Bericht an den zweiten Nationalen Parteitag der Socialist Equality Party

Mit dem folgenden Bericht eröffnete David North, der Vorsitzende der Socialist Equality Party in den USA, am 8. Juli 2012 deren zweiten Nationalen Parteitag.

 

Der zweite Nationale Parteitag der Socialist Equality Party findet inmitten der größten ökonomischen, politischen und sozialen Krise des amerikanischen und des Weltkapitalismus seit den 1930er Jahren statt. Man muss nicht Marxist sein, um die extreme Zerbrechlichkeit des gesamten internationalen Wirtschaftssystems zu erkennen. Nach den Kommentaren zu urteilen, die in der bürgerlichen Presse erscheinen, hat die „Katastrophentheorie“ eine beträchtliche Anzahl Anhänger gefunden. Vier Jahre nach dem spektakulären Zusammenbruch von Lehman Brothers im September 2008 gibt es keine Anzeichen für ein Abklingen der Weltwirtschaftskrise.

Der Stillstand der Beschäftigtenzahlen sowie der scharfe Rückgang der Industrieproduktion in den Vereinigten Staaten sprechen den Behauptungen der Obama-Regierung hohn, es sei eine „Erholung“ im Gange. Die Aussicht auf eine erhebliche und dauerhafte Wiederbelebung der US-Wirtschaft wird durch den zunehmenden Abwärtstrend in Europa und Asien weiter verringert. Die gleichzeitig erfolgte Zinssenkung der chinesischen und der europäischen Zentralbank am Mittwoch sowie die Entscheidung der Bank von England, ihr Konjunkturprogramm zu beschleunigen, zeugen von dem in den herrschenden Eliten weitverbreiteten Glauben, der Zustand der Weltwirtschaft verschlechtere sich rasant.

Die Krise ist systembedingt. Institutionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg für das Wachstum und die Stabilität des Weltkapitalismus maßgeblich waren, brechen zusammen. Die chronische Krise des Euro kündigt das Scheitern des Projekts der europäischen „Einigung“ an. Die herrschenden Eliten haben keine glaubwürdige Antwort auf die Krise, die sie in bedeutendem Maß durch ihre eigene Rücksichtslosigkeit ausgelöst haben. Sie sind als Klasse politisch und moralisch bankrott. Das Phänomen der Finanzialisierung – von einer zeitgenössischen Ökonomin definiert als „Akkumulationsmodell, bei dem Profite zunehmend durch Finanzgeschäfte statt durch Handel und Warenproduktion erzeugt werden“ (1) – verkörpert den Siegeszug des wirtschaftlichen Parasitismus und, damit verbunden, den Abstieg der bürgerlichen Gesellschaft in die Niederungen der Kriminalität.

Der jüngste Skandal kam mit dem Eingeständnis der Barclays Bank in London ans Licht, sie habe den London Inter-Bank Offered Rate (Libor), den Referenzzinssatz im Interbankengeschäft, manipuliert. Diese Bank ist nur eine von vielen Institutionen, die in den Betrug verwickelt sind. Die Auswirkungen und Folgen der Manipulation des Libor lassen sich kaum in Zahlen fassen. Den Libor zu „frisieren“ ist in der Finanzwelt dasselbe, als würde man im Sport die World Series (2) „frisieren“. Der Libor dient als Richtwert, um jeden Tag die Zinssätze für Bankkredite bei unzähligen kommerziellen Transaktionen auf der ganzen Welt festzulegen.

Als Trotzki vor knapp 92 Jahren eine weit weniger entwickelte Form der Finanzialisierung beschrieb, stellte er fest: „Die planmäßige Auspressung des Mehrwerts im Produktionsprozess – die Grundlage der Profitwirtschaft – scheint eine zu wenig lockende Beschäftigung für die Herren Bourgeois zu sein, die sich daran gewöhnt haben, im Verlauf von ein paar Tagen ihr Kapital durch Spekulation, internationale Räuberei zu verdoppeln und zu verzehnfachen.“ (3) Der Verfall der Legalität im ökonomischen Bereich findet seine Entsprechung im politischen Bereich.

Der Parasitismus, der die kapitalistische Gesellschaft durchdringt, liegt auch der offenen Verletzung der amerikanischen Verfassung zugrunde. Auf den höchsten Ebenen der kapitalistischen Gesellschaft herrscht Gesetzlosigkeit. Als im Dezember 2000 der Rechtsstreit Gore gegen Bush vom Obersten Bundesgericht verhandelt wurde, sagte ich, der Ausgang des Falles werde zeigen, wie weit es in der herrschenden Klasse noch Unterstützung für demokratische Grundsätze gebe. Das Oberste Bundesgericht sanktionierte den Diebstahl der Wahl, ohne dass auch nur ein bedeutender Teil des Establishments dagegen protestiert hätte. Im darauf folgenden Jahrzehnt standen grundlegende demokratische Rechte unter anhaltendem Beschuss. Wir leben heute in einem Land, dessen Regierung auf der Grundlage schamloser Lügen in Kriege zieht, Folter praktiziert und sich das Recht herausnimmt, Menschen auf der ganzen Welt ohne ordentliches Gerichtsverfahren zu töten, darunter auch amerikanische Staatsbürger. Wir dürfen annehmen, dass Präsident Obama nicht der erste Präsident ist, der Attentate anordnet. Doch er ist der erste, der damit prahlt und wissen lässt, dass er einen beträchtlichen Teil seiner Zeit der Überwachung und Auswahl von Zielen eines Programms außergerichtlicher Tötungen widmet.

Nachdem ein Artikel der New York Times in allen Einzelheiten die führende Rolle geschildert hatte, die Obama im Programm der außergerichtlichen und illegalen Tötungen spielt, protestierte der frühere Präsident Jimmy Carter. Carter ist kein politischer Naivling. Doch er fürchtet die Folgen, die die Preisgabe der verfassungsmäßigen Grundlagen der bürgerlichen Herrschaft durch die Regierung nach sich zieht. Der ehemalige Präsident weiß, dass die Verfassung die wesentliche Quelle der Legitimität der amerikanischen Regierung darstellt. Ohne die Autorität der Verfassung, die „zu erhalten, zu hüten und zu verteidigen“ der Präsident schwört, hat der Staat keine Legitimation. Mit dem Verlassen der Grundlage der Verfassung muss die herrschende Klasse immer offener zu Zwang und Gewalt greifen.

Die Abkehr von den Grundsätzen der Verfassung ist mehr als ein Politikwechsel einer bestimmten Regierung. Sie ist der politische Ausdruck der veränderten Beziehungen zwischen den wichtigsten Klassen der Gesellschaft. Die veränderten Formen der Klassenherrschaft sind das Ergebnis unlösbarer Widersprüche der amerikanischen und der Weltwirtschaft. Einige Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte Lenin in einem Artikel, der die Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie analysierte, gewarnt, dass eine geschichtliche Phase von einem halben Jahrhundert, in der politisch Gesetzlichkeit vorherrschte, durch eine andere Phase abgelöst werde. Lenin sah voraus, dass die objektiven Bedingungen zur „Zerstörung der gesamten bürgerlichen Gesetzlichkeit“ führen würden. Die ersten Anzeichen hierzu sah er in den „verzweifelten Anstrengungen der Bourgeoisie, die von ihr selbst geschaffene und für sie unerträglich gewordene Gesetzlichkeit loszuwerden!“ (4)

Die Geschichte bestätigte Lenins Analyse. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs beendete eine lange „Phase“ der sozial-ökonomischen und politischen Entwicklung. Eine Ära der Allmählichkeit, der Gesetzlichkeit, wurde abgelöst durch eine Ära der Kriege und Revolutionen. Jetzt erleben wir das Ende einer weiteren langen Phase der historischen Entwicklung, in der die Gegensätze zwischen den imperialistischen Mächten gedämpft und der gesellschaftliche Widerstand der Arbeiterklasse unterdrückt wurde. Richtiger wäre es, zu sagen, dass wir bereits in eine neue Phase der historischen Entwicklung eingetreten sind, die durch die größten gesellschaftlichen Konvulsionen der Weltgeschichte gekennzeichnet sein wird. Darin besteht die Bedeutung der Aussage der politischen Hauptresolution des Parteitags, dass die Krise von 2008 nicht weniger als 1914, 1929 und 1939 einen Wendepunkt in der Weltgeschichte darstelle.

