Günter Grass und die Waffen-SS

Seit der Schriftsteller Günter Grass im Gedicht „Was gesagt werden muss“ vor einem militärischen Angriff auf den Iran gewarnt hat, ist in den Medien eine hysterische Kampagne gegen ihn entbrannt. Der 84-jährige Nobelpreisträger wird in Zeit, Welt, Frankfurter Rundschau, Berliner Morgenpost und vielen anderen Zeitungen als Antisemit beschimpft und in die Nähe der NS-Ideologie gerückt. Da sein gesamtes literarisches und politisches Lebenswerk diese infamen Vorwürfe widerlegt, wird zum „Beweis“ meist seine kurze Mitgliedschaft in der Waffen-SS als 17-Jähriger angeführt.

 

Grass selbst hatte 2006 in seinem autobiografischen Werk „Beim Häuten der Zwiebel“ über diese Mitgliedschaft berichtet, die kurz vor Kriegsende unfreiwillig erfolgt und in deren Verlauf er weder an Verbrechen noch an Kriegshandlungen beteiligt gewesen war. Schon damals brach ein Sturm der Entrüstung über Grass herein, an dem sich vor allem rechte Kreise beteiligten, denen der unbequeme Schriftsteller zum einen der anderen Zeitpunkt in die Quere gekommen war.

Wie unsinnig die Vorwürfe gegen Grass waren, erläuterte die WSWS am 18. August 2006 in einem Kommentar von Peter Schwarz, den wir hier erneut veröffentlichen.

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Nun geifern sie wieder, die Philister.

Das Bekenntnis von Günter Grass, er habe bei Kriegsende als Siebzehnjähriger in einer Division der Waffen-SS und nicht, wie bisher angenommen, als Flakhelfer gedient, hat eine Welle grotesk übersteigerter Anschuldigungen ausgelöst. Sie reichen von der Behauptung, der Schriftsteller habe jede moralische Glaubwürdigkeit verspielt, bis hin zur Forderung nach Aberkennung des Literaturnobelpreises.

Der 79-jährige Grass hatte letzte Woche in einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erstmals öffentlich über seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS gesprochen. In seinem mittlerweile erschienenen autobiografischen Werk „Beim Häuten der Zwiebel“ berichtet er ausführlich darüber und thematisiert gleichzeitig die Schwierigkeiten des Erinnerns und die Scham, mit der Erinnerung umzugehen.

Grass’ Kritiker warteten das Erscheinen des Buches nicht ab. Kaum war das Wort Waffen-SS gefallen, heulte die Meute los.

Der national-konservative Historiker Michael Wolffsohn verstieg sich zur Behauptung, durch Grass’ Mitgliedschaft in der Waffen-SS sei dessen Lebenswerk „vollkommen beschädigt“: „Es sind schöne Worte übrig geblieben, ohne Werte. Die wunderbaren Worte dieses großen Poeten sind Fassade. Mehr nicht.“ Grass habe „seine eigentliche Lebensaufgabe verfehlt“, sagte er dem ZDF-Magazin Aspekte.

Der Literatur-Kritiker Hellmuth Karasek warf Grass „Doppelzüngigkeit“ und „eine furchtbare Heuchelei“ vor: „Das ist ja wie einer, der Wasser predigt und sich täglich mit Wein vollsäuft“.

Die Financial Times Deutschland behauptete, die „politisch-moralische Autorität“ des Schriftstellers sei „durch sein reichlich spätes Erinnern ruiniert“. Spätestens anlässlich des umstrittenen Besuchs von US-Präsident Ronald Reagan und Bundeskanzler Helmut Kohl auf einem Soldatenfriedhof in Bitburg, auf dem auch SS-Leute begraben sind, hätte Grass sich äußern müssen - eine Forderung, die auch von konservativen Politikern erhoben wird.

