SEP Präsidentschaftskandidat spricht an Berliner Humboldt-Universität

Jerry White spricht an der Berliner Versammlung Jerry White spricht an der Berliner Versammlung

Am Samstag sprach Jerry White, der Präsidentschaftskandidat der Socialist Equality Party (SEP) der USA, vor 170 interessierten Zuhörern an der historischen Humboldt-Universität in Berlin. Das Publikum folgte dem Vortrag Whites und den anschließenden Fragen und Antworten mit gespannter Aufmerksamkeit.

Berlin war Whites dritter Aufenthalt auf seiner internationalen Rundreise, die ihn zuvor nach Sri Lanka und Großbritannien geführt hatte, wo er jeweils mehrere Vorträge hielt. Nach seiner Rede in Berlin kehrte White für die letzten sieben Wochen des Wahlkampf bis zur Wahl am 6. November in die USA zurück.

Zu Beginn seiner Rede erinnerte White an seinen letzten Besuch in Berlin im Oktober 2008, nur einen Monat nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers und einen Monat vor der Wahl Barack Obamas. Damals hatte sich eine riesige Menge von 200.000 Menschen an der Siegessäule versammelt, um den Kandidaten der Demokratischen Partei zu hören. Das war Ausdruck der damals noch starken Illusionen in Obama.

Jerry White Jerry White

Seit damals haben sowohl die europäische wie die amerikanische Arbeiterklasse entscheidende Erfahrungen gewonnen. White wies darauf hin, dass „die Arbeitslosigkeit und das soziale Elend in Europa ein Ausmaß erreicht hat wie seit der Großen Depression der 1930er Jahre nicht mehr. Achtzehn Millionen Europäer sind arbeitslos, Jugendliche in Spanien und Griechenland sogar zu fünfzig Prozent. Die EZB [Europäische Zentralbank] und die globalen Banken fordern überall Kürzungspolitik und so genannte ‚Arbeitsmarktreformen’, d.h. die Zerstörung auch des letzten Anscheins von Arbeitsplatzsicherheit oder eines ausreichenden Einkommens.“

Wie White erklärte, richten sich diese Maßnahmen nicht nur gegen griechische Arbeiter, sondern auch gegen Arbeiter in Deutschland. „Deutschlands Exportabhängigkeit macht es für die globale Rezession besonders anfällig, und das wird unvermeidlich zu mehr Angriffen auf Einkommen und Arbeitsplätze und zu einer Ausweitung des jetzt schon sehr umfangreichen Niedriglohnsektors führen.“

White sagte, solche Angriffe seien mit demokratischen Herrschaftsformen unvereinbar, und er lenkte die Aufmerksamkeit auf den Polizeimord an 34 Platinbergarbeitern in Südafrika. „Die gleichen Tendenzen entwickeln sich in vielen Ländern“, sagte er. „Die herrschende Klasse weiß, dass sie ihre zutiefst verhasste Politik nicht friedlich durchsetzen kann.“

In dem Zusammenhang stehe auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Deutschland im letzten Monat, das den Einsatz der Bundeswehr im Inneren billigte. White wies darauf hin, dass dieses Urteil eine Erweiterung der Notstandsgesetze von 1968 darstelle: „Im Mai 1968 stand die Arbeiterklasse im benachbarten Frankreich am Rande einer Revolution. Auch die Studenten waren von revolutionärer Stimmung ergriffen, und die Unruhen hatten sich auf viele Fabriken ausgeweitet. Die juristischen Bedingungen für einen Einsatz des Militärs sind so vage gefasst, dass es problemlos gegen politische Opposition und Kämpfe der Arbeiterklasse eingesetzt werden kann.“

White berichtete dann über den Parteitag der Demokratischen Partei, auf dem Obama nominiert wurde. Er erklärte, die politische und organisatorische Heuchelei des Parteitags mache „die enorme Kluft zwischen einfachen Arbeitern und den gekauften und bestochenen Politikern deutlich. Die Demokraten versammelten sich mit ihren Zahlmeistern aus der Wirtschaft und ihren Freunden in den Medien hinter meterhohen Barrikaden und wurden von Tausenden Polizisten von jedem Protest abgeschirmt.“

