Das Vermächtnis des Aufstands
vom 17. Juni 1953 in der DDR

Staatlich verordnete geschichtliche Gedenktage haben ihre eigene Geschichte. So auch jener zum Aufstand, der am 17. Juni 1953 in der damaligen DDR gegen die Herrschaft der SED ausbrach.

Zum 40. Jahrestag im Jahre 1993, vier Jahre nach dem Fall der Mauer und drei Jahre nach der Restauration des Kapitalismus im Osten durch die Wiedervereinigung, war der 17. Juni als nationaler Feiertag gerade abgeschafft worden. Bei den herrschenden Eliten und Medien bestand relativ wenig Interesse, dieses geschichtliche Ereignis in größerem Umfang zu untersuchen und zu diskutieren.

Die Illusionen in die blühenden Landschaften, die BundeskanzlerHelmut Kohl versprochen hatte, waren noch nicht ganz verflogen. Regierung, Oppositionsparteien und Gewerkschaften waren nach Kräften bemüht, den Aufstand als einen Aufstand gegen den Sozialismusund sich selbst als Vollstrecker des Volkswillens darzustellen.Für die kapitalistische Wiedervereinigung hätten die Arbeiter gekämpft, die 1989 glücklich erreicht worden sei, erklärten sie.

Der 50. Jahrestag vor zehn Jahren fiel in eine Zeit, in der die rot-grüne Regierung dabei war, mit den Hartz-Gesetzen den sozialen Kahlschlag vom Osten auf den Westen auszudehnen. Die antikommunistische Propaganda in den Medien und Regierungsorganen nahm umso hysterischere Formen an, je unverhüllter sich die verheerenden sozialen Konsequenzen der Zerstörung der Sowjetunion und der kapitalistischen Wiedervereinigung zeigten.

Heute, 60 Jahre nach dem Arbeiteraufstand in der DDR und ein Vierteljahrhundert nach der deutschen Wiedervereinigung befindet sich der Weltkapitalismus in der tiefstenKrise seiner Geschichte. In allen Ländern Europas wird von der EU und den nationalen Regierungen eine soziale Konterrevolution nie dagewesenen Ausmaßes vorangetrieben. Die arbeitende Bevölkerung ganzer Staaten wird ins Elend gestürzt, die Jugend jeder Zukunftberaubt.

Einen fortschrittlichen Ausweg können sie nur finden, indem sie die Lehren aus den entscheidenden Klassenschlachten des vorigen Jahrhunderts ziehen. Dazu gehört auch ein klares Verständnis der Ursachen der blutigen Niederlage des Aufstands vom 17. Juni 1953.

Was war der soziale und politische Charakter des Aufstands? Weshalb konnte er niedergeschlagen werden?Was war die DDR? Was war der Stalinismus?

Wir geben an dieser Stelle eine Rede wieder, die Wolfgang Weber im Juni 1993 in Berlin auf einer Veranstaltung des Bunds Sozialistischer Arbeiter anlässlich des 40. Jahrestags des Aufstands gehalten hat. Der Bund Sozialistischer Arbeiter (BSA) war die Vorläuferorganisation der Partei für Soziale Gleichheit (PSG). Wolfgang Weber war bzw. ist Vorstandsmitglied beider Organisationen.

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„Solange die SED an der Macht war und die Wahrheit über den Aufstand gegen die stalinistische Bürokratie unterdrückte, ließ die Bonner Regierung am 17. Juni feiern. Seit im vereinigten Deutschland Massenentlassungen und Billiglohnarbeit durchgesetzt und wieder weltweite Kriegseinsätze vorbereitet werden, ist ihr allein schon die Erinnerung an einen Arbeiteraufstand zu gefährlich. Wir erinnern daran!“