Die Grünen-nahe taz verglich den Fall Grass im Rahmen eines Interviews mit dem Politologen Claus Leggewie sogar mit demjenigen von SS-Hauptsturmführer Hans Schneider, der nach dem Krieg seine Identität vertuscht und unter dem Namen Hans Schwerte Karriere als Germanist gemacht hatte, bevor er in den neunziger Jahren enttarnt wurde. Leggewie selbst wirft Grass „tiefste moralische Verkommenheit“ vor.

Aus Polen, wo sich die national-konservative PiS seit der Machtübernahme der Kaczynski-Zwillinge eifrig in antideutscher Rhetorik übt, um vom eigenen Versagen abzulenken, ertönte die Forderung, Grass müsse die Ehrenbürgerschaft seiner Geburtsstadt Danzig und der Nobelpreis aberkannt werden. Grass hatte sich seit langem intensiv um eine deutsch-polnische Verständigung bemüht.

Daneben gibt es aber auch viele Intellektuelle und Kulturschaffende, die sich von der Kampagne gegen Grass nicht beeindrucken lassen und ihn verteidigen - vom Historiker Hans Mommsen über den Literaturhistoriker Walter Jens, den Schauspieler Mario Adorf, den SPD-Politiker Egon Bahr bis hin zum Fernsehmoderator Ulrich Wickert, um nur einige zu nennen.

Die Angriffe auf Grass sind ebenso bombastisch wie verlogen. Sie stehen in keinem Verhältnis zu den bekannt gewordenen Tatsachen und sind eindeutig politisch und ideologisch motiviert.

Grass hat der konservativ-selbstzufriedenen bundesdeutschen Gesellschaft, die ranghohe Nazis in führenden Staatsämtern beschäftigte und neben einer Handvoll Tätern und Verführern nur Opfer und Verführte kannte, in seinen frühen Romanen einen unverfälschten Spiegel des Dritten Reichs vorgehalten. Dabei schildert er die Deutschen nicht als undifferenziertes Tätervolk, sondern zeichnet ein sorgfältiges Bild des kleinbürgerlichen Miefs, in dem die braune Saat gedeihen konnte. Er beschreibt die Charakterschwächen und kleinen Gemeinheiten, die Menschen ohne eigene Überzeugungen zu Mitläufern machten. Er berichtet über das Wegschauen und Verdrängen. Er zeichnet die Überzeugungstäter und jene, die litten und sich widersetzten. Sein zentrales Thema aber ist die eigene Generation, die im Dritten Reich aufwuchs und erzogen wurde. Er schildert ihre Widersprüche, ihr moralisches Dilemma und ihre Schwierigkeiten, mit der Vergangenheit umzugehen.

Das wurde Grass nie verziehen und hat ihm bleibende Feindschaften eingetragen. Die wütendsten Angriffe auf Grass kommen nicht zufällig aus rechten und konservativen Kreisen. All jene, denen er zu nahe getreten, deren selbstzufriedene Ruhe er gestört hat, heulen jetzt triumphierend auf. Endlich, so der Tenor, ist der weltberühmte Schriftsteller von seinem hohen moralischen Ross gefallen; er hatte kein Recht, uns zu kritisieren und uns einen Spiegel vorzuhalten. Zu diesen Rechten und Konservativen gesellen sich etliche frühere Linke, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und sieben Jahren rot-grüner Koalition den Kopf und jegliche Orientierung verloren haben.

Dass Grass so lange über diese Episode seiner Biografie geschwiegen hat, ist sicherlich ein Fehler; aber ein Fehler, den man in den richtigen Proportionen sehen muss und der psychologisch und historisch verständlich ist.

Als er mit knapp siebzehn Jahren in einem Arbeitsdienstlager seinen Einberufungsbefehl erhielt, war er praktisch noch ein Kind, das weder über die Kenntnisse noch über sonstige Voraussetzungen verfügte, um den verbrecherischen Charakter dieser Organisation zu verstehen. Hitler hatte in Deutschland die Macht übernommen, als Grass sieben Jahre alt war, und kurz danach gelangten die Nazis auch in der Freien Stadt Danzig an die Macht. Grass wuchs so unter dem Einfluss der Nazi-Propaganda auf. Eine kritische Haltung konnte sich da kaum entwickeln. Wie viele Jugendliche seines Alters glaubte er bis zum Ende des Kriegs an den „Endsieg“. Daraus hat er nie einen Hehl gemacht.

