Erdbeben von L’Aquila: Hohe Haftstrafen für Seismologen

Am Montag, den 22. Oktober, wurden im italienischen L’Aquila sechs Seismologen und ein Regierungsbeamter wegen mehrfacher fahrlässiger Tötung zu jeweils sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Die Richter befanden, sie hätten ihre Pflicht verletzt, die Bevölkerung über die Risiken eines bevorstehenden Erdbebens korrekt zu informieren. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, sondern lässt eine Revision zu.

In dem Prozess ging es um das katastrophale Erdbeben, das am 6. April 2009 die Abruzzenstadt L’Aquila und zahlreiche weitere Orte zerstört hatte. In dem Erdbeben der Stärke 6,3 starben allein in L’Aquila 309 Menschen, darunter viele Kinder und Jugendliche. Rund 1.500 Menschen wurden verletzt und 67.000 obdachlos. Das historische Zentrum der Stadt ist bis heute nicht wieder aufgebaut worden.

Das Urteil stieß in Italien und weltweit auf große Empörung. Medien und Akademiker solidarisierten sich mit den verurteilten Seismologen, so zum Beispiel die amerikanische Geophysikalische Vereinigung und die American Association for the Advancement of Science (AAAS). In Italien traten führende Wissenschaftler von ihren Ämtern zurück. Der Physiker Luciano Maiani legte noch am Abend der Urteilsverkündung sein Amt als Präsident der staatlichen Risikokommission nieder.

Schon bei Prozessbeginn im September 2011 hatten über fünftausend Wissenschaftler in einem Offenen Brief an Italiens Staatspräsident Giorgio Napolitano gegen den Prozess protestiert. Sie stützten sich darauf, dass es bis heute unmöglich ist, ein Erdbeben genau vorauszusagen. Sie wiesen auf Erdbebenkarten und Richtlinien für erdbebensicheres Bauen hin, die der Regierung seit langem vorlagen. Sie forderten die politisch Verantwortlichen auf, die Erdbebenprävention auf dieser Grundlage zu verbessern, „anstatt Wissenschaftler zu bestrafen, weil sie das nicht taten, was sie gar nicht leisten können: Erdbeben vorherzusagen“.

Richter Marco Billi erklärte dagegen bei der Urteilsverkündung, es gehe nicht darum, dass die Wissenschaftler das Erdbeben nicht vorausgesehen hätten. Sondern sie hätten die konkrete Lage nachlässig untersucht und irreführende Informationen an die Presse gegeben.

„Ich bin nicht verrückt“, verteidigte sich auch Staatsanwalt Fabio Picuti. „Ich weiß, dass sie [die Seismologen] Erdbeben nicht vorhersagen können.“ Nicht dies sei Grundlage der Anklage, sondern: „Als staatliche Beauftragte hatten sie gewisse gesetzliche Pflichten, sie mussten die Risiken, die sich in L’Aquila stellten, beurteilen und benennen.“

Der Prozess drehte sich um ein außerordentliches Treffen der staatlichen Risikokommission, das am 31. März 2009, eine Woche vor dem Erdbeben, in L’Aquila stattgefunden hatte. Alle sieben Verurteilten gehören diesem Beratergremium des Zivil- und Katastrophenschutzes an und hatten an dem Treffen teilgenommen.

Die Bevölkerung war zu dem Zeitpunkt in hohem Grade beunruhigt, weil seit einigen Monaten mehrere tausend meist kleinere Erdstöße, sogenannte „Schwarmbeben“, die Gegend erschüttert hatten. So gab es noch am 30. März 2009, einen Tag vor dem Treffen der Risikokommission, ein Beben der Stärke vier auf der Richterskala. Der Bürgermeister von L’Aquila, Massimo Cialente, hatte an diesem Tag die Evakuierung mehrere Gebäude und die Schließung einer Grundschule angeordnet.

Hinzu kam, dass ein Amateurforscher, Giampaolo Giuliano, im Internet vor einem schweren Beben in der Region warnte und die Menschen ängstigte. Er behauptete, er könne Erdbeben gestützt auf Beobachtungen von Radon-Gas vorhersagen – eine bis heute höchst umstrittene Methode. Giuliano hatte nachweislich bereits zweimal falsche Voraussagen gemacht.

