Perspektive

Bildungsstreik in Quebec am Scheideweg

Der Bildungsstreik der Studenten von Quebec gegen die Erhöhung der Studiengebühren und ihr mutiger Widerstand gegen Bill 78 - ein Gesetz, das den Streik kriminalisiert und das Demonstrationsrecht einschränkt – dauert schon seit fünf Monaten an und hat die liberale Provinzregierung genauso erschüttert wie die ganze herrschende Klasse Kanadas. Dennoch hängt das Schicksal des Streiks in der Schwebe.

Die Regierung nutzt die dreimonatige Aussetzung des Wintersemesters, die Bill 78 vorsieht, um eine beispiellose Mobilisierung der Polizei vorzubereiten, bis die bestreikten Universitäten und technischen Hochschulen Mitte August wieder öffnen.

Die Gewerkschaften isolieren den Streik systematisch und arbeiten an seiner Niederlage. Kaum war Bill 78 verabschiedet, da hatten Quebecs Gewerkschaftsvereinigungen schon erklärt, sie würden die Gesetze befolgen, darunter auch die Zusätze, die sie rechtlich dazu zwingen, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um sicherzustellen, dass Dozenten und anderes Universitäts- und Hochschulpersonal der Regierung bei der Niederschlagung des Streiks helfen.

Die New Democratic Party (NDP), die Partei der Gewerkschaften aus dem englischsprachigen Kanada, hat sich geweigert, die Studenten auch nur nominell zu unterstützen oder sich gegen Bill 78 auszusprechen. Die fadenscheinige Begründung dafür ist, dass es sich um „Angelegenheiten der Provinz“ handelt.

Die Gewerkschaften und die Studentenvereinigungen, die am direktesten unter ihrem Einfluss stehen, versuchen, den Streik und die Widerstandsbewegung gegen Bill 78 für die Wahl der Wirtschaftspartei Parti Quebecois zu instrumentalisieren. „Nach der Demonstration an die Wahlurne“, ertönt es von der Quebec Federation of Labour (QFL), der größten Gewerkschaft der Provinz.

Die Studenten und Arbeiter Quebecs, Kanadas und der ganzen Welt müssen aus den letzten fünf Monaten Lehren ziehen. Die Forderung der Studenten nach der Anerkennung von Bildung als soziales Recht hat sie nicht nur mit der liberalen Provinzregierung in offenen Konflikt gebracht, sondern mit der ganzen herrschenden Klasse Kanadas, seinen Gerichten und seiner Polizei.

Der Grund dafür ist, dass der Streik – wenn auch bisher nur implizit – die grundlegende Strategie der herrschenden Klassen Kanadas und der Welt in Frage stellt. Überall sind das Großkapital und seine politischen Vertreter entschlossen, die Arbeiterklasse für die schwerste Krise des Weltkapitalismus seit der Großen Depression zahlen zu lassen – mit der Zerstörung öffentlicher Dienstleistungen und massiven Einschnitten bei Arbeitsplätzen und Löhnen.

Wenn die Studenten in diesem Kampf Erfolg haben wollen, müssen sie sich deutlich gegen den Sparkurs der herrschenden Klasse stellen. Sie müssen den Kampf politisch und geografisch ausweiten, indem sie zum Katalysator für eine Gegenoffensive der Arbeiterklasse in Quebec und ganz Kanada zur Verteidigung aller Arbeitsplätze und öffentlichen Dienstleistungen, für die Entwicklung einer unabhängigen politischen Bewegung der Arbeiterklasse zum Aufbau von Arbeiterregierungen werden.

Nur die Arbeiterklasse kann den Würgegriff des Großkapitals über Wirtschaft und Gesellschaft brechen, idem sie die Wirtschaft radikal umorganisiert, sodass der Leitgedanke die Befriedigung sozialer Bedürfnisse statt privatem Profitstreben wird.

Es ist deutlich geworden, dass die Perspektive der Studentenorganisationen gescheitert ist, auch die von CLASSE, der Vereinigung, die den Streik begonnen und den Widerstand gegen Bill 78 geführt hat.

Die Studentenvereinigungen beharren darauf, die Regierung könne durch eine Ein-Themen-Protestkampagne, die den Kampf der Studenten von weiteren Kampfansagen an den Sparkurs der liberalen Provinz- und der konservativen Landesregierung genügend unter Druck gesetzt werden, die Gebührenerhöhung fallen zu lassen. Aber die liberale Regierung hat nicht etwa nachgegeben, sondern reagierte mit beispielloser Polizeiunterdrückung, die in der Annahme von Bill 78 gipfelte.

Da viele Studenten für eine Ausweitung des Streiks als Reaktion auf Bill 78 eintreten, fordert CLASSE einen „Sozialstreik“. Diese Forderung stellt jedoch keinen Bruch mit der kleinbürgerlichen Protestorientierung von CLASSE dar, sondern setzt sie fort.

