Perspektive

Die Wahl in Ägypten

Viele begrüßen den öffentlichen Sieg des Kandidaten der Muslimbruderschaft, Mohammed Mursi, bei der ägyptischen Präsidentschaftswahl als einen Wendepunkt in der Geschichte des Landes. Die internationalen Medien bezeichnen Mursi als den „ersten frei gewählten Präsidenten“ (Wall Street Journal).

Die ägyptische Presse ist sogar noch euphorischer. Die Tageszeitung Al-Shorouk schrieb in großen Lettern: “Das Volk hat Mursi zum Präsidenten bestimmt: Die Revolution hat den Präsidentenpalast erreicht.”

Diese Propaganda stellt die Realität auf den Kopf. Deshalb dürfen ägyptische Arbeiter, Studenten und die unterdrückten Massen solchen Parolen nicht das geringste Vertrauen schenken.

Es ist jetzt fast siebzehn Monate her, dass Massendemonstrationen und vor allem eine wachsende Welle von Massenstreiks den von den USA unterstützten ägyptischen Diktator Hosni Mubarak zum Rücktritt zwangen. Dieser revolutionäre Kampf war der Höhepunkt einer Bewegung der internationalen Arbeiterklasse. Sie reagierte damit auf Angriffe auf ihre Arbeitsplätze, den Lebensstandard und demokratische Grundrechte, denen sie nach dem weltweiten Finanzzusammenbruch von September 2008 ausgesetzt war.

Die ägyptischen Arbeiter erhoben sich gegen Armut, Ausbeutung, soziale Ungleichheit und politische Unterdrückung. Sie kämpften heroisch gegen die vom US-Imperialismus bewaffneten Sicherheitskräfte und Schläger des Mubarak-Regimes und opferten fast eintausend Märtyrer im Verlauf der Kämpfe, die ihren Höhepunkt in Mubaraks Sturz am 11. Februar 2011 fanden.

Fast eineinhalb Jahre später ist so gut wie keine Forderung der ägyptischen Arbeiter nach verbessertem Lebensstandard, Arbeitsplätzen, sozialer Gleichheit und Demokratie erfüllt worden. Der unterdrückerische kapitalistische Staatsapparat besteht nach wie vor, und das Land wird immer noch vom Imperialismus beherrscht, nur die verhasste Leitfigur Mubarak ist weg, wobei Hosni Mubarak kürzlich aus dem Gefängnis Tora in ein Kairoer Krankenhaus verlegt wurde.

Der Einzug des Muslimbruders Mursi in den Präsidentenpalast ändert nichts. Er ist nicht das Ergebnis „freier und fairer Wahlen“, sondern eines Urnengangs unter Bedingungen der Militärherrschaft, der von der Hälfte der registrierten Wähler boykottiert wurde, und anrüchiger Hinterzimmermanöver zwischen der rechten islamistischen Partei und der Militärjunta des Obersten Rats der Streitkräfte (SCAF).

Inmitten der Stichwahl zwischen Mursi und seinem Gegner, dem ehemaligen Luftwaffenkommandeur und letzten Ministerpräsidenten Mubaraks, Ahmed Schafik, führte der SCAF einen politischen Putsch durch, löste das von den Islamisten dominierte Parlament auf, übertrug sich selbst die Aufgabe, eine neue Verfassung zu schreiben, und machte den Weg für neue Unterdrückung und Folter frei: Er gab dem Militär und den Sicherheitskräften das Recht, Zivilisten zu verhaften. Außerdem verkündete er eine „Verfassungsergänzung“, mit der er sich selbst die Gesetzgebungsgewalt und die Vollmacht zur Erstellung des Staatshaushalts übertrug. Damit wurde auch die völlige Autonomie der Armee von ziviler Kontrolle festgeschrieben.

Schließlich wurde Mursi der Wahlsieg zugesprochen, und nicht Schafik, der dem Lager des Militärs angehört. Dieser Entscheidung gingen intensive Verhandlungen zwischen dem Militär und den Muslimbrüdern voraus, die das ganze Wochenende über andauerten. Die genauen Bedingungen in diesen Gesprächen werden erst in den nächsten Tagen und Wochen bekannt werden. Eines aber ist sicher: Jede Vereinbarung zwischen den Muslimbrüdern und dem SCAF kann nur zu einer konterrevolutionären Regierung führen, deren oberstes Ziel die Zerschlagung der revolutionären Kämpfe der Arbeiterklasse sein wird.

Die herrschenden Kreise Ägyptens und die imperialistischen Regierungen haben dies klar erkannt. Das zeigte sich, als die ägyptische Börse am Tag nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses den größten Sprung nach oben in ihrer Geschichte machte. Das Wall Street Journal berichtete, US-Diplomaten, die „nicht-öffentliche Gespräche“ mit der Führung der Muslimbruderschaft und ihrem Wirtschaftsteam führten, hätten „die USA beruhigt, da diese Leute ‚auf wirtschaftlichem Gebiet die richtigen Dinge gesagt’ hätten“.

