Europa uneins angesichts ausbreitender Krise

Kurz vor dem wichtigen EU-Gipfel, der am Donnerstag und Freitag stattfinden soll, hat sich die europäische Schuldenkrise verschlimmert. Die Großmächte sind derweil heftig zerstritten.

Am Montag beantragte Spanien offiziell das Rettungspaket in Höhe von 100 Milliarden Euro für seine Banken, auf das man sich bereits am 6. Juni inoffiziell geeinigt hatte. Zypern bat offiziell um sein eigenes Rettungspaket, sodass jetzt fünf Staaten am Tropf der EU hängen. Da Zypern am 1. Juli die EU-Präsidentschaft übernehmen wird, hat sein Antrag auf ein Rettungspaket zusätzliche symbolische Bedeutung.

Am gleichen Tag stufte Moody’s Investors Service - nach Herabstufung der Kreditwürdigkeit der spanischen Regierung – noch 28 spanische Banken herunter, darunter die Banco Santander, die Bank mit der höchsten Marktkapitalisierung der Eurozone. Mindestens zwölf der Banken wurden auf Ramsch-Status heruntergestuft.

Am Dienstag stiegen Spaniens Darlehenskosten und die Nachfrage nach seinen Staatsanleihen fiel während einer Auktion für kurzfristige Anleihen. Madrid musste zustimmen, Investoren doppelt oder dreifach so hohe Zinsen zu zahlen wie noch im letzten Monat.

In Griechenland ist die neugebildete Regierungskoalition schon zerstritten. Vassilis Rapanos, der ehemalige Chef der griechischen Nationalbank, der zum Finanzminister ernannt worden war, trat am Montag angeblich aus Gesundheitsgründen zurück. Premierminister Antonis Samaras kündigte an, er werde wegen einer Augenoperation nicht am Gipfel teilnehmen können.

Im Verlauf des Wochenendes forderte die Koalition aus Nea Dimokratia, Pasok und Demokratischer Linker eine Verlängerung des Zeitraums um zwei Jahre, in dem die Vorgaben zur Senkung des Defizits, den die Troika aus Europäischer Union, Internationalem Währungsfonds (IWF) und Europäischer Zentralbank (EZB) erfüllt werden. Betroffen wären davon auch die Streichung von 150.000 Stellen im öffentlichen Dienst, Rentensenkungen für Geringverdiener, die Neuverhandlung einer Senkung des Mindestlohnes, und eine Senkung der bisher vereinbarten Steuererhöhungen.

Vertreter Deutschlands lehnten jede Änderung an den Sparmaßnahmen kurz und knapp ab. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble belehrte den griechischen Premierminister Samaras in einem Zeitungsinterview, dass es seine Aufgabe sei, die Vorgaben für das griechische Rettungspaket zu erfüllen, und zwar „schnell und ohne weitere Verzögerungen, anstatt zu fragen, was andere noch alles für Griechenland tun können.“

Vertreter Deutschlands erklärten außerdem, Griechenlands Bitte, die Bedingungen des Schuldenabkommens neu zu verhandeln, würden auf dem Gipfel in Brüssel nicht diskutiert werden, da die Troika das Land noch nicht besucht hat, um den Fortschritt bei der Umsetzung der geforderten „Reformen“ zu inspizieren.

Da sich die Rezession in ganz Europa ausbreitet und im Rest der Welt das Wachstum zurückgeht, gehen die Aussichten in Richtung einer Verschlimmerung der Schuldenkrise und einer Verschärfung des Drucks, der die Einheitswährung und die Europäische Union auseinanderreißt.

Vor allem nach dem Scheitern des G-20-Gipfels in Mexiko letzte Woche wurden große Hoffnungen darauf gesetzt, dass sich diese Versammlung von europäischen Staatschefs, EU-Funktionären und Zentralbankern auf konkrete Maßnahmen einigen werde, um die Schuldenkrise und die Bankenkrisen vor allem in Spanien und Italien zu lösen. Diese beiden Wirtschaftsmächte – die fünft- bzw. viertgrößte der EU – sind zu den Hauptzielen der Finanzmärkte geworden, nachdem sie sich an den Finanzkrisen der Peripheriestaaten Irland, Portugal und Griechenland angesteckt haben.