In dieser Situation lud der Leiter des staatlichen Katastrophenschutzes, Guido Bertolaso, die Kommission für Große Risiken mit dem ausdrücklichen Ziel nach L’Aquila ein, die Bevölkerung zu beruhigen. Das Treffen, an dem Bertolaso selbst nicht teilnahm und das nur eine Stunde dauerte, hatte sich laut Protokoll zur Aufgabe gestellt, „das seismische Phänomen, das seit einigen Monaten in der Region Aquilana auftritt, zu untersuchen“.

Gegenüber der Presse gab der offizielle Sprecher der Kommission, Katastrophenschutz-Vizechef Bernardo De Bernardinis, klare Entwarnung. Es sei anzunehmen, dass die vielen kleinen Beben die Energie im Erdinneren abgeschwächt hätten, sagte er. Man könne also ruhig schlafen und müsse höchstens befürchten, dass einige Blumentöpfe herunterfielen. Auf eine entsprechende Frage bestätigte er, es sei am besten, sich bei einem guten Glas Wein zu entspannen.

Bei den Einwohnern von L’Aquila erweckten diese breit publizierten Aussagen den Eindruck, es drohe keine akute Gefahr. Dies trug am Ende dazu bei, dass viele Familien nicht, wie bei unsicherer Lage sonst üblich, zum Übernachten in ein Notquartier oder Wohnmobil außerhalb der Altstadt oder zu Bekannten gingen. Sie blieben in ihren gefährdeten Wohnungen, wo einige von ihnen sechs Tage später im großen Beben von L’Aquila den Tod fanden.

Mehrere Einwohner von L’Aquila, deren Angehörige bei dem Beben umgekommen waren, traten im Prozess als Nebenkläger auf. Unter ihnen war Giustino Parisse, ein Journalist, der seine zwei Kinder und seinen Vater verloren hatte. „Die Wissenschaftler sind ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden“, sagte Parisse einer BBC-Reporterin. „Sie kamen nicht hierher, um mehr darüber herauszufinden, was vorging, sondern um die Bevölkerung zu beschwichtigen. Diese Leute gingen sehr nachlässig vor. Die Aussage, es bestehe keine Gefahr, die sie der Öffentlichkeit präsentierten, war ohne wissenschaftliche Grundlage.“

Derartige Stimmen flossen ungefiltert in die Anklage und in das Urteil ein, das noch über das von der Staatsanwaltschaft geforderte Strafmaß hinausging. Die Wissenschaftler wurden beschuldigt, sie seien mit ihrer Verantwortung als Mitglieder der Risikokommission „fahrlässig und oberflächlich“ umgegangen und hätten „ihre Pflicht der klaren, korrekten und vollständigen Information“ der Öffentlichkeit über bevorstehende bekannte Gefahren verletzt. Dies habe zum Tod von 32 Personen beigetragen.

In Wirklichkeit zeigt das Protokoll des Treffens vom 31. März 2009, dass die Mitglieder der Kommission während dieser kurzen Konferenz ernsthafte Erklärungen abgaben und die wirkliche Gefahrenlage weit realistischer einschätzten, als dies ihr Sprecher De Bernardinis an die Presse übermittelte.

Eine Studie des Nationalen Instituts für Geophysik und Vulkanologie (INGV), dessen Leiter Enzo Boschi an dem Treffen teilnahm, war zum Ergebnis gelangt, dass die vielen kleineren Beben in der Gegend durchaus auf ein bevorstehendes großes Beben hindeuten konnten. Die Studie hatte die Gegend um L’Aquila in die allerhöchste Risikozone Italiens eingestuft.

Das Protokoll vom 31. März 2009 zitiert Boschis Erläuterung, die Erdbebenaktivität in L’Aquila komme daher, dass es im Grenzgebiet zwischen zwei gewaltigen Bodenplatten liege. Starke Abruzzen-Erdbeben würden in sehr langen Perioden wiederkehren. Es sei unwahrscheinlich, dass in Kürze ein Beben wie das historische Erdbeben von 1703 auftreten werde, jedoch könne man dies niemals absolut ausschließen.