Es war, als ob die Regierung den Text des Plakates gelesen hätte, mit dem der Bund Sozialistischer Arbeiter zu dieser Versammlung einlud, und sich daraufhin anders besonnen hätte: Der regierende Bürgermeister Diepgen enthüllte eine Gedenktafel ausgerechnet am Haus der Treuhand, das vor 40 Jahren als Haus der Ministerien und Regierungssitz im Zentrum der Demonstrationen der Berliner Arbeiter stand, und Bundeskanzler Kohl eilte entgegen den ursprünglichen Plänen doch noch nach Berlin zur nationalen Feierstunde in den Reichstag. Ehren wolle er die mutigen Menschen von 1953, sagte er, und heftete zehn ehemaligen Bauarbeitern, die damals den Streik in der Stalinallee mit begonnen hatten, das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse an die Brust.

Es ist meines Wissens so ziemlich das erste Mal, dass dieser Orden nicht am Bauch eines westdeutschen Professors, Parlamentariers, eines Bundesministers oder sonstigen staatstragenden Schmarotzers baumelt, sondern Arbeitern umgehängt wurde. Doch Kohl, Diepgen und Weizsäcker hätten in ihrer plötzlichen Arbeiterseligkeit die BRD auch in ABRD - Arbeiter- und Bauernrepublik Deutschland - umtaufen können, es hätte doch nichts an der sozialen Wirklichkeit in Deutschland geändert. All die Totenehrungen, Trauerkränze, Arbeiterorden und Einheitsreden können eines nicht vergessen machen: Die Opfer von damals sind auch die Opfer von heute!

Die Arbeitermassen, die sich damals gegen die verhasste stalinistische DDR-Regierung erhoben hatten, sind heute mit der kapitalistischen Bundesregierung, den Länderregierungen und der Treuhand konfrontiert. Wurden sie damals von den stalinistischen Bürokraten mit Hilfe von Panzern und Maschinengewehren von der Straße zurück in die Betriebe getrieben und unterdrückt, werden sie heute von sozialdemokratischen Gewerkschaftsfunktionären und SPD-Ministern mit Hilfe von Beschäftigungsgesellschaften, Nullstundenkurzarbeit, Umschulungen aus den Betrieben geworfen und auf die Straße gesetzt.

Das Vermächtnis der Menschen vom 17. Juni 1953 sei heute, mit der Wiedervereinigung Deutschlands von 1990, eingelöst worden, sagte Kohl während der Regierungsfeier im Reichstag.

In diesem Sommer wird in den gewerblichen, d.h. in den Industrie- und Handwerksbetrieben nur noch ein Viertel der Anzahl von Arbeitern beschäftigt sein, die noch 1989 dort ihr Brot verdienten; 4,5 Millionen Arbeitslose, Kurzarbeiter, Umschüler, Frühverrentete im Osten und noch einmal 3,5 Millionen davon im Westen; rund 4 Millionen Sozialhilfeempfänger in Ost und West; Billiglohnarbeit mit Ostlöhnen auf einem Niveau von real kaum über 50% der Westlöhne; mehr als 65% der einst beschäftigten Frauen ohne Arbeit; ein Geburtenrückgang im Osten von 50%, Tausende von jungen Frauen, die sich aus Angst um den Arbeitsplatz sterilisieren lassen; Kindergärten, Jugendclubs, Ausbildungsstätten geschlossen, stattdessen für Jugendliche Spielhöllen, Terror von Neonazis und eine Zukunft als Kanonenfutter in weltweiten Kriegseinsätzen der Bundeswehr; der tägliche Terror der Treuhand an Stelle des Terrors des Hauses der Ministerien oder des SED-Zentralkomitees - das soll das Vermächtnis des Aufstands von 1953 sein?

Nein, das sind die unzweideutigen Vorboten eines neuen 17. Juni! Genauso, wie den Herren Ulbricht, Honecker, Modrow und ihren Lakaien stets die Angst vor einem neuen Arbeiteraufstand im Nacken saß, werden heute Kohl, Waigel und Breuel von dieser Furcht getrieben. Deshalb greifen sie auch auf dieselben Lügen wie die SED zurück, um den Aufstand von damals zu verleumden und seine Ziele zu verdrehen: gegen den Sozialismus habe er sich gerichtet, die Wiedereinführung des Kapitalismus zum Ziel gehabt - so wie die Wiedervereinigung Deutschlands 1990.