Die Aufgabe dieses Parteitags besteht darin, die politischen Implikationen dieser „Wende“ aus Sicht der historischen Entwicklung der Vierten Internationale zu begreifen. Vor 74 Jahren leitete Trotzki das Gründungsdokument der Vierten Internationale mit dem Satz ein: „Die politische Weltlage als Ganzes ist vor allem durch eine historische Krise der proletarischen Führung gekennzeichnet.“ Um seine Antwort auf die fortgeschrittene Krise des kapitalistischen Weltsystems zu bestimmen, muss der Parteitag sich folgende Frage vorlegen: Wie bewerten wir heute im Kontext einer Untersuchung der Wechselwirkung der objektiven Widersprüche des Weltkapitalismus, des Klassenkampfes und der Entwicklung der Vierten Internationale die Krise der Führung der Arbeiterklasse?

Diese Frage erfordert einen Rückblick auf die Geschichte der trotzkistischen Bewegung. Dabei handelt es sich nicht um eine akademische Übung: Das Studium der Geschichte der Vierten Internationale liefert einen tieferen Einblick in wesentliche sozio-ökonomische Prozesse, die der Entwicklung des Klassenkampfes zugrunde liegen. Der Versuch, die gegenwärtige Lage zu analysieren und „konkrete“ Aufgaben festzulegen, ohne dabei die historische Erfahrung zu überprüfen, führt zu wenig mehr als politischem Impressionismus. Dieser stützt sich auf eine mehr oder weniger eklektische Auswahl empirischen Materials, das aus Medien, verschiedenen staatlichen und wissenschaftlichen Berichten sowie – vielleicht – persönlichen Beobachtungen zusammengetragen wird. Auf diese Weise kann man kein derart tiefes Verständnis erlangen, wie durch die Untersuchung der historischen Entwicklung gesellschaftlicher Kräfte, die in verschiedenen Epochen und „Phasen“ des Klassenkampfs unter dem Einfluss objektiver Tendenzen der Wirtschaftsentwicklung unterschiedlichen Ausdruck fanden.

Eine solche historische Herangehensweise fordert dem Parteitag ein hohes Maß an politischem Bewusstsein ab. Der Parteitag selbst ist ein bedeutsames „Moment“ der Entwicklung des Klassenkampfs. Die in diesen Räumlichkeiten versammelten Delegierten nehmen nicht als zufällige Ansammlung von Individuen an den Beratungen des Parteitags teil, sondern als Vertreter einer bestimmten internationalen politischen Tendenz, die sich in dem jahrzehntelangen Kampf für das Programm der sozialistischen Weltrevolution herauskristallisiert hat. Wie die Geschichte unserer Bewegung zeigt, entwickelten sich ihre inneren Kämpfe entweder als direktes Ergebnis oder als Vorwegnahme größerer Veränderungen der internationalen politischen Lage und der entsprechenden Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen.

Bewusstes Handeln im historischen Prozess erfordert, dass der Revolutionär oder die Revolutionärin sich alles aneignet, was es an Erfahrungen und Traditionen der Vierten Internationale anzueignen gibt. Ein Marxist muss seine eigene Rolle im historischen Verlauf des Kampfs zur Lösung der Krise der revolutionären Führung bestimmen. Als ich vor fast genau 30 Jahren, im Herbst 1982, versuchte, mir Klarheit über die Meinungsverschiedenheiten zu verschaffen, die innerhalb des Internationalen Komitees der Vierten Internationale über Fragen der Theorie, der politischen Perspektive und der Praxis aufgekommen waren, schrieb ich:

„Man kann die Geschichte des Trotzkismus nicht als Serie zusammenhangsloser Episoden verstehen. Der Kader hat seine theoretische Entwicklung aus der kontinuierlichen Entfaltung der globalen Krise des Kapitalismus und den Kämpfen des internationalen Proletariats abstrahiert. Den enormen Reichtum des Trotzkismus, der einzigen Weiterentwicklung des Marxismus nach Lenins Tod im Jahre 1924, bildet seine ungebrochene, kontinuierliche politische Analyse aller grundlegenden Erfahrungen des Klassenkampfes während einer gesamten geschichtlichen Epoche.

Eine Führung, die nicht kollektiv danach strebt, sich die Gesamtheit dieser Geschichte zu eigen zu machen, kann ihre revolutionäre Verantwortung der Arbeiterklasse gegenüber nicht angemessen erfüllen. Ohne echte Kenntnis der historischen Entwicklung der trotzkistischen Bewegung sind Bezugnahmen auf den dialektischen Materialismus nicht einfach nur hohl; solch leere Bezugnahmen bereiten wirklichen Verzerrungen der dialektischen Methode den Weg. Der Ursprung der Theorie liegt nicht im Gedanken, sondern in der objektiven Welt. Die Entwicklung des Trotzkismus vollzieht sich daher entlang der frischen Erfahrungen aus dem Klassenkampf, die mit dem gesamten historisch erworbenen Wissen unserer Bewegung in Verbindung gebracht werden.

‚...so wälzt sich das Erkennen von Inhalt zu Inhalt fort. ... es erhebt auf jede Stufe weiterer Bestimmung die ganze Masse seines vorhergehenden Inhalts und verliert durch sein dialektisches Fortgehen nicht nur nichts, noch lässt es etwas dahinten, sondern trägt alles Erworbene mit sich und bereichert und verdichtet sich in sich...‘

Zu diesem Zitat aus Hegels Wissenschaft der Logik notierte Lenin in seinen Philosophischen Heften: ‚Dieser Auszug gibt gar nicht übel eine Art Zusammenfassung dessen, was Dialektik ist.‘ (Werke, Band 38, S. 223) Dieser Abschnitt ist auch gar nicht übel als ‚eine Art Zusammenfassung‘ der beständigen dialektischen Entwicklung der trotzkistischen Theorie.“ (5)

Wir müssen den gesamten „vorhergehenden Inhalt” der Erfahrungen der Vierten Internationalen in diesen Parteitag einbringen. Das wird uns helfen zu verstehen, wie sich die Krise der Führung der Arbeiterklasse heute darstellt und was getan werden muss, um sie zu lösen

Das Gewicht, das wir auf das historische Bewusstsein und die Bedeutung der Aufarbeitung historischer Erfahrungen legen, steht im Gegensatz zur Haltung, die im Milieu der kleinbürgerlichen Pseudo-Linken vorherrscht. Alain Krivine, der wichtigste Führer der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) in Frankreich, schrieb:

„Anders als die LCR klärt die NPA indessen bestimmte Fragen nicht, sondern lässt sie offen für künftige Konferenzen. Zum Beispiel alle strategischen Debatten über die Machtübernahme, Übergangsforderungen, Doppelherrschaft usw. Die NPA behauptet nicht, selbst trotzkistisch zu sein, sondern betrachtet den Trotzkismus als einen Beitrag zur revolutionären Bewegung neben anderen. Da wir nicht durch einen Blick in den Rückspiegel zu einer politischen Linie gelangen wollen, wie wir dies unter dem Stalinismus tun mussten, hat die NPA keine Haltung zur Frage, was die Sowjetunion, der Stalinismus usw. waren. Ein Programm gründet sich auf die Verständigung über die Analyse der Periode und über die Aufgaben.“ (6)

Mit anderen Worten, die NPA hat keinen Standpunkt zu den politischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. Sie lebt in historischer Abstinenz. Sie hat über die Vergangenheit nichts zu sagen. Aber wie, muss man fragen, kann sie zu irgendeiner Frage eine revolutionäre politische Linie entwickeln, ohne Lehren aus der stürmischsten Epoche der Weltgeschichte zu ziehen? Sie möchte über die russische Revolution hinweggehen, über die Existenz der Sowjetunion, die Verrätereien der Sozialdemokratie und des Stalinismus, das Aufkommen des Faschismus, den Holocaust, die imperialistischen Weltkriege, den Aufstieg und Fall der antiimperialistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts sowie den Zusammenbruch der Gewerkschaften und des liberalen Reformismus. Wie kann man all das vergessen? Krivine und sein Anhang reagieren auf politische Ereignisse auf einer vollständig impressionistischen ad-hoc-Basis. Eine solche Methode, die in ihrer gesellschaftlichen Stellung wurzelt, kann nur zu einer äußerst opportunistischen, kurzsichtigen und reaktionären Politik führen.