Boschi hatte bereits 1995 an einer Studie mitgewirkt, die in dieser Gegend in den kommenden zwanzig Jahren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Beben der Stufe 5,9 und größer voraussagte.

Das harsche Urteil gegen Boschi und seine Mitangeklagten wegen fahrlässiger Tötung ist daher eine juristische Farce. Es macht die Wissenschaftler zu Sündenböcken, um von der Frage der wirklichen gesellschaftlichen Verantwortung abzulenken, die bei der damaligen Regierung von Silvio Berlusconi, korrupten Behörden sowie kriminellen Bauunternehmen und Immobilienspekulanten liegt.

Obwohl das seismische Risiko für L’Aquila bekannt war und die Bauvorschriften dementsprechend streng sind, wurden sie offenbar von korrupten Baukonzernen systematisch unterlaufen. Das Erdbeben zerstörte nicht nur zahlreiche alte Gebäude, sondern auch neue öffentliche Bauten, während andere in unmittelbarer Nachbarschaft intakt blieben. Unter anderem stürzten ein neues Krankenhaus und ein Studentenheim ein, die mit Steuergeldern finanziert worden waren – ein klares Indiz für Pfusch am Bau und den Einsatz minderwertiger Materialien.

Doch diese Hintergründe wurden nie untersucht, geschweige denn Gegenstand eines Prozesses. Auch die angekündigten strengeren Gesetze und Kontrollen sind immer wieder am Einfluss großer Bauunternehmen und Immobilienspekulanten gescheitert. Bis auf den heutigen Tag haben es alle Regierungen, auch die von Mario Monti, versäumt, die für eine erdbebengefährdete Region notwendigen Maßnahmen zu verwirklichen.

Die Regierung von Silvio Berlusconi und die regionalen Behörden verfolgten vor dem Beben eine Beschwichtigungsstrategie, die die Bevölkerung beruhigen und die hohen Kosten von Gebäudesicherungs- und Evakuierungsmaßnahmen vermeiden sollte. So führte eine gewaltige Maschinerie der Verantwortungslosigkeit und Korruption am 6. April 2009 dazu, dass ein lange erwartetes Erdbeben katastrophale Auswirkungen hatte.

Die sieben Verurteilten, von denen die meisten international anerkannte Kapazitäten auf ihrem Gebiet sind, dienen nun als Blitzableiter für die wachsende Verbitterung der Bevölkerung, während die wirklichen Verantwortlichen frei ausgehen.

Die Einwohner der erdbebengeschädigten Region warten bis heute auf Unterstützung und Hilfe. Berlusconi hatte zwar nach dem Beben einen G-8-Gipfel nach L’Aquila einberufen und die Behörden hatten in aller Eile einige provisorische Siedlungen außerhalb der Stadt aus dem Boden gestampft, doch das Zentrum der zerstörten Stadt ist bis heute nicht wieder aufgebaut worden. Überdurchschnittlich viele Menschen sind arbeitslos. Perspektivlosigkeit und Wut brechen immer wieder durch. Die Einwohner von L’Aquila haben deshalb schon mehrmals in Rom protestiert.

Im Prozess wurde keinem der sieben Angeklagten nachgewiesen, dass er Aussagen wider besseres Wissen gemacht oder zu seinem persönlichen Vorteil gehandelt hat. In Wirklichkeit haben italienische Wissenschaftler den Regierungen und verantwortlichen Politikern mehrfach Empfehlungen für Erdbebenschutzmaßnahmen vorgelegt und umfangreiches Material erstellt – Gefahrenkarten, Richtlinien für erdbebensicheres Bauen, Evakuierungspläne etc. –, für deren Umsetzung keine Regierung bisher das nötige Geld bereitgestellt hat.

Das Urteil von L’Aquila wird zur Folge haben, dass Wissenschaftler aus Angst vor Prozessen in Zukunft ihre Erkenntnisse zurückhalten könnten. Es ist so auch ein Schlag gegen die Wissenschaft und muss uneingeschränkt zurückgewiesen werden.

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