Es gab abschreckende Warnungen vor den Auswirkungen, wenn der EU-Gipfel sich nicht auf entschlossene Maßnahmen einigen könnte. „Das Überleben des Euro ist in Gefahr“, sagte Athanasios Orphanides, der bis letzten Monat Mitglied des obersten Rates der Europäischen Zentralbank war.

Am Samstag war in einem Leitartikel der Financial Times zu lesen: “Finanzinvestoren scheinen bald so weit zu sein, die Hoffnung aufzugeben. Die Wertpapiere scheinen zwar Wasser unter dem Kiel zu haben, aber auf den meisten Finanzmärkten herrscht düstere Stimmung.“

Am Dienstag erschien auf Spiegel-Online ein Interview mit George Soros. Darin spekulierte der Multimilliardär, es seien nur noch drei Tage Zeit, um den Euro zu retten.

Allerdings wurden alle Erwartungen aus der Finanzwelt und der Politik, dass eine Strategie oder ein Abkommen herauskäme, um die Krise zu lösen, weitgehend enttäuscht. Spiegel-Online schrieb dazu: „Da es kaum Hoffnung auf konkrete Entscheidungen gibt, gilt das Treffen in Brüssel bereits als gescheitert.“

Am Freitag vor dem Gipfel trafen sich in Rom die Staatschefs der vier größten Wirtschaftsmächte der Eurozone – Angela Merkel, Francois Hollande, Mario Monti und Mariano Rajoy. Das Treffen sollte Einigkeit demonstrieren, stattdessen enthüllte die Pressekonferenz danach die scharfen Spaltungen innerhalb der EU.

Merkel lehnte die Vorschläge von Hollande, Monti und Rajoy nach kurzfristigen Maßnahmen zur Linderung der Schuldenkrisen in Spanien und Italien ab, die auch von Washington und dem IWF unterstützt werden. Zu diesen Vorschlägen gehören direkte Geldspritzen der Europäischen Zentralbank an die Banken der beiden Staaten, großflächige Aufkäufe von Staatsschulden durch die EZB und die Verwendung der EU-Rettungsgelder zum Aufkauf der Staatsschulden von notleidenden Ländern.

Sie betonte Deutschlands Widerstand gegen jede Vergesellschaftung von Schulden durch Eurobonds sowie gegen eine generelle Aufsicht der EU über europäische Banken oder einen gemeinsamen Fonds zum Schutz der Bankeinlagen, bis eine Finanzunion errichtet ist, die durch die Kontrolle der EU-Institutionen über nationale Haushalte, diese ihrer Souveränität berauben würde.

Deutschland würde als stärkste europäische Wirtschaftsmacht diese Institutionen dominieren und in der ganzen Eurozone die Haushaltspolitik bestimmen. Hinter Deutschland würden die großen internationalen Banken stehen.

Hollande sagte auf der Pressekonferenz: „Wir müssen alle bestehenden Mechanismen einsetzen, um die Märkte zu stabilisieren, Vertrauen zu schaffen und gegen Spekulation zu kämpfen.“ Merkel antwortete: „Wachstum und Finanzdisziplin sind zwei Seiten derselben Medaille.“

Auf Merkels Beharren, vor der Einführung von Eurobonds oder anderen Maßnahmen, die Deutschland höhere Lasten zugunsten des Euro aufbürden würden, erklärte Hollande, es gäbe “keinen Transfer der Souveränität ohne mehr Solidarität.”

Der Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich hat tiefgehende Wurzeln. Deutschland versucht, als dominante Wirtschaftmacht seine Interessen innerhalb der Europäischen Union durchzusetzen, indem es die politische Autorität der EU über ihre Mitgliedsstaaten stärkt. Frankreich ist wirtschaftlich schwächer und versucht, durch die Verteidigung seiner politischen Position seine Interessen durchzusetzen und lehnt daher eine Schwächung seiner Souveränität ab.