Der Gegensatz zwischen den gesellschaftlichen Interessen, die von kleinbürgerlichen „linken” – oder genauer: pseudolinken – Organisationen vertreten werden, und jenen der Arbeiterklasse wird immer offensichtlicher. Wie die Resolution des SEP-Parteitags feststellt, arbeiten diese Organisationen als Strömungen im Rahmen der bürgerlichen Politik. Die politische Identität von Strömungen und Parteien äußert sich am deutlichsten in ihrer internationalen Ausrichtung und Orientierung. Hier betätigen sich Organisationen wie die ISO in den Vereinigten Staaten, die SWP in Großbritannien und die NPA in Frankreich als Verteidiger und Komplizen des Imperialismus. Die Wortführer dieser Organisationen unterstützen enthusiastisch die neo-kolonialen Feldzüge der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs gegen Libyen und Syrien und verurteilen sogar einen „reflexartigen Antiimperialismus“. Anders gesagt, sie sind nun bereit zu akzeptieren, dass Militäraktionen der Großmächte gerechtfertigt und ihrer Unterstützung wert sein können.

Die Verwandlung dieser pseudolinken Organisationen in offene Instrumente der imperialistischen Reaktion ist das Ergebnis einer langen gesellschaftlichen, politischen und theoretischen Entwicklung.

Der Gründungskongress der Vierten Internationale fand im September 1938 statt. In den vorangegangenen fünf Jahre hatte die Arbeiterklasse eine Reihe katastrophaler Niederlagen erlitten, die durch den Verrat der stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien verursacht worden waren. Der Sieg der Nazis im Jahr 1933 hatte die Zerschlagung der erfahrensten und größten Arbeiterbewegung Europas zur Folge. Nach der Niederlage in Deutschland fesselte die Volksfront – ein Bündnis zwischen den Stalinisten und liberalen kapitalistischen Parteien – in Frankreich und Spanien die Arbeiterklasse an die Bourgeoisie, lähmte sie politisch und bereitete den Weg für weitere Niederlagen. In der Sowjetunion vernichtete der stalinistische Terror praktisch den gesamten marxistischen Kader und die sozialistische Intelligenz, die die Oktoberrevolution angeführt und das Überleben der UdSSR gesichert hatten. Diese Ereignisse desorientierten und demoralisierten die Intelligenz Europas und der Vereinigten Staaten. Die politischen Niederlagen der Arbeiterklasse vor Augen, wurde die linke Intelligenz zunehmend skeptisch hinsichtlich der Aussichten und der Möglichkeit der sozialistischen Revolution.

Nach der Unterzeichnung des Nichtangriffspaktes zwischen Stalin und Hitler und dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges äußerste sich die Skepsis der kleinbürgerlichen Intellektuellen im August-September 1939 auch innerhalb der Socialist Workers Party, der amerikanischen Sektion der Vierten Internationale. Drei führende Persönlichkeiten der SWP – Max Shachtman, James Burnham und Martin Abern – bildeten eine Minderheitsfraktion, die die Definition der Sowjetunion als degenerierter Arbeiterstaat ablehnten, für die die Partei eintrat. Die Ansichten dieser Minderheit wurden maßgeblich von Bruno Rizzi beeinflusst, einem italienischen Schriftsteller, der behauptete, es sei ein neues System des „bürokratischen Kollektivismus“ entstanden, eine neue Form der Klassenherrschaft, die sich auf die bürokratische Kontrolle und Leitung des Staatseigentums gründe. Rizzi schrieb in seinem Buch Die Bürokratisierung der Welt:

„In der UdSSR sind unserer Meinung nach die Bürokraten die Besitzenden, denn sie halten die Macht in Händen. Sie verwalten die Wirtschaft, genau so wie es mit der Bourgeoisie der Fall war. Sie streichen die Profite ein, wie es alle ausbeutenden Klassen tun, die Löhne und Preise festlegen. Ich wiederhole: Es sind die Bürokraten. Bei der Leitung der Gesellschaft zählen die Arbeiter nichts. Darüber hinaus erhalten sie keinen Anteil vom Mehrwert. (…) Tatsächlich befindet sich das Kollektiveigentum nicht in den Händen des Proletariats, sondern in den Händen einer neuen Klasse: einer Klasse, die in der UdSSR bereits eine vollendete Tatsache ist, während sie sich in den totalitären Staaten noch im Prozess der Entstehung befindet.“ (7)

Zu Beginn des Fraktionskampfes innerhalb der SWP identifizierte Trotzki die politischen und historischen Fragen, die sich aus dem Standpunkt ergaben, aus der Oktoberrevolution und der Gründung der UdSSR sei kein (schnell degenerierter) Arbeiterstaat, sondern eine neue Form der Klassenherrschaft hervorgegangen, die Marxisten nicht vorhergesehen hätten. Trotzki kannte dieses Argument seit langem. Der Begriff Staatskapitalismus beruht nicht auf der ökonomischen Theorie. Lange vor der russischen Revolution hatten verschiedene Formen antimarxistischer, kleinbürgerlicher Politik „staatskapitalistische“ Auffassungen entwickelt. Dabei verwandten sie weder den Begriff „Staat“ noch den Begriff „kapitalistisch“ im marxistischen Sinne. Im politischen Wörterbuch des Anarchismus dient der Begriff „Staatskapitalismus“ in der Regel als Schimpfwort. Die Ausübung der Staatsmacht, die einen gewissen Grad an Zwang einschließt, wird als „kapitalistisch“ verurteilt, unabhängig vom Klassencharakter des Staats. Bei einer solchen Verwendung des Begriffs bedeutet Kapitalismus einfach Herrschaft und Zwang. Die Behauptung, das im Oktober 1917 errichtete Regime sei „staatskapitalistisch“, wurde von den Anarchisten fast unmittelbar nach der Machtübernahme der Bolschewiki in die Welt gesetzt. Jede Staatsform war eine Form von Herrschaft, und der sozio-ökonomische Charakter des Staates war dabei nicht so bedeutend. Deshalb fügten sie zur Charakterisierung des Staats den Begriff „Kapitalismus“ hinzu, ohne diese Analyse glaubhaft zu begründen.

Trotzki war daher mit dem Vorwurf vertraut, die Sowjetunion sei „staatskapitalistisch” oder eine andere Form einer Ausbeutergesellschaft. Er nahm ihn als Erklärung der sowjetischen Wirtschaft nicht sehr ernst. Die „Theorie“ des Staatskapitalismus ersetzte die marxistischen Kategorien der politischen Ökonomie durch eine beschreibende, unwissenschaftliche Terminologie. Das Element der wirtschaftlichen Notwendigkeit wurde darin völlig durch eine extreme Form des politischen Subjektivismus verdrängt. Was Trotzki dagegen ernst nahm, war die grundlegende Revision der historischen Perspektive des Marxismus, die sich aus den Argumenten Rizzis und Burnhams ergab. Im Mittelpunkt des Standpunkts von Rizzi und Burnham stand die Zurückweisung der marxistischen Einschätzung der revolutionären Rolle der Arbeiterklasse. Trotzki schrieb:

„All die verschiedenen Arten enttäuschter und verängstigter Vertreter des Pseudomarxismus gehen (…) davon aus, dass der Bankrott der Führung nur die Unfähigkeit des Proletariats ‚widerspiegelt‘, seinen revolutionären Auftrag zu erfüllen. Nicht alle unsere Gegner drücken diesen Gedanken klar aus, aber allesamt – Ultralinke, Zentristen, Anarchisten, ganz zu schweigen von den Stalinisten und Sozialdemokraten – wälzen die Verantwortung für die Niederlagen von sich selbst auf die Schultern des Proletariats ab. Keiner von ihnen äußert sich dazu, was genau die Bedingungen sind, unter denen das Proletariat in der Lage sein wird, den sozialistischen Umsturz durchzuführen.

