IG Metall hintergeht Leiharbeiter

Für die 250.000 Leiharbeiter in der deutschen Metall- und Elektroindustrie gilt ab dem 1. November 2012 ein neuer Tarifvertrag. Die zwischen der IG Metall, dem Bundesarbeitgeberverband der Personaldienstleister (BAP) und dem Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (IGZ) abgeschlossene Vereinbarung soll nach Aussagen der Gewerkschaft auch als Muster für andere Branchen gelten.

Das Ergebnis ist in den Worten der Verhandlungsführerin der IG Metall, Helga Schwitzer, ein „wichtiger Schritt hin zur fairen Bezahlung von Leiharbeitnehmern“. Mit ihm sei ein wesentliches Ziel zur Verbesserung der Bedingungen von Leiharbeitern in der Metall- und Elektroindustrie erreicht worden.

Nichts davon ist der Fall. In dem Tarifvertrag heißt es u.a.: „(Wenn) es in einem Betrieb keine Betriebsvereinbarung zur Leiharbeit (gibt), dann wird künftig schon nach 18 Monaten überprüft, ob der Leiharbeiter übernommen wird. Nach 24 Monaten Beschäftigung ist Übernahme Pflicht.“

Derartige Regelungen sind vollkommen wertlos. Die Leiharbeitsfirmen brauchen die betroffenen Arbeiter nur zum passenden Zeitpunkt für einige Tage an eine andere Firma auszuleihen, und schon erlischt der Anspruch auf Übernahme.

Das Gleiche gilt für die vereinbarten Branchenzuschläge von 15 Prozent nach sechs Wochen und bis zu 50 Prozent nach neun Monaten. Ein kurzer Einsatz in einem anderen Betrieb, und der Leiharbeiter darf ohne Lohnerhöhung weiter arbeiten. Die Zahlung von gerade einmal 300 Euro Urlaubs- und Weihnachtsgeld setzt sogar eine durchgehende Beschäftigungsdauer von mindestens drei Jahren voraus – eine Zeitspanne, die so gut wie nie erreicht wird.

Werkverträge werden in der Tarifvereinbarung überhaupt nicht erwähnt, obwohl zahlreiche Leiharbeitsfirmen das Lohndumping inzwischen auf diese Weise vorantreiben. Auch die übrigen Vereinbarungen – wie die Öffnungsklausel, die Unternehmen „bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten“ betriebliche Sonderregelungen erlaubt, oder die fünfjährige (!) Laufzeit des Tarifvertrages – zeigen, dass die IG Metall ihrem bisherigen Kurs gegenüber Leiharbeitern treu bleibt: Sie gibt sich als ihre vermeintlicher „Interessensvertreterin“ aus und hintergeht sie dabei nach Strich und Faden.

Begonnen hat die IG Metall diesen Kurs 2004. Damals stand die rotgrüne Regierung bei der Einführung der Agenda 2010 vor dem Problem, dass das europäische Recht die formale Gleichbehandlung von Leiharbeitern mit den Stammbelegschaften forderte. Das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) musste unter SPD und Grünen in diesem Sinne geändert werden.

Es gab nur eine einzige Möglichkeit, diese gesetzlichen Regelungen zu umgehen: Wenn Gewerkschaften bereit waren, Tarifverträge abzuschließen, in denen eine Schlechterstellung der Leiharbeiter festgeschrieben wurde. Genau das taten der Christliche Gewerkschaftsbund für Zeitarbeit und Personal (CGZP) und die IG Metall. Obwohl sich in ihren Reihen kaum Leiharbeiter befanden, boten sie sich der damaligen Arbeitgeberorganisation AMP als Partner an und schlossen Tarifverträge, die die Leiharbeiter gegenüber dem Stammpersonal empfindlich benachteiligten.

Ohne diese Tarifverträge würde seit 2004 die gesetzliche Regelung von „Equal Pay and Equal Treatment“ („gleiche Bezahlung und gleiche Behandlung“) gelten. Der gewerbsmäßige Verleih von Arbeitskräften wäre bedeutend weniger lukrativ, die Branche hätte niemals das inzwischen erreichte Ausmaß angenommen. DGB und CGZP haben den Aufschwung der Leiharbeit durch ihre Tarifabschlüsse erst ermöglicht und damit aktiv zur Aufspaltung der Arbeiterschaft in unterschiedliche Lohn- und Beschäftigungsgruppen beigetragen.

Wie diese Unterschiede zurzeit aussehen, hat der TV-Autor Steffen Clement in einem Beitrag für den Hessischen Rundfunk aufgelistet:

Ein Beschäftigter der Stammbelegschaft, der bei Audi Ingolstadt am Band arbeitet, erhält im Sommer 2012 einen Stundenlohn von 18,46 Euro. Dazu Urlaubs- und Weihnachtsgeld, eine Erfolgsprämie in Höhe von 8.000 Euro und die betriebliche Altersvorsorge. Sein Jahresbruttoeinkommen liegt bei 46.000 Euro.

Eine Leiharbeiterin im selben Betrieb erhält 16,14 Euro pro Stunde, ein geringeres Weihnachtsgeld und bekommt weder Erfolgsprämie, noch betriebliche Altersvorsorge. Ihr Jahresbruttoeinkommen liegt knapp unter 30.000 Euro. Die Leiharbeiterin erhält also 35 Prozent weniger als jemand von der Stammbelegschaft und wird im Alter finanziell schlechter dastehen.

Ähnlich sieht es bei den Angestellten aus: Ein Büroangestellter der Stammbelegschaft erhält 4.000 Euro plus Urlaubs- und Weihnachtgeld, Erfolgsprämie und die betriebliche Altersvorsorge und kommt im Jahr auf einen Bruttoverdienst von 60.000 Euro. Eine als Leiharbeiterin eingestellte studierte Betriebswirtin, die dieselbe Arbeit leistet, erhält 3.100 Euro pro Monat, weniger Weihnachts- und Urlaubsgeld, keine Prämie und keine betriebliche Altersvorsorge. Auch hier liegt der Lohn um 35 Prozent niedriger als bei der Stammbelegschaft, auch diese Angestellte wird im Alter geringere Bezüge erhalten als der fest beschäftigte Kollege.

Noch schlechter als die Leiharbeiter sind Arbeiter mit Werkvertrag gestellt. Sie arbeiten zu einem Festpreis und erhalten überhaupt keine Zahlungen über ihren Lohn hinaus. Über die Höhe ihrer Bezahlung gibt Audi keine Auskunft. Auch der Betriebsrat hüllt sich darüber in Schweigen, da Werkverträge „in der Regel nicht über die Personalabteilung und damit auch nicht über den Betriebsrat“ laufen.

Am schlimmsten von allen ergeht es einer vierten Gruppe: den Leiharbeitern mit Werkvertrag. Stundenlohn: 7,79 Euro, keine Extrazahlungen, keine Altersvorsorge, keine Erfolgsprämie. Das hochgerechnete Bruttojahreseinkommen liegt bei 16.000 Euro. Das sind 67 Prozent weniger, als die Stammbelegschaft erhält.

Die Verantwortung für diese Lohnaufsplitterung tragen vor allem die Bürokraten der IG Metall, die mit ihrem Betrug an den Leiharbeitern von Anfang an ein klares Ziel verfolgt haben: durch schlechter bezahlte Leiharbeit einen industriellen Puffer zu schaffen, der die Profite der Unternehmen vor den Auswirkungen der nachlassenden Konjunktur schützt und die Arbeiter spaltet. Wie 70.000 seit vergangenem Herbst entlassene Leiharbeiter beweisen, ist ihnen dies gelungen.

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