im August 2010 nahm die SEP auf ihrem ersten alle zwei Jahre stattfindenden Parteitag ein politisches Programm an, auf das sich ihre zunehmenden Kämpfe in der Arbeiterklasse stützen.

Es gibt bei Macbeth einen denkwürdigen Abschnitt, den der verstorbene Leopold Haimson in der Einführung zu seinem wichtigen historischen Werk Russische Marxisten und die Ursprünge des Bolschewismus zitiert: „Wenn ihr durchschauen könnt die Saat der Zeit

und sagen, welches Korn sprießt und welches nicht, dann sagt es mir.“

Die Saat, die die Workers League und das IKVI vor vielen Jahren ausgestreut und in den vergangenen vier Jahrzehnten durch intensive theoretische, politische und praktische Arbeit gehegt und gepflegt haben, verkörpert die gesamte geschichtliche Kontinuität des Marxismus.

2012 stehen wir vor der Aufgabe, in die gesellschaftlichen Kämpfe einzugreifen, um die besten Elemente in der Arbeiterklasse und der Jugend für den Kampf für den Sozialismus zu gewinnen.

Loading