Wenn wir annehmen, es wäre wahr, dass der Grund für die Niederlagen in den sozialen Eigenschaften des Proletariats selbst begründet liegt, dann müsste man die Lage der modernen Gesellschaft als hoffnungslos bezeichnen.“ (8)

Trotzki identifizierte die sozialen Stimmungen, die in breiten Teilen der kleinbürgerlichen Intelligenz an Stärke gewannen, während diese alle Bindungen zur Oktoberrevolution abbrach. Der Pessimismus, dem Burnham und Shachtman 1939-40 Ausdruck verliehen, nahm einen viel umfassenderen gesellschaftlichen Prozess vorweg: den Bruch der linken kleinbürgerlichen Intelligenz nicht bloß mit einer bestimmten politischen Strömung innerhalb des Marxismus (dem Trotzkismus), sondern mit der gesamten Perspektive einer sozialistischen Revolution und selbst der Möglichkeit eines gesellschaftlichen Fortschritts.

Die Dialektik der Aufklärung, das Werk von Max Horkheimer und Theodor Adorno, den Theoretikern der Frankfurter Schule, ist zweifellos die bekannteste von zahlreichen Äußerungen kleinbürgerlicher Verzweiflung nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Angriff der Autoren auf die Aufklärung, die Vernunft und die angeblich unheilvollen Folgen der Technologie sollte eine gesamte Generation von Linksintellektuellen maßgeblich beeinflussen. Doch der Einfluss ihres Werks war nicht das Ergebnis seiner Originalität. Tatsächlich war wenig von dem, was sie schrieben, besonders originell. Die Dialektik der Aufklärung brachte vielmehr Stimmungen zum Ausdruck, die unter breiten Teilen der kleinbürgerlichen Intelligenz vorherrschten.

Beinahe zeitgleich mit dem Erscheinen von Dialektik der Aufklärung verfasste Dwight Macdonald, ein ehemaliges SWP-Mitglied, das Shachtman in die Workers Party gefolgt war, einen Essay mit dem Titel „Die Wurzel ist der Mensch“. Macdonald nahm darin in erstaunlichem Ausmaß die antimaterialistischen und antimarxistischen Auffassungen vorweg, die unter den Nachkriegsintellektuellen so große Verbreitung finden sollten.

Zunächst brachte Macdonald recht offen die Angst des kleinbürgerlichen Intellektuellen vor Wissenschaft und Technologie zum Ausdruck. Der verhängnisvolle Fehler der Sozialisten habe darin bestanden, so Macdonald, dass sie an die fortschrittliche Bestimmung der Wissenschaft glaubten und das Gewicht auf den materiellen statt auf den spirituellen Zustand der Gesellschaft legten. Deshalb sei die Unterscheidung von „links und rechts“, wie sie von Sozialisten verstanden worden sei, nicht mehr zeitgemäß. Sie habe unter den modernen Umständen keine Bedeutung mehr. Der wahre Unterschied, schrieb Macdonald, bestehe zwischen den, wie er sie nannte, „Progressiven“ und „Radikalen“. Er zählte sich selbst zu den Radikalen, im Gegensatz zu den Progressiven:

„Unter ‚Progressiven‘ sind jene zu verstehen, die das Jetzt als einen Abschnitt auf dem Weg in eine bessere Zukunft betrachten; jene, die eher in Begriffen eines historischen Prozesses denken als in moralischen Werten; jene die glauben, das Hauptproblem der Welt bestehe teils in fehlenden wissenschaftlichen Kenntnissen und teils darin, dass das bestehende Wissen nicht auf die menschlichen Belange angewendet werde; jene vor allem, die die wachsende menschliche Herrschaft über die Natur an sich für etwas Gutes, ihre Anwendung für schlechte Zwecke, wie Atombomben, dagegen für eine Perversion halten. Diese Definition erfasst, wie ich glaube, recht gut die große Masse derer, die nach wie vor als Linke bezeichnet werden, von den Kommunisten (‚Stalinisten‘) über reformistische Gruppen wie unsere New-Deal-Leute, die britischen Labour-Leute und europäischen Sozialisten, bis hin zu kleinen revolutionären Gruppen wie den Trotzkisten.

Der Begriff ‚Radikale‘ trifft auf die bisher wenigen Individuen zu – meist Anarchisten, Kriegsdienstverweigerer und abtrünnige Marxisten wie ich selbst –, die die Vorstellung des Fortschritts ablehnen, die die Dinge nach ihrer gegenwärtigen Bedeutung und Wirkung beurteilen, die glauben, die Fähigkeit der Wissenschaft, uns in menschlichen Belangen zu leiten, werde überschätzt, und die deshalb das Hauptgewicht auf die Betonung der ethischen Aspekte der Politik legen. Sie, oder vielmehr wir, denken, dass es eine offene Frage sei, ob sich die wachsende Herrschaft des Menschen über die Natur bisher gut oder schlecht auf das menschliche Leben ausgewirkt habe, und ziehen es vor, die Technologie an den Menschen anzupassen statt den Menschen an die Technologie, selbst wenn dies – was der Fall sein kann – technologischen Rückschritt bedeuten sollte. Natürlich ‚verwerfen‘ wir nicht die wissenschaftliche Methode, wie ein häufiger Vorwurf lautet, vielmehr glauben wir, dass der Bereich, innerhalb dessen sie zu fruchtbaren Ergebnissen führen kann, enger ist, als heute allgemein angenommen wird. Und wir fühlen, dass die stabilste Grundlage für den Kampf um die Befreiung der Menschheit, wie sie die alte Linke anstrebte, nicht die Geschichte ist, sondern jene ahistorischen Werte (Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und so weiter), die Marx unter Linken außer Mode gebracht hat.“ (9)

Ein weiterer Abschnitt in Macdonalds Buch, der die gegen die Arbeiterklasse gerichtete Entwicklung des kleinbürgerlichen Radikalismus der Nachkriegszeit vorwegnimmt, trägt den Titel „Das Trugbild der proletarischen Revolution“.

„Marx baute auf die Arbeiterklasse, um eine bessere Gesellschaft einzuführen. Und seine heutigen Anhänger orientieren sich immer noch in diese Richtung, wie ein Blick auf die sorgfältige Berichterstattung über die Arbeiterbewegung in fast jedem marxistischen Organ zeigt. Meiner Meinung nach ist es Zeit anzuerkennen, dass die Arbeiterklasse, auch wenn sie sicherlich ein Element jeder erträglicheren Neuordnung der Gesellschaft ist, derzeit nicht das Element ist, für das Marx sie hielt, und es wahrscheinlich niemals war. Die Beweise dafür sind bekannt, und die meisten Marxisten werden ihnen fast allen einzeln zustimmen. Sie schrecken aber verständlicherweise davor zurück, die logischen aber unangenehmen Folgen daraus zu ziehen…

Die offensichtlichste Tatsache über die proletarische Revolution ist, dass sie nie stattgefunden hat. Heute ist die proletarische Revolution sogar eine geringere historische Möglichkeit als 1900.“ (10)

Die Zurückweisung des Fortschritts und die Ablehnung der Arbeiterklasse als zentrale revolutionäre Kraft in der modernen kapitalistischen Gesellschaft wurden in den folgenden Jahrzehnten zum Grundsatz und Leitthema kleinbürgerlicher linker Politik. Sie werden in den Arbeiten von Marcuse, Dunayevskaya sowie zahllosen heutigen anarchistischen, postanarchistischen und poststrukturalistischen Strömungen wiederholt und weiterentwickelt.