Im Grunde handelt es sich da um die alte Jahrhundertlüge, die sowohl den Stalinisten im Osten wie den Kapitalisten im Westen zur ideologischen Legitimation ihrer Herrschaft und seit 1989 zur Rechtfertigung der Wiedereinführung der kapitalistischen Diktatur und Ausbeutung dient: die stalinistische Bürokratie im Osten habe den Sozialismus repräsentiert, und dieser, der Sozialismus, sei schließlich gescheitert.

Das politische Ziel dieser Geschichtsfälschung ist klar: Arbeitern, die heute gegen Ausbeutung, Sozialabbau, Billiglohnarbeit kämpfen wollen, soll eingebläut werden: es hat keinen Zweck! Seht, was dabei herausgekommen ist! Es gibt keine über den Kapitalismus und seine Barbarei hinausweisende Perspektive! Deshalb soll die Wahrheit über den Aufstand, über die Ursachen seiner Niederlage, über die stalinistische Unterdrückung und ihre Helfer in Ost und West weiter unterdrückt werden!

Zehn ausgesuchte Bauarbeiter von damals mögen heute eine Ordensbinde tragen, doch von den zahllosen Arbeitern, die damals erschossen, hingerichtet, für Jahre eingekerkert und verfolgt, in den Betrieben entlassen und schikaniert worden sind, ist bis heute kein einziger gerächt oder auch nur rehabilitiert und entschädigt worden. Angehörige dieser Opfer stoßen, wenn sie Auskunft, Rehabilitierung und Entschädigung verlangen, in den Amtstuben der Behörden heute auf dieselben eisigen Mauern feindseligen Schweigens und kaltschnäuziger Ablehnung wie zu Zeiten der DDR.

Von den vermutlich über 200 während des Aufstands erschossenen oder anschließend hingerichteten Arbeitern sind nur einige namentlich bekannt, so zum Beispiel Ernst Jennrich, ein Gärtner aus Magdeburg, in erster Instanz mangels Beweise „nur“ zu lebenslänglich, in zweiter Instanz aber auf Anweisung von Justizministerin Benjamin vom Volksrichter Sieber am Magdeburger Bezirksgericht zum Tod verurteilt und hingerichtet. Und der Arbeiter Prahst, vom Bezirksgericht Potsdam wegen Beteiligung am Aufstand zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Standrechtlich von sowjetischen Militärs erschossen wurden: Willi Göttling, ein Arbeitsloser aus Westberlin; Wilhelm Anders, Siersleben; Walter Krüger, Leimbach; Hermann Stahl, Großörner; Heinz Brandt, Rostock; Vera Knoblauch, Rostock; Alfred Darsch, Magdeburg; Herbert Strauch, Magdeburg; Peter Heider, 17Jahre, Leipzig; Heinz Sonntag, Leipzig; Alfred Diener, Jena; Axel Schäfer, 17Jahre, Apolda. Das standrechtliche Todesurteil gegen den Ingenieur Herbert Tschirner wegen Beteiligung am Juni-Aufstand wurde später in eine lebenslängliche Freiheitsstrafe umgewandelt.

Vermutlich über 45 Angehörige der Kasernierten Volkspolizei, der Volks- und Seepolizei sind wegen Befehlsverweigerung und Unterstützung des Arbeiteraufstands erschossen worden, darunter Ernst Markgraff und Hans Wojkowski in Stralsund, Günther Schwarzer in Gotha. Ebenso sind etliche sowjetische Soldaten - ihre Zahl und ihre Namen werden nach wie vor in den Moskauer Archiven geheimgehalten - wegen Befehlsverweigerung standrechtlich hingerichtet worden. Zu lebenslänglich Zuchthaus sind der Arbeiter Gerhard Römer in Magdeburg, der Bauer Kurt Unbehauen aus Maua bei Jena und der Fotograf Lothar Markwirth aus Niesky an der Oder verurteilt worden.