Grass war weder direkt noch indirekt an Verbrechen der Waffen-SS beteiligt. Selbst seine ärgsten Gegner werfen ihm das nicht vor. Nach der Ausbildung war er nur wenige Wochen im Kriegseinsatz. Er wurde verwundet und geriet in amerikanische Kriegsgefangenschaft, bevor er einen Schuss abfeuerte. Zu diesem Zeitpunkt war er noch keine achtzehn Jahre alt.

Grass selbst schreibt in seinem biografischen Werk über sein damaliges Verständnis der Waffen-SS: „Erschreckte mich, was damals im Rekrutierungsbüro unübersehbar war, wie mir noch jetzt, nach über sechzig Jahren, das doppelte S im Augenblick der Niederschrift schrecklich ist?“ In einer Erinnerung finde sich nichts, antwortet er, „dem ein Anzeichen für Schreck oder gar Entsetzen abzulesen wäre. Eher werde ich die Waffen-SS als Eliteeinheit gesehen haben, die jeweils zum Einsatz kam, wenn ein Fronteinbruch abgeriegelt, ein Kessel, wie der von Demjansk, aufgesprengt oder Charkow zurückerobert werden musste. Die doppelte Rune am Uniformkragen war mir nicht anstößig.“

Der renommierte Historiker Hans Mommsen bestätigt, dass diese Erklärung plausibel ist. Das Prinzip der Freiwilligkeit der Zugehörigkeit zur Waffen-SS sei bereits 1943 aufgehoben und ein beträchtlicher Anteil der Wehrpflichtigen ohne jede Formalität zur Waffen-SS einberufen worden, schreibt er in einem Beitrag für die Frankfurter Rundschau. „Somit ist die öffentliche Erregung über die Mitgliedschaft von Günter Grass in der bereits in Auflösung befindlichen Elitetruppe des NS-Regimes unangebracht.“ Ebenso wenig könne man Grass abfordern, „sich noch 1944 über den kriminellen Charakter der SS und des NS-Regimes hinreichend klar geworden zu sein. In den wenigen Wochen seines militärischen Einsatzes, die mit seiner Verwundung endeten, kam er mit den Verbrechen nicht in Berührung, die von Einheiten der Waffen-SS gegen die zivile Bevölkerung, gegen Kriegsgefangene und ausländische Zwangsarbeiter begangen wurden.“

Grass’ Mitgliedschaft in der Waffen-SS bleibt so eine Jugendepisode, aus der man ihm keinen persönlichen Vorwurf machen kann. Sie steht in keinem Verhältnis zum Verhalten eines, sagen wir, Herbert von Karajan, der 1933 als 25-Jähriger gleich zweimal in die NSDAP eintrat, in die deutsche und in die österreichische - was seiner Karriere äußerst förderlich war. Ganz zu Schweigen von einer Leni Riefenstahl, die Propagandafilme für das Nazi-Regime drehte, bis zu ihrem Tod vor drei Jahren jede Schuld abstritt und trotzdem als große Künstlerin gefeiert wurde.

Zum Kreis derer, die Grass vorwerfen, er sei als moralische Instanz „schwer beschädigt“, gehört auch der Historiker und Publizist Joachim Fest. Fest hatte im „Historikerstreit“ Mitte der achtziger Jahre die Bemühungen Ernst Noltes unterstützt, das Nazi-Regime als Reaktion auf den Bolschewismus nachträglich zu legitimieren. Grass dagegen hat den größten Teil seines literarischen Werks und seines politischen Lebens darauf verwandt, mit dem Nazi-Regime abzurechnen. Das Dilemma der Generation, die unter dem Nazi-Regime aufwuchs und darin verstrickt war, ohne dessen verbrecherischen Charakter erkennen oder verstehen zu können, ihre Schwierigkeiten, sich damit auseinander zu setzen, die Scham, die sie empfindet, darüber zu sprechen - dieses Thema zieht sich wie ein roter Faden durch Grass’ Werk.