Als Intellektueller und Theoretiker war Macdonald kein bedeutender Denker. Trotzki selbst bemerkte einmal, Macdonald besitze zwar das Recht auf Dummheit, er solle es aber nicht missbrauchen. Hier geht es aber nicht um Macdonalds Format als Intellektueller, sondern um das breite Echo, das Macdonalds Standpunkte in den Schriften weit glänzender Intellektueller fanden. Horkheimer und Adorno bedienten sich einer schwergewichtigeren Prosa, und niemand kann bezweifeln, dass ihre philosophische Bildung viel gründlicher war. Doch in den Ideen, die sie in ihrer Dialektik der Aufklärung vertreten, hallen jene Macdonalds wieder. Dasselbe gilt für die Schriften, die „Staatskapitalismus“-Theoretiker wie Dunayevskaya, C. L. R. James und Cornelius Castoriadis in derselben Zeit verfassten. Letztgenannter war Begründer des französischen Journals Socialisme ou Barbarie, das erheblichen Einfluss auf die Entwicklung des postmodernen Denkens ausüben sollte.

Liest man diese Schriften im Lichte der nachfolgenden politischen Entwicklungen, ist man verblüfft über ihre Kurzsichtigkeit und Oberflächlichkeit. In der Analyse der Sowjetunion gab es für sie nichts Machtvolleres als die stalinistische Bürokratie. Das trotzkistische Programm und die Perspektive einer politischen Revolution taten sie als lächerlich ab. Die Sowjetbürokratie verkörpere eine neue, kraftvolle gesellschaftliche Macht, die der Marxismus nicht vorhergesehen habe. So schrieb Castoriadis:

„Die Tatsache, dass die Bürokratie aus dem Krieg nicht geschwächt, sondern beträchtlich gestärkt hervorging, dass sie ihre Macht über ganz Osteuropa ausdehnte, und dass unter dem Schutz der Kommunistischen Partei Regime entstanden, die in jeder Hinsicht mit dem russischen Regime identisch waren, führte einen unausweichlich dazu, die Bürokratie nicht als ‚parasitäre Schicht‘ zu betrachten, sondern als eine herrschende und ausbeutende Klasse – was darüber hinaus durch eine neue ökonomische und soziologische Analyse des russischen Regimes bestätigt wurde.“ (11)

Die eigenständige historischen Rolle, die Castoriadis der Bürokratie zuschrieb, ergänzte sich damit, dass er die Arbeiterklasse als revolutionäre Kraft abschrieb. Mit der Arroganz und dem Zynismus, die seine Markenzeichen bildeten, stellte Castoriadis fest:

„Die Offenbarung ist der Beweis für die Wahrheit der Heiligen Schrift; und dass es die Offenbarung gab, beweist wiederum die Heilige Schrift. Es handelt sich um ein sich selbst beweisendes System. Auch Marx‘ Werk steht und fällt seinem Sinn und seiner Absicht nach mit der Behauptung: Das Proletariat ist, und zeigt sich, als revolutionäre Klasse, die im Begriff ist, die Welt zu verändern. Trifft das nicht zu – und es trifft nicht zu –, dann wird Marx‘ Werk wieder zu dem, was es in Wirklichkeit immer schon war, zu einem (schwierigen, obskuren und zutiefst unklaren) Versuch, die Gesellschaft und die Geschichte aus der Perspektive ihrer revolutionären Umwandlung zu denken – dann müssen wir alles wieder beginnen, ausgehend von unserer eigenen Lage, die natürlich sowohl Marx selbst als auch die Geschichte des Proletariats als Bestandteile enthält.“ (12)

Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten sich in verschiedenen Teilen der kleinbürgerlichen Intelligenz zunehmend selbstbewusste antimaterialistische, antimarxistische, antitrotzkistische, antisozialistische und gegen die Arbeiterklasse gerichtete Anschauungen. Besonders nachdem sich die kapitalistische Herrschaft in den Vereinigten Staaten und Westeuropa wieder gefestigt und die Sowjetbürokratie ihre Stellung konsolidiert hatte, bemühte sich das Kleinbürgertum um die Entwicklung zweckdienlicher intellektueller Vorstellungen und politischer Programme, die seine eigenen Interessen in der Nachkriegsordnung verteidigten. Das Auftreten des Pablismus zwischen 1949 und 1953 brachte diese soziale, politische und intellektuelle Entwicklung innerhalb der Vierten Internationale zum Ausdruck.

Hegel hatte einst bemerkte: „Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ In einem fortgeschrittenen Stadium der historischen Entwicklung kann man die gesellschaftlichen Kräfte sehr viel präziser bestimmen, die zum Anwachsen des Revisionismus innerhalb der Vierten Internationale führten, als es in den 1950er und 1960er Jahren möglich war. Es ging nicht um ein paar verwirrte Leuten, die unglückliche politische Fehler machten. Vielmehr entstanden die theoretischen und politischen „Fehler“ von Michel Pablo und Ernest Mandel, um nur die wichtigsten Widersacher des orthodoxen Trotzkismus (d. h. des politischen Ausdrucks des revolutionären Marxismus) zu nennen, als Äußerung sozio-ökonomischer Prozesse, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten. Das Kleinbürgertum versuchte mittels der pablistischen Strömung die Kontrolle über die Vierte Internationale zu erlangen und deren Prestige für ihre eigenen Interessen zu nutzen. Cannons „Offener Brief“, der Bruch mit dem pablistischen Internationalen Sekretariat sowie die Gründung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale im November 1953 waren notwendige Selbstverteidigungsmaßnahmen, um die Liquidierung der trotzkistischen Weltbewegung zu verhindern.

Die Ereignisse von 1953 eröffneten einen 32 Jahre dauernden Bürgerkrieg innerhalb der Vierten Internationale. Die immensen Schwierigkeiten, vor denen die Verteidiger des Trotzkismus standen, kamen daher, dass sie es mit den Interessen realer gesellschaftlicher Kräfte zu tun hatten, die weltweit aktiv waren. Außerdem fand der Kampf unter objektiven Bedingungen statt, die höchst unvorteilhaft für jene waren, die an einer revolutionären, auf den Interessen der Arbeiterklasse beruhenden Linie festhielten. Erinnert Euch, welche internationalen Kräfte involviert waren: die stalinistischen Regime, die in der UdSSR und Osteuropa die Macht ausübten, das maoistische Regime in China, die bürgerlich-nationalistischen Bewegungen der „Dritten Welt“, die sozialdemokratischen, stalinistischen und Gewerkschaftsbürokratien in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern, und die schnell wachsende, relativ privilegierte kleinbürgerliche Schicht an den Universitäten und in anderen hoch bezahlten Berufen.

Das Lager der orthodoxen Trotzkisten im Internationalen Komitee schrumpfte auf eine kleine Minderheit zusammen. Es blieb nicht dabei, dass die meisten Sektionen der Vierten Internationale den Pablisten folgten, sich selbst liquidierten und im Milieu der Stalinisten und des kleinbürgerlichen Radikalismus aufgingen. Obwohl es dem Druck der zahlreichen feindlichen politischen Kräfte widerstand, blieb auch das IKVI selbst sehr instabil.

Viele politische Themen, die in den 1980er, 1990er und 2000er Jahren die auf Identität und Lebensstil konzentrierte „pseudo-linke“ Politik bestimmen sollten, hatte sich in den 1950er und 1960er Jahren im Milieu des Pablismus und der kleinbürgerlichen Linken entwickelt. In dieser Zeit wurden Freud und die Psychologie, besonders in Marcuses Interpretation, als Alternative zu Marx und seiner materialistischen Weltanschauung gepriesen. Marcuses pessimistische Zurückweisung des revolutionären Charakters der Arbeiterklasse erlaubte, ja forderte geradezu die Suche nach Alternativen zum Klassenkampf als Grundlage für die persönliche Befreiung in einer Gesellschaft, die angeblich allmächtig und unterdrückerisch war. Marcuse fand, besonders an den Universitäten, zahlreiche enthusiastische Gefolgsleute. Ein bekannter Ausdruck der damaligen intellektuellen Stimmung ist Theodor Roszaks 1968 erschienenes Buch The Making of a Counter-Culture (dt. Gegenkultur). Roszak schrieb begeistert über den Fortschritt, den Marcuse und Norman Brown (der Autor von Love’s Body) gegenüber Marx gemacht hatten:

