Perspektive

Obama in Boston

Drei Tage, nachdem in Boston während des alljährlichen Marathons bei Bombenanschlägen drei Menschen getötet und mehr als 170 verletzt wurden, flog Präsident Barack Obama in die Stadt, um bei einem ökumenischen Gottesdienst für Opfer und Überlebende eine Rede zu halten.

Es war bereits das fünfte Mal, dass Obama nach einem Massaker mit vielen Toten eine solche Rede hielt. Zuvor hatte er das im November 2009 in Fort Hood, Texas, im Januar 2011 in Tucson, Arizona, im Juli 2012 in Aurora, Colorado, und im Dezember 2012 in Newtown, Connecticut, getan.

Die Mainstream-Medien, die Obama zynisch als „obersten Tröster“ bezeichneten, nannten seine Rede „inspirierend,“ „stark“ und „bewegend.“ Sie enthielt alles, was sie hören wollten und störte sie in keiner Weise bei ihrem Versuch, die Ereignisse in Boston mit der reaktionären Agenda des „Kriegs gegen den Terrorismus“ in Verbindung zu bringen und sie als weitere Rechtfertigung für Kriege im Ausland und Angriffe auf demokratische Rechte im eigenen Land zu nutzen.

Dabei war nicht zu übersehen, dass Obama ein Ritual abspulte und dabei gewohnt routiniert auf Banalität und Verlogenheit setzte.

Wie immer begann seine Ansprache mit Anspielungen auf die Bibel.

„Die Bibel lehrt uns,“ waren seine ersten Worte von der Kanzel der Bostoner Heiligkreuz-Kathedrale. Seine Rede bei einer Gebetswache für die 26 Opfer des Schulmassakers von Newton hatte mit den Worten "Die Bibel lehrt uns ‚Verliert nicht den Mut‘“ begonnen. Die Rede nach dem Massaker in einem Kino in Aurora, bei dem zwölf Menschen getötet und 58 verwundet wurden, fing an mit den Worten: „Die Bibel lehrt uns: ‚Gott wird alle Tränen abwischen, und der Tod wird nicht mehr sein.‘“ Bei der Gedenkfeier für die Opfer des Amoklaufs von Tucson hatte Obama gesagt: „Die Bibel lehrt uns: ‚ Dennoch soll die Stadt Gottes heiter bleiben mit ihren Brünnlein...‘“

Wenn Obama sich bei der nächsten Katastrophe wieder auf die Bibel bezieht, sollte er vielleicht das Buch Salomons in Betracht ziehen, in dem es heißt: „Diese sechs Dinge hasst der Herr, und am siebenten hat er einen Gräuel: hohe Augen, falsche Zunge, Hände, die unschuldig Blut vergießen...“ Man könnte kaum eine Beschreibung finden, die besser auf den amerikanischen Präsidenten zuträfe.

Auf Obamas Bibelzitate folgt meist eine kurze Beschreibung der Opfer und eine Lobeshymne auf den unbezwingbaren Geist der amerikanischen Nation. Dann beteuert er jedesmal, dass die Überlebenden nicht alleine sind. In Wirklichkeit werden die Politiker und die Medien sie schnell vergessen haben, spätestens nach dem nächsten oder übernächsten Massaker.

Als Erklärung, wie es zu diesen schrecklichen Ereignissen kommen konnte, wo ihr Ursprung liegt, hat der Präsident nichts anderes anzubieten als das übliche Gerede vom sinnlosen „Bösen“.

Bei seiner Rede in Tucson erklärte er: „Die Bibel lehrt uns, dass es das Böse in der Welt gibt, und dass schreckliche Dinge passieren, die sich dem menschlichen Verstand entziehen.“

Dieses „Böse“ wird als Übel dargestellt, das die Opfer aus dem Nichts anfällt - ein Einzelfall in einer ansonsten stabilen und gesunden Gesellschaft.

Amokläufe und andere Formen von Gewalt sind jedoch keine Ausnahme, sondern kommen in Amerika regelmäßig vor.

Zwischen Obamas Rede in Tucson im Januar 2011 und der in Newtown im Dezember 2012 spielten sich in den USA unter anderem folgende Tragödien ab:

- Juli 2011: Ein Amoklauf in Grand Rapids, Michigan, mit acht Toten.

- August 2011: Ein Amokschütze tötet in Copley, Ohio sieben Menschen, bevor er selbst getötet wird.

September 2011: Eine Schießerei in einem Restaurant in Carson City, Nevada, mit fünf Toten.

- Dezember 2011: Ein Mann in einem Weihnachtsmannkostüm erschießt in Grapevine, Texas, am Weihnachtsmorgen sechs Menschen, danach sich selbst.