Ein unmittelbares Ziel der Partnerschaft zwischen SCAF und Muslimbrüdern ist ein Abkommen mit dem IWF über die Gewährung eines 3,2 Milliarden Dollar-Kredits. Dieser wird an die Umsetzung so genannter Wirtschafts-“reformen“ gebunden sein, d.h. an drastische Sparmaßnahmen, die die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse in diesem Land weiter verschlechtern werden, in dem vierzig Prozent der Bevölkerung jetzt schon von zwei Dollar am Tag oder weniger existieren müssen

Für ägyptische Arbeiter und Jugendliche ist es wichtig, eine Bilanz der vergangenen anderthalb Jahre zu ziehen und zu untersuchen, welche politischen Kräfte und Programme dafür verantwortlich sind, dass auf die heroischen Streiks und Massenkämpfe nun ein konterrevolutionäres Regime aus SCAF und Islamisten folgt. Besonders genau sollte die Rolle der pseudolinken Organisationen unter die Lupe genommen werden. Sie nennen sich zwar „revolutionär“ und sogar „sozialistisch“, stehen aber nicht für die Arbeiterklasse, die den Kapitalismus abschaffen wollte, sondern für wohlhabendere Mittelschichten, die für sich selbst eine größere Rolle im bestehenden gesellschaftlichen und politischen System anstreben.

Typischer Vertreter dieser Schicht ist die fehlbenannte Gruppe Revolutionäre Sozialisten (RS). Sie wiesen die Forderungen von Arbeitern nach einer “zweiten Revolution” zurück und verbreiteten stattdessen die Lüge, die Militärführung des SCAF könne für den „demokratischen Übergang“ eingespannt werden. Im Mai letzten Jahres versicherten die RS, der SCAF strebe „die Reform des politischen und wirtschaftlichen Systems an und wird es demokratischer und weniger unterdrückerisch gestalten“.

Als die Bevölkerung immer stärker gegen den Militärrat opponierte, weil dieser Massenverhaftungen und Militärprozesse gegen Arbeiter und Jugendliche führte, priesen die RS die Muslimbruderschaft als Alternative zu den Generalen an. Gleichzeitig vertuschten sie die Zusammenarbeit der Bruderschaft mit dem Militärregime. Ihr Ziel war die Verhinderung einer unabhängigen Bewegung der Arbeiterklasse.

In der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl stellten sich die RS hinter die Bruderschaft und behaupteten, eine Stimme für Mursi sei eine Stimme gegen „Konterrevolution“ und “Faschismus”.

In einem Interview am 25. Juni auf socialistworker.org, der Website von ISO (International Socialist Organisation), der amerikanischen Gesinnungsgenossen der RS, gibt RS-Führer Mostafa Ali einen Einblick in die Illusionen, die seine Organisation in die Bruderschaft zu schüren versucht. Er schreibt den Muslimbrüdern den Erfolg zu, den Militärputsch gestoppt zu haben.

Er stellt mehrere Fragen: “Wird die Führung der Muslimbruderschaft wieder Kompromisse mit dem SCAF schließen? Werden sie die Massenmobilisierung auf dem Platz verraten? Werden sie die Bedingungen des Abkommens mit dem SCAF akzeptieren?“

In dem Interview vom 22. Juni beantwortet Ali die Fragen mit “Nein”. Er erklärt, die Bruderschaft müsse trotz ihres „Schwankens und ihrer Unschlüssigkeit eine rote Linie ziehen, um den Putsch zu stoppen“. Innerhalb von zwei Tagen erwies sich diese Einschätzung als vollkommen falsch.

„Die Aufgabe der Revolutionären Linken”, fuhr er fort, bestehe darin, “eine Einheitsfront aller revolutionären Kräfte gegen den Putsch zu schaffen”. Zu dieser „Einheitsfront“ zählt er ganz klar auch die Muslimbruderschaft und andere bürgerliche Kräfte. Innerhalb dieser „Einheitsfront“, erklärt er, „würde die ägyptische Arbeiterklasse eine wichtige Rolle in dem Kampf spielen, in den nächsten Wochen demokratische politische mit wirtschaftlichen Forderungen zu verbinden“.

Das Ziel dieser so genannten “linken” Partei ist also, die Arbeiterklasse der bürgerlichen Muslimbruderschaft unterzuordnen, die wiederum bereit war, der SCAF-Junta als Galionsfigur im Präsidentenpalast zu dienen. Nach dieser Formel werden die ägyptischen Arbeiter an Händen und Füßen gefesselt und ihren Todfeinden ausgeliefert.

Der einzige Weg vorwärts für die Arbeiter Ägyptens liegt in der entschiedenen Zurückweisung dieser Art konterrevolutionärer kleinbürgerlicher Politik. Die unaufschiebbare Aufgabe besteht jetzt darin, eine neue revolutionäre Führung zu organisieren. Sie muss sich auf eine internationale sozialistische Perspektive stützen und die unabhängige Stärke der Arbeiterklasse im Kampf um die Macht und den Sturz der kapitalistischen Herrschaft mobilisieren. Dazu ist es notwendig, eine ägyptische Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale aufzubauen.

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