„Darüber hinaus unterscheidet sich der Ton, in dem Marcuse und Brown über die Befreiung sprechen, eindeutig von dem Marxschen. Für Marcuse geht es um die Herbeiführung einer ‚libidinösen Rationalität‘; Brown spricht von der Schaffung eines ‚erotischen Realitätssinnes‘, eines ‚dionysischen Ego‘. Bei dem Versuch, diese Ideale zu verdeutlichen, müssen sich beide zwangsläufig eines rhapsodischen Stils bedienen und zu mythischen und dichterischen Bildern greifen. Sie wählen damit einen Ton, den man in der Gesellschaftsphilosophie und noch mehr in den Gesellschaftswissenschaften schmerzlich vermissen musste. …

Mythos, Religion, Traum, Vision: Dunkle Bereiche dieser Art durchmaß Freud auf der Suche nach seiner Konzeption von der Natur des Menschen. Marx hingegen hatte für diese dunklen Gefilde wenig übrig. Statt dessen vertiefte er sich stundenlang in die Industriestatistiken in den British Blue Books, in denen ihm der Mensch kaum anders denn als Homo oeconomicus und als Homo faber begegnen konnte. …

Marx, der leidenschaftliche Moralist, der glühende Schicksalsprophet, der gelehrte Schwerarbeiter: Wie sollte er in der Hitze und unter dem Druck der akuten Krisen Zeit haben, den Menschen anders zu betrachten denn als homo oeconomicus, als Ausgebeuteten und Freudlosen?“ (13)

An anderer Stelle schrieb Roszak, Freud habe begriffen, dass die entscheidenden Kämpfe um die Zukunft der Menschheit nicht auf dem Gebiet des Klassenkampfes, sondern dem des menschlichen Körpers ausgetragen würden.

Die 1960er Jahren waren durch eine bedeutende Radikalisierung kleinbürgerlicher Jugendlicher geprägt. Viele dieser jungen Menschen betrachteten sich als Sozialisten, sogar als Marxisten. Sie verstanden unter diesen Begriffen allerdings etwas vollkommen anderes als der klassische Marxismus. Ob sie sich dabei selbst für Marxisten hielten, ist unwesentlich. Ihre theoretischen Einwände gegen den klassischen Marxismus, die sie als Angriff auf den angeblichen „vulgären“ Materialismus tarnten, wiederholten bewusst oder unbewusst nur die seit langem bestehende, subjektiv-idealistische Kritik am Marxismus, die bis auf die 1890er Jahre zurückgeht. Damals hatte sich der Marxismus in Gestalt der deutschen sozialdemokratischen Partei zu einer politischen Massenbewegung der Arbeiterklasse entwickelt.

Das Jahr 1968 kennzeichnet einen Wendepunkt in der intellektuellen und politischen Entwicklung der radikalen Studentenbewegung. In diesem Jahr fanden gewaltige Proteste gegen den imperialistischen Krieg in Vietnam und zu anderen gesellschaftlichen Fragen statt. Höhepunkt dieser Proteste war die Studentenbewegung in Frankreich. Die Ereignisse vom Mai-Juni 1968 begannen mit einem Studentenstreik, auf den die Polizei mit der Erstürmung der Sorbonne reagierte. Die Arbeiterklasse antwortete auf den blutigen Überfall, indem sie massiv in die Proteste gegen die französische Regierung de Gaulles eingriff. Fast über Nacht wurden die Studentenproteste von einer Massenbewegung der Arbeiterklasse in den Schatten gestellt, die die Möglichkeit eröffnete, nicht nur de Gaulle, sondern den französischen Kapitalismus zu stürzen.

Die Proteste der Kleinbürger wurden vom Gespenst der proletarischen Revolution in den Schatten gestellt. Rote Fahnen wehten über den Fabriken in ganz Frankreich. Die Wirtschaft des Landes kam zum Stillstand. De Gaulle kehrte von einem Staatsbesuch aus Rumänien zurück und fand seine eigene Regierung in Auflösung. Er reiste eilig nach Baden Baden, um seine dort stationierten Generäle zu fragen, ob sie für einen Marsch auf Paris mobilisieren könnten. Die Generäle antworteten ihm, sie könnten nicht auf die Loyalität der Truppen unter ihrem Kommando zählen. Schließlich hing es von der Kommunistischen Partei Frankreichs und den Stalinisten ab, die die Dachgewerkschaft CGT beherrschten, die Lage wieder unter Kontrolle zu bringen. Ihr erster Versuch, den Generalstreik zu beenden, scheiterte. Als Charles Séguy, der Chef der CGT, zu den Arbeitern der größten Fabrik, Renault, sprach, wurde er niedergebrüllt. Schließlich gelang es der Kommunistische Partei und der CGT gemeinsam, den Generalstreik zu verraten und zu beenden und die französische herrschende Klasse vor der Revolution zu retten.

Das Eingreifen der Arbeiterklasse durch einen Generalstreik überwältigte die kleinbürgerliche Bewegung, die zur Bedeutungslosigkeit verblasste. Das revolutionäre Potential der Arbeiterklasse wurde über Nacht sichtbar. Sie blieb aber unter der Führung der Kommunistischen Partei. Doch diese Erfahrung wirkte auf breite Teile der französischen Intellektuellen traumatisch. Sie wichen ängstlich zurück. Sie fragten sich: „Auf was haben wir uns, um Gottes Willen, eingelassen? Ein paar Proteste hier und da … na gut. Aber den Sturz des Kapitalismus? Die Diktatur des Proletariats? Mon Dieu, Gott bewahre!” Im Mai-Juni 1968 warf die kleinbürgerliche Intelligenz einen Blick in den Abgrund und war entsetzt. Sie spürte den heißen Atem der Revolution im Nacken und wandte sich scharf nach rechts.

Die sogenannten „neuen Philosophen“, zu deren bekanntesten Jean-François Revel und Bernard-Henri Lévy zählen, wandten sich unter dem heuchlerischen Banner der „Menschenrechte” dem Antikommunismus zu. Eine andere Gruppe von Philosophen, von denen einige vom Stalinismus oder durch eine Beziehung zu Socialisme ou Barbarie theoretisch geprägt worden waren, rechtfertigten ihre Zurückweisung des Marxismus mit den nihilistischen Formeln des Postmodernismus.

Sogar die Strömungen, die sich selbst als Linke betrachteten, wiesen den klassischen Marxismus und dessen Beharren auf der revolutionären Rolle der Arbeiterklasse nachdrücklich zurück. Saul Newman, ein Theoretiker des modernen Poststrukturalismus, gesteht ein: „Die neue Linke, die aus dem Mai ’68 hervorging, war eine postmarxistische Linke, oder zumindest eine Linke, die viele zentrale Lehren der marxistisch-leninistischen Theorie in Zweifel zog, insbesondere die zentrale Bedeutung der Partei, die Wahrheit des dialektischen und historischen Materialismus sowie die universelle und wesentliche Stellung des Proletariats.“ (14)

Es ist bemerkenswert, dass diese Verleugnung der Arbeiterklasse inmitten der größten, anhaltenden Bewegung der Arbeiterklasse seit der russischen Revolution stattfand. Die Militanz der Arbeiter dehnte sich auf ganz Europa, auf Süd- und Nordamerika aus. Die mächtige Bewegung der Arbeiterklasse zwischen 1968 und 1975 stellte schärfer denn je zuvor die entscheidende Frage der revolutionären Führung. Doch genau zu diesem Zeitpunkt verkündete die kleinbürgerliche Linke das Scheitern der marxistischen Theorie und der Perspektive der proletarischen Revolution. Der bekannte linke französische Theoretiker André Gorz schrieb ein Buch unter dem arroganten und provokativen Titel Abschied vom Proletariat! Er erklärte: „Tatsächlich sucht man vergeblich nach einer Begründung der marxistischen Theorie des Proletariats.“ (15)

Jean-François Lyotard, ein ehemaliges Mitglied der Kommunistischen Partei, verkündete den Beginn der Periode des Postmodernismus, die er damit definierte, „dass man den Meta-Erzählungen keinen Glauben mehr schenkt“. Unter „Meta-Erzählung“ verstand Lyotard das Verständnis der Geschichte als gesetzmäßiger Prozess. Die grundlegende „Meta-Erzählung“ war von Marx und Engels mit der Ausarbeitung der materialistischen Geschichtsauffassung entwickelt worden. Im 20. Jahrhundert wurde die nachhaltigste „Meta-Erzählung“ von Trotzki in seiner Geschichte der Russischen Revolution dargelegt; sie erklärte den Sturz des Zarismus als historisch notwendiges Ergebnis der Widersprüche des internationalen Kapitalismus. Die Widerlegung dieser Analyse erforderte einen Angriff auf alle grundlegenden Elemente der materialistischen Geschichtsauffassung. Ein Experte für Geistesgeschichte bemerkte kürzlich: „Der Marxismus ist wohl am häufigsten oder sogar immer das ausdrückliche Ziel der postmodernen Kritiker der Moderne.“ (16)

Ein Studium dieser Geistesgeschichte – insbesondere der zunehmend expliziten Zurückweisung der philosophischen Grundlagen und des revolutionären Programms des Marxismus – ist von größter Bedeutung für das Verständnis der politischen Erfahrungen, durch welche die Vierte Internationale gegangen ist.