- April 2012: Bei einem Amoklauf in einer asiatischen Schule in Oakland, Kalifornien, kommen sieben Menschen ums Leben.

- Mai 2012: Bei einer Schießerei in Seattle, Washington, werden fünf Menschen getötet.

- August 2012: In einem Sikh-Tempel in Wisconsin werden sieben Menschen getötet.

- September 2012: Bei einer Schießerei in einem Betrieb in Minneapolis, Minnesota, werden sechs Menschen getötet.

Wenn „das Böse“ so oft zuschlägt, muss es wohl tiefe Wurzeln in der amerikanischen Gesellschaft haben.

Angesichts von Obamas endlosen Bibelzitaten ist es notwendig, sich daran zu erinnern, wie ein anderer amerikanischer Präsident sich auf die Bibel berief.

Lincoln, der normalerweise keine Bibelzitate benutzte, bezog sich in seiner zweiten Amtsantrittsrede auf Matthäus 18.7: „Wehe der Welt mit ihren Ungerechtigkeiten!“ Er bezeichnete die Sklaverei als eine dieser Ungerechtigkeiten und erklärte, wenn es Gottes Wille sei, werde der Krieg weitergehen, bis „aller Reichtum, den die Sklaven in 250 Jahren unbezahlter Arbeit angehäuft haben, versunken ist, und bis jeder Tropfen Blut, den die Peitsche gefordert hat, mit dem Schwert eingetrieben wurde.“

Lincolns biblische Metapher brachte die objektive Krise, in der Amerika durch den Bürgerkrieg steckte, auf den Punkt. Obama dagegen bezieht sich auf die Bibel, um die sozialen und politischen Wurzeln der aktuellen Ereignisse zu verschleiern und für unergründlich zu erklären.

Was sind die „Ungerechtigkeiten,“ aus denen die Gewalt erwächst, die in der modernen amerikanischen Gesellschaft herrscht?

Die Vereinigten Staaten führen seit mehr als zwanzig Jahren endlose Angriffskriege. Seit 2001 führen sie den „Krieg gegen den Terror,“ in dem sie die ganze Welt, inklusive der USA selbst, zum Schlachtfeld erklärt haben. Die Opfer dieses Krieges in Afghanistan, im Irak und anderen Staaten gehen in die Millionen.

In einem der zynischsten Momente von Obamas Rede bezog er sich auf ein oft gezeigtes Bild von dem jüngsten Todesopfer des Anschlags, dem achtjährigen Martin Richard, und hielt ein Poster hoch, auf dem geschrieben stand: „Tut niemanden mehr weh. Frieden.“ Obama wiederholte diesen Satz zweimal.

Einen Tag bevor Obama nach Boston gekommen war, schossen amerikanische Drohnen Raketen auf ein pakistanisches Dorf ab, zerstörten ein Haus und töteten fünf Menschen, die darin lebten. Sieben weitere wurden verwundet. Am gleichen Tag zerstörte ein Drohnenangriff im Jemen ein Auto, fünf Passagiere starben. Es ist allgemein bekannt, dass Obama selbst die Opfer dieser Morde aussucht und sich anmaßt, die Ermordung amerikanischer Staatsbürger ohne Anklage oder Prozess anzuordnen. Die Bitte des Jungen liest sich wie eine Anklage gegen den Präsidenten selbst.

Es sollte niemanden verwundern, wenn die Massenmorde des amerikanischen Staates, die von den Medien gerechtfertigt werden, in den USA selbst tödliche Folgen haben.

Diese blutigen Taten in aller Welt sind verbunden mit einer zunehmenden Brutalisierung der Gesellschaft im Inneren, die von beispielloser sozialer Ungleichheit gekennzeichnet ist. Im fünften Jahr der schwersten Wirtschaftskrise seit der Großen Depression ist die Arbeiterklasse mit Massenarbeitslosigkeit, sinkenden Löhnen und wachsender Armut konfrontiert, während die Aktienkurse, Unternehmensgewinne und Managergehälter in schwindererregende Höhen steigen. Die bestehende politische Ordnung macht eine progressive Nutzung der explosiv ansteigenden sozialen Unzufriedenheit unmöglich.

Es ist kein Wunder, dass Obama nicht wagt, darüber nachzudenken, was den blutigen Ereignissen von Tucson, Aurora, Newton und Boston und so vielen anderen zugrunde liegt. Jede ernsthafte Untersuchung, die sich nicht mit der Erklärung eines unverständlichen „Bösen“ zufrieden gibt, würde unweigerlich zu einer Generalabrechnung mit ihm, seiner Regierung und der Gesellschaftsordnung, für die er steht.

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