Diese Politiker hätten versucht, sich als Kritiker der Wall Street und der Republikaner zu verkaufen, wie auch als Verfechter der Interessen der so genannten Mittelklasse. Dazu sagte White: “In seiner zentralen Rede versuchte Obama, sich in das Gewand von Franklin Roosevelt zu werfen, des Demokratischen Präsidenten, der in den 1930er Jahren aus Furcht vor einer sozialen Revolution bestimmte Sozialreformen einführte. Er legte z.B. Regierungsprogramme auf, durch die Millionen Arbeiter Beschäftigung fanden.“ Obama dagegen habe der Wall Street zu verstehen gegeben, dass er nicht die mindeste Absicht habe, Sozialprogramme aufzulegen, um Arbeitsplätze zu schaffen oder die soziale Verelendung im Land zu bekämpfen.

Bezeichnenderweise habe Obama gesagt: „Die Erben der Partei Roosevelts unter uns sollten nicht vergessen, dass nicht jedes Problem mit einem weiteren Regierungsprogramm oder Diktat aus Washington gelöst werden kann.“ Obama habe in seiner Rede den obligatorischen Kotau vor dem Kapitalismus mit den Worten zu Protokoll gegeben: „Wir halten die Fleißigen hoch, die Träumer, die etwas wagen, die Unternehmer. Sie waren schon immer die Triebkraft unseres Systems des freien Unternehmertums, der stärksten Wachstumsmaschine und des größten Wohlstands, den die Welt je gesehen hat.“

„Und dies in einem Land”, kommentierte White, “in dem in den letzten drei Jahren Dutzende Millionen ihre Arbeitsplätze, ihre Wohnungen und ihren Lebensunterhalt verloren haben, und nur die Wirtschaft und die Finanzaristokratie Wachstum und Wohlstand erleben. Erst überreichte die Regierung den Wall Street-Banken Billionen Dollar an Rettungsgeldern und gab Unsummen für das Militär aus, und dann betonten beide Parteien bei allen sonstigen Differenzen unisono, für die magere soziale Sicherheit sei kein Geld mehr da.“

Wie White weiter ausführte, sind sich hinter dem Rücken der amerikanischen Bevölkerung beide großen US-Parteien einig, alle noch verbliebenen sozialen Errungenschaften, die sich die Arbeiterklasse in zwei Jahrhunderten erkämpft hat, zu zerstören. White sagte: „Wenn Roosevelt seine Sozialreformen, die ihm die Arbeiterklasse in den 1930ern abgerungen hatte, seinen New Deal nannte, dann müsste man die Programme Obamas und Romneys als Anti-New-Deal bezeichnen.“

Dann ging White auf die kleinbürgerlichen, pseudolinken Organisationen ein. Obwohl offensichtlich sei, dass die soziale Polarisierung in den USA unter Obama noch einmal gewaltig zugenommen habe, unterstützten diese Organisationen seine Widerwahl. Diese kleinbürgerlichen Tendenzen verteidigten die Gewerkschaften und konzentrierten sich auf so genannte Identitätspolitik, um die Arbeiterklasse an die Demokraten zu fesseln.

White bezog sich auf einen jüngeren Artikel zweier ehemaliger Maoisten mit dem Titel “Die Wahlen 2012 haben wenig mit Obamas Bilanz zu tun. (…) Deswegen stimmen wir für ihn.” Diese beiden behaupteten, im Zentrum der sozialen Polarisierung in den USA ständen heute Fragen der Hautfarbe und der Unterdrückung der Frauen.

White zitierte, was sie geschrieben hatten: „Unglücklicherweise sehen zu wenige Linke und Fortschrittliche, dass die Polarisierung hauptsächlich aus dem Problem der rachsüchtigen weißen Überlegenheitsfanatiker und der Rasse-Fragen der amerikanischen Rechten besteht. Ein weiterer Fokus ist die erneute Unterdrückung der Frauen, die schweren Lasten, die Jugendliche und Ältere zu tragen haben, die wachsende Kriegsgefahr und die reaktionäre Politik gegen Labor und die Arbeiterklasse. Niemand auf der Linken, der noch bei Sinnen ist, kann sich gleichgültig abseits stellen, wenn es darum geht, in diesem Jahr die Republikaner zu besiegen.“

Dazu erklärte White: “Rassenpolitik war das Programm der amerikanischen Bourgeoisie, als sie sich von Sozialreformen verabschiedete und im Namen eines Schwarzen Kapitalismus’ und der Affirmative Action unter Afroamerikanern, Hispaniern, Frauen und Schwulen eine neue obere Mittelschicht und Bourgeoisie kultivierte.”