Die Workers League entwickelte sich im Kampf gegen den Verrat der Socialist Workers Party am Trotzkismus. Wir neigen beim Überdenken dieser Geschehnisse dazu, die theoretischen und politischen Fragen hervorzuheben, die im Mittelpunkt dieses Kampfs standen. Doch er entwickelte sich nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum. Die Partei versuchte auf jede nur denkbare Weise, eine klare politische Orientierung auf die Arbeiterklasse beizubehalten; man kann die Bedeutung davon nicht hoch genug einschätzen. Trotzdem waren die frühen Jahre der Partei von einem politischen und gesellschaftlichen Differenzierungsprozess gekennzeichnet. Das erhebliche Wachstum der Workers League zwischen den Jahren 1970 und 1973 führte unvermeidlich zu einer schwerwiegenden politischen Krise. Viele der Neuzugänge waren aus dem Milieu der radikalen kleinbürgerlichen Protestbewegung gewonnen worden. Tim Wohlforth selbst, der Nationale Sekretär der Workers League, kam aus der Shachtman-Bewegung.

Als die kleinbürgerliche Antikriegsbewegung nach dem Vietnamkrieg zusammenbrach, traten die Folgen der gesellschaftlichen Unterschiede innerhalb der Workers League sichtbarer hervor. Natürlich wurde die Entwicklung eines einzelnen Mitglieds nicht unmittelbar durch seinen oder ihren sozialen Hintergrund bestimmt. Der enorme Mitgliederverlust in den Jahren 1973-74 widerspiegelte dennoch eine allgemeinere gesellschaftliche und politische Entwicklung, auch wenn das zerstörerische Verhalten von Wohlforth und seiner Freundin Nancy Fields sicherlich dazu beigetragen hatte. Teile der Mittelklasse, die in den 1960er Jahren radikalisiert worden waren, hatten es eilig, in ihr altbekanntes soziales Milieu zurückzukehren. Diese Reise brachte sie zwangsläufig in die Sphäre der bürgerlichen Politik zurück.

Sowohl die Workers League als auch die Workers Revolutionary Party wurden von der Rechtsbewegung in der Mittelklasse stark in Mitleidenschaft gezogen. Doch in den Vereinigten Staaten überwand die Workers League die Krise, die Wolforths Renegatentum ausgelöst hatte, auf der Grundlage einer systematischen Analyse und Aufarbeitung der theoretischen und politischen Meinungsverschiedenheiten, die dem Konflikt zugrunde lagen. In Großbritannien hingegen wurden die politischen Fragen, die im Kampf mit Alan Thornett aufkamen, nicht aufgearbeitet. Obwohl die WRP mit Thornett sehr schnell organisatorisch abrechnete, klärte sie nicht, welchen gesellschaftlichen und politischen Druck seine Tendenz zum Ausdruck brachte. Insbesondere versäumte sie es, den Konflikt mit Thornett in einen historischen Zusammenhang mit dem vorangegangenen Kampf gegen den Pablismus zu stellen. Folglich wuchs der Einfluss sich nach rechts bewegender kleinbürgerlicher Elemente innerhalb der Partei weiter. Er zeigte sich im zunehmend opportunistischen politischen Kurs der WRP, der 1985 zur Explosion in der britischen Partei führte.

Die theoretische und politische Kritik, welche die Workers League zwischen 1982 und 1985 ausgearbeitet hatte, bereitete das Internationale Komitee auf diese Krise vor. Die Kritik am Opportunismus der WRP gewann die Unterstützung einer entscheidenden Mehrheit der Sektionen. Im Dezember 1985 suspendierte das Internationale Komitee die Mitgliedschaft der WRP. Auf diese Weise endete der 32 Jahre anhaltende Bürgerkrieg innerhalb der Vierten Internationale, der mit der Veröffentlichung des Offenen Briefs begonnen hatte, mit dem Sieg der orthodoxen Trotzkisten.

Der Bruch im Herbst 1985 war sowohl im politischen wie im gesellschaftlichen Sinne endgültig. Die Mitglieder der WRP, die sich gegen das Internationale Komitee stellten, waren dabei, all ihre früheren politischen und persönlichen Verbindungen zum revolutionären Sozialismus völlig abzubrechen. Die Führer der WRP und jene, die ihnen folgten, hatten kein Interesse, über Probleme der sozialistischen Perspektive und die Interessen der Arbeiterklasse zu diskutieren. Unter den Anhängern von Banda und Slaughter machte sich eine Art Hysterie breit. Ich habe in Das Erbe, das wir verteidigen versucht, dies zu beschreiben:

„Im Oktober 1985 kamen die angestauten Vorbehalte der Mittelklasse in der WRP zum Ausbruch. Diese kleinbürgerlichen Kräfte waren desillusioniert und verbittert, hatten die Nase voll von langen Jahren harter Arbeit, für die sie nicht belohnt worden waren, unzufrieden mit ihrer persönlichen Lage, wollten sie die versäumten Freuden des Lebens möglichst schnell nachholen und konnten das ganze Gerede von der Revolution nicht mehr hören. Die subjektive Raserei dieser kleinbürgerlichen Kräfte – angeführt von einer buntscheckigen Gruppe halbpensionierter Universitätsprofessoren – wurde politisch in Liquidatorentum übersetzt. Gerade weil der Skeptizismus, der breite Schichten der Partei erfasste, nicht nur in den subjektiven Fehlern der WRP-Führung, sondern grundlegender in objektiven Veränderungen der Klassenbeziehungen wurzelte, wurde er zu einer derart mächtigen sozialen Strömung in der Workers Revolutionary Party.“ (17)

Im Herbst 1985 wurde Cliff Slaughter jedesmal wütend, wenn jemand versuchte, die Entwicklungen innerhalb der Partei in Klassenbegriffen zu erklären. Einmal sagte er: „Ich habe die Nase voll von den Leuten, die erklären, welche Klasse sie vertreten.“ Slaughter wollte mit Sicherheit nicht erklären, welche Klassenkräfte er repräsentierte, und das aus gutem Grund. Das Banner der „revolutionären Moral“, das er 1985 als Rechtfertigung für seine prinzipienlose Politik entrollte, diente als Übergang zur pro-imperialistischen „Menschenrechts“-Politik. Weniger als ein halbes Jahrzehnt später sollten Mitglieder seiner Organisation bei der Intervention auf dem Balkan mit der Nato zusammenarbeiten.