Das einzige Ergebnis, das in Rom erreicht wurde, war ein symbolischer „Wachstumsfonds“ von 120 Milliarden Euro, wobei ein Großteil dieses Geldes aus anderen EU-Töpfen zusammengezogen wurde. Diese geringe Summe hätte kaum Auswirkungen auf die Arbeitslosenquoten von fast 25 Prozent in Griechenland und Spanien und die wachsende Arbeitslosigkeit in einem Großteil Europas, und ist wenig im Vergleich zu den 4,5 Billionen Euro, die seit 2008 an europäische Banken geflossen sind – mehr als ein Drittel der Wirtschaftsleistung der EU.

Merkel und Hollande werden sich am Mittwoch nochmals treffen, aber Merkel hat bereits signalisiert, dass sie nicht von ihrer Haltung abrücken wird. Am Montag erklärte sie auf einer Konferenz in Berlin, eine Teilung der Schulden innerhalb der Eurozone wäre „wirtschaftlich falsch und kontraproduktiv.“ Sie fügte hinzu: „Wenn ich an den Gipfel denke, mache ich mir Sorgen, dass wir uns wieder zu sehr auf alle möglichen Wege konzentrieren werden, die Schulden aufzuteilen.“

Am Dienstag veröffentlichte der Präsident des Europäischen Rates Herman Van Rompuy einen Vorschlag zur Umstrukturierung der Europäischen Union und zur Rettung des Euro, der auf dem Gipfel in Brüssel debattiert werden soll. Der Plan erschien mit seinem Namen und dem des Präsidenten der Eurogruppe Jean-Claude Juncker, sowie des Präsidenten der Europäischen Kommission, Jose Manuel Barroso und des Präsidenten der EZB Mario Draghi.

Der Plan sieht die Schaffung einer Bankenunion vor, mit einer Zentralbank als Regulierungsbehörde und einem gemeinsamen Sicherheitsfonds; strengerer EU-Kontrolle über die nationalen Haushalte, darunter die Vetomacht gegenüber Ländern, die die Schuldenziele der EU nicht einhalten, sowie die Vergemeinschaftung der Schulden der Eurozone. Die Umsetzung dieser Veränderungen würde Jahre dauern. Van Rompuys Plan sieht keine kurzfristigen Vorschläge für die unmittelbare Krise vor.

Deutschlands Außenstaatssekretär Michael Link lehnte die Forderung nach Eurobonds ab. In Luxemburg erklärte er: „Wenn wir damit anfangen, Schulden zusammenzulegen, steuern wir in eine Sackgasse.“

Großbritannien lehnt seinerseits eine Bankenunion ab und weigert sich, einer solchen beizutreten, da sich dies gegen die Interessen der City of London richten würde.

Alle die verschiedenen Pläne und Vorschläge gehen von derselben Prämisse aus: Dass die Last der Krise der Arbeiterklasse aufgehalst werden soll, und sie mit Sparkursen und „Strukturreformen“, d.h. mit dem Abbau von Arbeitsrechten für die Rettungspakete an die Banken zahlen soll.

Gleichzeitig hat der Zusammenbruch des wirtschaftlichen Gleichgewichts der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, das auf der wirtschaftlichen Vorherrschaft der USA basierte, sowie der weltweite Zusammenbruch, der 2008 begann, den grundlegenden Widersprüchen zwischen der europäischen Integration und dem Nationalstaatensystem, das so kennzeichnend für den Kapitalismus ist, neue Schärfe verliehen.

Die zunehmenden Unstimmigkeiten zwischen Deutschland und Frankreich, deren Bündnis das Zentrum des Projektes eines vereinten kapitalistischen Europas war, künden vom Zerfall der EU und der Rückkehr der gefährlichen nationalen Antagonismen, die im letzten Jahrhundert zu zwei Weltkriegen führten.

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