Obama sei mit seinem multikulturellen Background der richtige Mann gewesen, den US-Imperialismus neu zu verpacken. Sein Vater war ein Muslim aus Kenia, seine Mutter Weiße; er selbst wuchs zeitweise in Indonesien auf.

Wie White erklärte, ist dies der Hintergrund für die Unterstützung, die viele kleinbürgerliche, pseudolinke Professoren, Ex-Antikriegsaktivisten und Frauen- und Schwulenaktivisten dem „Menschenrechts“-Imperialismus geben. Sie haben ihren Frieden mit dem amerikanischen und europäischen Imperialismus gemacht. Beispiele dafür sind pseudolinke Organisationen wie die britische SWP, die französische Neue Antikapitalistische Partei (NPA), die NSSP in Sri Lanka und die International Socialist Organisation in den USA. Sie alle feiern heute die von der CIA unterstützten „Rebellen“ in Syrien als Revolutionäre und begrüßen neokoloniale Stellvertreterkriege.

„Die Ereignisse in Südafrika“, so White weiter, „haben außerdem gezeigt, dass die Rasse nicht die Hauptfrage ist, sondern die Klassenfrage. Es gibt eine tiefe Kluft zwischen dem Marxismus und der Politik der Pseudolinken.“

Abschließend erklärte White, der Aufbau einer revolutionären Partei in den USA habe sich als langwieriger Prozess herausgestellt. „Solange ein ausreichender Anteil des Nationaleinkommens an die Arbeiterklasse ging, und der Nachkriegsboom es möglich machte, dass es jeder nachfolgenden Generation besser ging als der vorherigen, sahen die Arbeiter keine Notwendigkeit für den Sozialismus. Letztlich war es die Stärke des amerikanischen Kapitalismus, die die Arbeiterklasse der Demokratischen Partei und der liberalen Politik der oberen Mittelklasse unterordnen konnte.“

Doch heute hätten sich die Bedingungen grundlegend geändert. Das führe zu einer starken Veränderung des politischen Bewusststeins und einer Bewegung der Arbeiterklasse nach links. „Wir befinden uns in den USA am Vorabend enormer Klassenkämpfe“, sagte White, „und sie sind Teil eines internationalen Aufbegehrens, wie es in der Geschichte noch nicht gesehen wurde.“

Jerry Whites Ausführungen wurden vom Publikum mit großem Beifall aufgenommen. Anschließend wurden zahlreiche Fragen gestellt.

Eine amerikanische Studentin erklärte, sie habe während ihres Studiums schon jetzt 50.000 Dollar Schulden angehäuft. Um überhaupt eine Chance auf einen Arbeitsplatz zu haben, müsse sie weiter studieren, wofür sie noch einmal einen Kredit über 30.000 Dollar aufnehmen müsse. Sie fragte White, wie die SEP das Problem angehen werde.

White erklärte, die SEP spreche in diesem Zusammenhang von einem Studienkredit-”racket” (von mafiaähnlichen Verhältnissen). Er wies darauf hin, dass offene Studienkredite der Studenten inzwischen auf die Höhe von einer Billion Dollar geklettert seien. Seit der Hypothekenkrise und dem Bankenzusammenbruch von 2008 seien sie zum neuen Betätigungsfeld der Finanzhaie geworden.

“Das Recht auf eine anständige Ausbildung wird auf der ganzen Welt aktuell”, sagte er. „Es gab Demonstrationen und Proteste in Mexiko, Chile, Großbritannien und zuletzt in Quebec, Kanada. Wir treten dafür ein, alle Studentenkreditschulden zu streichen und Bedingungen zu schaffen, dass jeder überall auf der Welt eine gute und kostenlose Ausbildung bekommen kann. Das wird nur möglich sein, wenn das kapitalistische System, das auf privatem Profit und Nationalstaaten beruht, abgeschafft wird.“

Andere Teilnehmer fragten Jerry White nach seiner Meinung zu der Kandidatin der Grünen bei der Präsidentschaftswahl, Jill Stein, und wie die SEP die Entwicklung der Occupy-Bewegung einschätze.