Im Jahr 1985, als der Kampf innerhalb des Internationalen Komitees seinem Höhepunkt zusteuerte, beendeten Ernesto Laclau und Chantal Mouffe ihr Hauptwerk Hegemony and Socialist Strategy. Verso, der wichtigste pablistische Verlag, veröffentlichte dieses Buch, das großen Einfluss auf postmodernistische und poststrukturalistische Kreise ausübte. Obwohl wir damals von ihren Schriften nichts wussten (vermutlich kannte auch Slaughter sie nicht), hätten die Konzeptionen von Laclau und Mouffe der WRP als theoretische Plattform dienen können. Sie schrieben:

„In der Krise ist gegenwärtig die gesamte Konzeption des Sozialismus, die auf der ideologischen Zentralität der Arbeiterklasse, auf der Rolle der Revolution als dem begründendem Moment im Übergang von einem Gesellschaftstyp zu einem anderen sowie auf der illusorischen Erwartung eines vollkommen einheitlichen und gleichartigen kollektiven Willens, der das Moment der Politik sinnlos macht, basiert. (…)

Indem wir die Ansprüche und das Gebiet der Gültigkeit der marxistischen Theorie herunterschrauben, brechen wir zugleich mit etwas, was dieser Theorie zutiefst inhärent ist: nämlich ihrer monistischen Sehnsucht, mittels ihrer Kategorien das Wesen beziehungsweise die eigentliche Bedeutung der Geschichte zu erfassen. Nur wenn wir auf jegliches epistemologische, auf der ontologisch privilegierten Stellung einer ‚universalen Klasse‘ basierende Prärogativ verzichten, wird es möglich sein, ernsthaft das gegenwärtige Maß an Gültigkeit der marxistischen Kategorien zu erörtern. An diesem Punkt sollten wir ganz einfach festhalten, dass wir uns jetzt auf einem post-marxistischen Terrain befinden. Es ist nicht länger möglich, die Subjektivitäts- und Klassenkonzeption, wie sie durch den Marxismus ausgearbeitet worden ist, seine Vorstellung vom historischen Verlauf der kapitalistischen Entwicklung und selbstverständlich auch nicht seine Konzeption des Kommunismus als einer transparenten Gesellschaft, in der die Antagonismen verschwunden sind, beizubehalten.“ (18)

Das vergangene Vierteljahrhundert war in den Vereinigten Staaten und weltweit durch eine extreme Polarisierung der Gesellschaft gekennzeichnet. Die Aufmerksamkeit der Ökonomen und Soziologen konzentrierte sich natürlich in erster Linie auf die schwindelerregende Konzentration von Reichtum in Händen des reichsten Prozents der Bevölkerung. Doch während der vergangenen Jahrzehnte hat sich auch, wie die erste SEP-Resolution herausstellt, ein bedeutender Teil der gehobenen Mittelschicht Zugang zu beträchtlichem Wohlstand verschafft. Der Reichtum dieser wohlhabenden Schicht ist nicht mit dem der obersten ein bis fünf Prozent vergleichbar. Doch im Vergleich mit der Arbeiterklasse geht es ihr sehr gut. Diese Entwicklung hat im Verlauf der Zeit die materielle, ideologische und politische Entfremdung dieser relativ wohlhabenden Gesellschaftsschicht, die die Basis der kleinbürgerlichen Linken darstellt, von der Arbeiterklasse vertieft.

Der politische Prozess, den wir hier untersuchen, ist nicht nur ein Ergebnis theoretischer Ungereimtheiten. Befördert durch die beträchtliche Zunahme des eigenen materiellen Wohlstands hat die seit langem bestehende Skepsis der kleinbürgerlichen Linken gegenüber den revolutionären Fähigkeiten der Arbeiterklasse neue, ausgeprägte sozio-ökonomische und politische Eigenschaften angenommen. Die wohlhabende Linke konzentriert ihre wirtschaftlichen Interessen zunehmend auf eine vorteilhaftere Verteilung von Reichtum und Privilegien unter den reichsten zehn Prozent der Bevölkerung und integriert sich immer offener in die offiziellen politischen Strukturen des herrschenden Establishments. Unter diesen Umständen kann sie ihre Feindschaft gegenüber den Kämpfen der Arbeiterklasse nicht länger kaschieren, indem sie leere, pseudosozialistische Phrasen drischt. Ihre Ideologen sehen sich genötigt, offen für eine Definition „linker“ Politik einzutreten, die für die Arbeiterklasse jede unabhängige und revolutionäre Rolle ausschließt.

Saul Newman verlangt explizit nach einer neuen Form „linker” Politik, „die sich vom marxistischen Kampf der Arbeiterklasse unterscheidet: sie fußt nicht mehr auf der zentralen Subjektivität des Proletariats, und deshalb kann die Bewegung, obwohl traditionelle Organisationen der Arbeiterklasse immer noch eine wichtige Rolle darin spielen, nicht mehr unter der Rubrik des Klassenkampfs verstanden werden.“ (19)

Das politische Programm der SEP und des Internationalen Komitees steht in unversöhnlichem Gegensatz zu den Programmen der amerikanischen und internationalen Pseudo-Linken. Unsere Politik stützt sich auf die Schlüsselrolle des Kampfs der Arbeiterklasse. Die Arbeiterklasse ist im Kampf gegen den Kapitalismus nicht bloß eine Gruppe unter anderen. Sie ist die entscheidende revolutionäre Kraft in der modernen kapitalistischen Gesellschaft. Alle Anstrengungen der Partei müssen darauf ausgerichtet sein, die Kämpfe der Arbeiterklasse vorzubereiten und ihre Führung zu übernehmen. Wir bestehen darauf, dass der revolutionäre Kampf realistisch ist und nur dann „verstanden werden“ kann, wenn er sich unter der „Rubrik“ des Klassenkampfes entwickelt. Auf dieser Grundlage kämpft die SEP dafür, in der neuen Periode sich verschärfender Klassenkonflikte ihren Einfluss unter Arbeitern und Jugendlichen zu erweitern.

Anmerkungen

1) Greta R. Krippner: Capitalizing on Crisis: The Political Origins of the Rise of Finance, Cambridge, Harvard University Press 2011, S. 4 [aus dem Englischen].

2) Das alljährliche Finale der amerikanischen Baseball-Profiligen. (Üb.)

3) „Manifest des II. Kongresses der Kommunistischen Internationale“, in „Der Zweite Kongress der Kommunistischen Internationale – Protokoll“, Hamburg 1921.

4) Wladimir Lenin: Zwei Welten (1910), in: Werke, Band 16, Berlin 1973, S. 315.

5) David North: Leon Trotsky and the Development of Marxism [Leo Trotzki und die Entwicklung des Marxismus], Detroit 1985, S. 18-19 (dt. zitiert nach: http://www.wsws.org/de/2007/sep2007/ste2-s13.shtml).

6) Bensaïd, Sousa, et.al: New Parties of the Left: Experiences from Europe [Neue Parteien der Linken: Erfahrungen aus Europa], London, Resistance Books 2011, S. 40 [aus dem Englischen].

7) Bruno Rizzi: The Bureaucratization of the World [Die Bürokratisierung der Welt] New York, The Free Press 1985, S. 69 [aus dem Englischen].

8) Leo Trotzki: Verteidigung des Marxismus, Essen 2006, S.14-15.

9) Dwight Macdonald: The Root is Man [Die Wurzel ist der Mensch] Brooklyn-New York, Automedia 1995, S. 38-39 [aus dem Englischen].

10) Ebd. S. 61-65.

11) The Castoriadis Reader [Das Castoriadis-Lesebuch] Oxford, Blackwell 1997, S. 2 [aus dem Englischen].

12) Ebd. S.28.

13) Theodore Roszak: Gegenkultur, München 1973, S. 148-149, 140-141, 150.

14) Saul Newman: Unstable Universalities: Poststructuralism and Radical Politics [Instabile Universalitäten: Poststrukturalismus und radikale Politik], Manchester und New York 2007, S. 179 [aus dem Englischen].

15) André Gorz: Farewell to the Working Class, London, Pluto Press, 1982, S. 21 [aus dem Englischen].

16) David West: Continental Philosophy: An Introduction [Die Philosophie des Festlands: Eine Einführung], Cambridge, Polity 2010, S. 214 [aus dem Englischen].

17) David North: Das Erbe, das wir verteidigen, Essen 1988, S. 22.

18) Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie: zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 2000, S. 32, 34

19) Saul Newman: Unstable Universalities: Poststructuralism and Radical Politics [Instabile Universalitäten: Poststrukturalismus und radikale Politik], Manchester und New York 2007, S. 176. [Aus dem Englischen]

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