Mindestens 13 mal ist eine Zuchthausstrafe von zwischen 10 und 15 Jahren verhängt worden, darunter in einem Revisionsverfahren jeweils 15 Jahre für die 18jährigen Jugendlichen Otto Sieberling aus Rathenow und Werner Reinelt aus Schlagenthin. Ursprünglich sollten beide ebenfalls hingerichtet werden. Dabei hat es sich im übrigen um zwei der ganz wenigen Revisionsurteile gehandelt, die zu einer Abmilderung der ursprünglichen Strafe geführt haben. Hunderte von Revisionsverfahren endeten dagegen regelmäßig mit einer drastischen Verschärfung der Urteile.

Kein einziger dieser Prozesse ist wieder aufgerollt worden. Keiner der Staatsanwälte und Richter, die sich bei diesem Justizterror gegenseitig an Härte, Perfidie und Regierungshörigkeit zu übertreffen suchten, ist zur Rechenschaft gezogen worden.

Erich Mielke hat nach der Niederschlagung des Aufstands als stellvertretender Chef der Staatssicherheit eine Welle systematischer Verfolgungen, Verhaftungen und Verurteilungen von Arbeitern organisiert, die am Streik beteiligt gewesen waren. Wurde er deshalb nach 1990 angeklagt? Keineswegs! Er wurde von der deutschen Bourgeoisie auf der Grundlage der Nazi-Akten von 1933/34 angeklagt, weil er in seiner Jugend gegen die Nazis gekämpft hat und dabei zwei als Faschisten berüchtigte Polizisten umgebracht haben soll.

Die 1953 noch jungen Staatsanwälte Krüger, Raabe, Lilo Hechler, Stierbeck, Rebhartz und Kreckhoff haben unter der Leitung von Mielke und Generalstaatsanwalt Herbert Melsheimer eine Kommission gebildet, die in die Betriebe ging, angeblich um in vertrauensvollen Gesprächen mit Arbeitern Missstände herauszufinden und für deren Beseitigung zu sorgen. In Wirklichkeit war ihr Auftrag, sich in das Vertrauen der Arbeiter einzuschleichen, um kritische Geister und Oppositionelle unter ihnen aufzuspüren und für ihre Verhaftung und Verurteilung zu sorgen. Was ist mit ihnen nach 1989 geschehen?

Karl Eduard von Schnitzler, jahrzehntelanger Chefkommentator im sogenannten Schwarzen Kanal des DDR-Fernsehens, ist er etwa behelligt worden? Er hat nicht nur alle stalinistischen Verbrechen des 17. Juni 1953 propagandistisch unterstützt und verteidigt, er hat auch aktiv daran mitgewirkt, nämlich als gekaufter Zeuge der Anklage in Gerichtsprozessen. Zumindest in einem Fall wird dies berichtet: Der Westberliner Student Wolfgang Gottschling, der nur zufällig in die Demonstrationen geraten und dort verhaftet worden war, als er seiner Kusine im Osten beim Umzug helfen wollte, ist vom Oberrichter Dr. Berger in Berlin auf Grund der Falschaussagen Eduard von Schnitzlers wegen faschistischer Propagandatätigkeit und Rädelführerschaft zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Die Berufung gegen das Urteil war als rechtswidrig erklärt und nicht zugelassen worden.

Etliche von diesen Lakaien und Folterknechten des Stalinismus in den Reihen der Justiz verbringen heute genauso wie Eduard von Schnitzler noch einen beschaulichen Lebensabend. Keiner von ihnen ist vor Gericht oder ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt worden wie etwa der Richter Jürgens, der in den Waldheimprozessen zu DDR-Zeiten Nazi-Verbrecher verurteilt hatte.