Auch nach Ende der Versammlung gingen die Diskussionen noch weiter, und WSWS-Reporter sprachen mit mehreren Teilnehmern. Ein Flugbegleiter, der am Vortag am Streikposten gestanden hatte, sprach Jerry White nach Versammlungsende an, um die Diskussion fortzusetzen. Er war durch ein Streikflugblatt der PSG auf die Versammlung aufmerksam geworden. Der Flugbegleiter erklärte, er stimme besonders mit der Notwendigkeit einer internationalen politischen Perspektive überein.

„Meine allgemeine Philosophie”, erklärte er, “ist eine Welt ohne Grenzen, die Herstellung einer Art weltweitem Netzwerk. Bei der letzten Wahl konnte ich in den USA wählen, und ich habe damals Obama gewählt. Aber jetzt sehe ich, dass Demokraten wie Republikaner im Sold der Geldmärkte stehen. In dem Staat, in dem ich abstimme, gewinnen die Demokraten immer, also habe ich bei früheren Wahlen auch schon mal für dritte Kandidaten gestimmt.“

Der Flugbegleiter sagte, er interessiere sich besonders für die Ausführungen eines unabhängigen Kandidaten für die US-Präsidentschaft, und was dieser zum Aufbau von Kampforganisationen zu sagen habe, die sich unabhängig von den Gewerkschaften organisierten. „Ich bin Mitglied der Flugbegleitergewerkschaft UFO, und ich betrachte sie als einen Schritt, sich unabhängig von den großen Gewerkschaften zu organisieren. Mir ist die schäbige Rolle von Verdi durchaus klar, die sich Anfang des Jahres heftig gegen den Streik der Vorfeldlotsen ausgesprochen hat. Auch die alten UFO-Führer waren bereit, mit dem Management zusammenzuarbeiten, und wurden deswegen durch eine neue Führung ersetzt.“

Als er darauf aufmerksam gemacht wurde, dass UFO zwar einen organisatorischen Bruch mit einer großen Gewerkschaft wie Verdi vollzogen habe, im Grunde jedoch die gleiche nationalistische Orientierung wie Verdi vertrete, gestand er zu, dass dies zweifellos seiner grundlegend internationalen Perspektive widerspreche. „Ich kenne sehr wohl die üble Rolle, wie sie zum Beispiel amerikanische Gewerkschaften wie die UAW bei GM gespielt haben“, sagte er.

Joe, ein arbeitsloser Musiker aus den Vereinigten Staaten, sagte, er habe sich bisher wenig mit sozialistischer Politik befasst. Er habe aber den Eindruck, dass die beiden großen Parteien ihn bei der US-Wahl nicht vertreten würden. „Ich sehe, dass sie nur Stimmen fangen wollen, aber mit den Interessen der arbeitenden Bevölkerung nichts zu tun haben“, sagte er. Joe fand Jerry Whites Beschreibung der Lage „sehr zutreffend“, und er sagte, er habe sich entschlossen, die World Socialist Web Site regelmäßig zu lesen und sich intensiv mit sozialistischer Politik zu befassen.

Khalil, ein Student aus Tunesien, stimmte “ganz und gar” mit Jerrys Bemerkungen überein und sagte, er persönlich sei durch die Ereignisse 2011 in seiner Heimat politisiert worden. Er habe aber Sorge, sich politisch zu exponieren, weil in London ausländische Studenten inzwischen von Ausweisung bedroht seien. Er befürchte ähnliche Entwicklungen in Deutschland.

Ein Mitglied der Linkspartei, das anonym bleiben wollte, sagte, er stimme Jerry Whites Vortrag voll und ganz zu: „Dies war die zweite Versammlung der PSG, an der ich teilgenommen habe, und ich stimme völlig mit eurer Analyse überein.“

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