Der sogenannte Sozialstreik ist ein Konzept, das von anarchistischen Gruppen propagiert wird: Gemeint ist eine Ausweitung der Proteste mit möglicherweise einigen begrenzten Aktionen von Arbeitern. Hierbei handelt es sich jedoch um den Gegensatz zu einem politischen Generalstreik, der auf den Sturz der liberalen Regierung von Charest und die Entwicklung des Kampfes für Arbeiterregierungen mit sozialistischer Politik abzielt.

Für die Gewerkschaften ist alles tabu, was in Richtung politischer Streik geht – selbst eintägige Aktionen. Ende Mai schrieb der Präsident der QFL Michel Arsenault an den Canadian Labour Congress eine Warnung vor „Radikalen“, die einen Sozialstreik propagieren und forderte, dass die Gewerkschaften im englischsprachigen Kanada den Studenten die Unterstützung versagen. Louis Roy, der Präsident der Confederation of National Trade Unions, des zweitgrößten Gewerkschaftsbundes in Quebec, kanzelte einen CLASSE-Sprecher öffentlich ab, nachdem dieser sich auf einem Forum, auf dem sie Mit-Gastgeber waren für einen Sozialstreik ausgesprochen hatte.

Angesichts dieses Widerstandes hörte CLASSE auf, von einem Sozialstreik zu reden. Seine Führer erwähnten es bei den Massendemonstrationen in Montreal und Quebec am 22. Juni nicht, und in den nächsten drei Wochen fiel fast kein Wort über den Streik.

Am Donnerstag wurde das Schweigen gebrochen. CLASSE veröffentlichte ein „Manifest“, dessen Inhalt zeigt, dass sie aus den letzten fünf Monaten nichts gelernt haben und schnell zum Anhängsel der Gewerkschaften beim Verrat des Streiks werden.

Das Manifest gibt zu, dass der Bildungsstreik weit über das Thema der Erhöhung der Studiengebühren hinausgegangen ist und ein „Kampf der Bevölkerung“ für die Demokratisierung von Quebec geworden ist. Es ist voll von Gerede über „das Volk“, die Arbeiterklasse wird allerdings nur am Rande als eine von vielen unterdrückten und „marginalisierten“ Gruppen erwähnt.

Der Kapitalismus wird nicht erwähnt, genauso wenig wie die Krise des Weltkapitalismus und der Widerstand der Arbeiterklasse von Griechenland über Spanien bis nach Ägypten. Tatsächlich wird in dem Manifest keine Entwicklung erwähnt, die außerhalb der Grenzen Quebecs stattfindet, obwohl die Studenten in Quebec sehr wohl von der massiven Schuldenlast amerikanischer Studenten wissen und sie oft als einen der Gründe für ihren Kampf nennen.

Trotz der ausschließlichen Konzentration auf Quebec wird in dem achtseitigen Manifest nirgendwo der Versuch der Parti Quebecois und der Gewerkschaften erwähnt, den Streik zu liquidieren und in eine Kampagne für die Wahl der PQ zu verwandeln – der Partei, die die größten Sozialkürzungen in der Geschichte von Quebec durchgeführt hat.

Im Schlusssatz wird auf den Sozialstreik angespielt, aber auf eine Art, die andeutet, dass die Aussicht auf größere Proteste eher eine Hoffnung ist als ein Ziel. Mit keinem Wort ist davon die Rede, wer ihn durchführen soll, oder mit welchem Ziel. CLASSE gibt eindeutig wieder dem Druck der Gewerkschaften nach, die sie weiterhin als echte Arbeiterorganisationen und Verbündete der Studenten darstellt.

Am Tag vor der Veröffentlichung des Manifests trafen sich mehrere Führer von CLASSE mit QFL-Präsident Arsenault, angeblich um seinen Brief an den CLC zu diskutieren, indem er forderte, die streikenden Studenten zu isolieren. Zum Schluss des Treffens erklärte der Kommunikationssekretär von CLASSE, Ludvig Moquin Beaudry, die QFL unterstütze den Streik wieder und fügte hinzu: „Wir glauben, sie meinen das ehrlich.“

Die QFL „stützt“ den Bildungsstreik so, wie ein Seil einen Erhängten stützt. Die Gewerkschaften in Quebec und international sind keine Arbeiterorganisationen, sondern Hilfstruppen des Großkapitals und des Staates bei der Unterdrückung der Arbeiterklasse. Die Mobilisierung der Arbeiterklasse kann nicht durch diese pro-kapitalistischen Organisationen erfolgen, sondern nur durch einen politischen und organisatorischen Bruch mit ihnen und der Entwicklung neuer Kampforgane der Arbeiterklasse.

Der Bildungsstreik in Quebec muss auf sozialistischer Grundlage neu begründet werden. Die Studenten werden nur dann fähig sein, auf die staatliche Unterdrückungskampagne gegen sie zu reagieren und ihre gerechtfertigte Forderung nach der Anerkennung von Bildung als soziales Recht zu sichern, wenn sie sich an die breite Masse der Arbeiterklasse wendet, aus dem engen Rahmen von Quebec ausbricht, auf den ihr Kampf bisher beschränkt war, und für die Entwicklung einer unabhängigen politischen Bewegung der Arbeiterklasse kämpft, die mit einem sozialistischen, internationalistischen Programm ausgestattet ist.

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