Es entbehrt nicht einer tragischen Ironie, dass Grass selbst diese Scham so stark empfand, dass er sechzig Jahre lang nicht öffentlich über seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS sprach. (Wobei diese nicht so geheim war, wie es nun dargestellt wird. In der Wehrmachtsauskunftsstelle Berlin-Wittenau sind Grass’ Entlassungspapiere aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft, in denen seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS säuberlich vermerkt ist, seit Jahrzehnten öffentlich einsehbar. Bisher hatte sich nur niemand dafür interessiert. Auch der französische Figaro soll, wie das ZDF meldet, vor einigen Jahren darüber berichtet haben, ohne dass dies jemand zur Kenntnis nahm.)

In seiner Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“ spricht Grass diese Frage offen an. „Also Ausreden genug“, schreibt er zu seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS. „Und doch habe ich mich über Jahrzehnte hinweg geweigert, mir das Wort und den Doppelbuchstaben einzugestehen. Was ich mit dem dummen Stolz meiner jungen Jahre hingenommen hatte, wollte ich mir nach dem Krieg aus nachwachsender Scham verschweigen. Doch die Last blieb, und niemand konnte sie erleichtern.

Zwar war während der Ausbildung zum Panzerschützen, die mich den Herbst und Winter lang abstumpfte, nichts von jenen Kriegsverbrechen zu hören, die später ans Licht kamen, aber behauptete Unwissenheit konnte meine Einsicht, einem System eingefügt gewesen zu sein, das die Vernichtung von Millionen Menschen geplant, organisiert und vollzogen hatte, nicht verschleiern. Selbst wenn mir tätige Mitschuld auszureden war, blieb ein bis heute nicht abgetragener Rest, der allzu geläufig Mitverantwortung genannt wird. Damit zu leben ist für die restlichen Jahre gewiss.“

Zerstört das Grass’ moralische Autorität oder gar sein Lebenswerk? Ist dem Künstler vorzuwerfen, dass er selbst von den Widersprüchen betroffen ist, die er zum Thema seiner Werke macht? Die Antwort ist offenkundig Nein.

Viele Gegner von Grass versuchen sein biografisches Eingeständnis zu nutzen, um die Adenauer-Gesellschaft zu rehabilitieren. Nach dem Motto ‚Auch Grass hat Dreck am Stecken’ soll die bruchlose Übernahme ranghoher Vertreter des Naziregimes und dessen gesamten Justizapparats durch die Bundesrepublik nachträglich gerechtfertigt werden. Als wäre die unverschuldete Verstrickung des jungen Grass in den nationalsozialistischen Gewaltapparat mit der Tätigkeit des Kommentators der Nürnberger Rassegesetze Hans Globke, des Marinerichters Hans Filbinger, des Geheimdienstchefs Reinhard Gehlen und vieler anderer vergleichbar.

Noch deutlicher wird die politische Absicht bei jenen, die den Angriff auf Grass mit der Verteidigung der amerikanisch-israelischen Aggressionen im Nahen Osten verbinden. In unübertroffen vulgärer Weise tut dies Henryk M. Broder im Spiegel. Er erklärt Grass für „erledigt“ und prophezeit ihm, man werde ihn „fortan nur noch als die Karikatur seiner selbst wahrnehmen und ihm einen Platz in der Hall of Shame zuweisen“. Besonders erbost ist Broder, dass Grass die Nobelpreisrede Harold Pinters unterstützt und verteidigt hat, die die Politik der USA einer scharfen Kritik unterzieht.

Mit großem Getöse schwingt die politische Rechte die Keule der abstrakten Moral gegen Grass – um in ihrem Namen die Lehren aus der Vergangenheit zu unterdrücken und neue Verbrechen und Kriege zu rechtfertigen.

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