Nein, die stalinistischen Verbrechen des 17. Juni sind noch nicht gesühnt, das Vermächtnis der Aufständischen noch nicht eingelöst worden. Allein die Trotzkisten, die als erste und einzige in der Geschichte dem Stalinismus eine prinzipielle und revolutionäre Opposition entgegengesetzt haben, sind in der Lage und berufen, dieses zu leisten. Wir ehren die Arbeiter und Opfer des 17. Juni, indem wir die volle Wahrheit über den Aufstand aufdecken, seine Ursachen erklären und die Arbeiterbewegung mit den politischen Lehren aus seiner Niederlage bewaffnen.

Ursachen und Charakter des Aufstands

Im Grunde hat der 17. Juni 1953 bereits den Mythos zerstört, die Herrschaft der stalinistischen Bürokratie stelle den Sozialismus oder einen Versuch zu seiner Errichtung dar. Er hat den unversöhnlichen Gegensatz an den Tag gebracht, der zwischen der kleinen Schicht von privilegierten Bürokraten und den breiten Arbeitermassen bestand, in deren Namen sie angeblich herrschten. Er hat an den Tag gebracht, dass der Staat der DDR nicht auf der Machtergreifung der Arbeiterklasse durch eine proletarische Revolution beruhte, sondern auf deren Unterdrückung.

Mit einer Geschlossenheit und Kampfbereitschaft wie seit den revolutionären Kämpfen von 1923 nicht mehr erhoben sich die Arbeitermassen gegen ein verhasstes Regime, das plötzlich völlig isoliert und nackt dastand und sich nur noch mit Hilfe militärischer Gewalt retten und durch einen umfassenden staatlichen Terror halten konnte. Nachdem sich bereits über Monate hinweg Unruhen, Tumulte vor Gefängnissen und Streiks in vielen Städten der DDR gehäuft hatten, gaben plötzlich die Arbeitsniederlegung und Demonstration von ein paar Hundert Bauarbeitern in Berlin gegen die von der SED verordneten Normenerhöhungen bzw. Lohnsenkungen das Signal für eine regelrechte Massenerhebung.

Schwerpunkte des Aufstands waren neben Berlin die Industriegebiete von Leipzig, Bitterfeld, Merseburg, Halle, Magdeburg, Dresden, die bereits vor 1933 berühmt waren für ihre sozialistischen Traditionen. Gestreikt wurde auch in Küstenstädten wie Rostock und in Grenzstädten wie Görlitz an der Neiße. Überall in der DDR wurden die Bilder Stalins und der SED-Führer heruntergerissen und oft mit Freudenfeuern verbrannt. Zahllose Büsten von Stalin wurden zum Fenster hinausgeworfen, Statuen umgestürzt. Insgesamt befanden sich am 17. Juni an die 500.000 Arbeiter im Ausstand. Millionen wollten ihnen am nächsten Tag folgen.

Doch inzwischen hatten die Kreml-Herren bereits die Niederschlagung des Aufstands und dazu den Einsatz der 500.000 sowjetischen Besatzungssoldaten einschließlich mehrerer Panzerdivisionen befohlen. Die großen Werke wie Leuna, Buna, Zeiss wurden auf Wochen und Monate von Panzern und Soldaten, teilweise sogar von Artillerie besetzt. Und dennoch kam es im Juli zu einer zweiten Streikwelle, in deren Zentrum vor allem die Forderung nach Freilassung der politischen Gefangenen stand. Erst allmählich konnte eine Kombination von wirtschaftlichen und sozialen Zugeständnissen an die breite Masse der Arbeiter und brutalem Polizeiterror gegen die bewusstesten und fortschrittlichsten unter ihnen das Regime stabilisieren, aber niemals die Kluft zwischen ihm und der Arbeiterklasse überbrücken.

Was war die Ursache für diesen explosionsartigen Ausbruch eines Volksaufstandes kaum vier Jahre nach Gründung der DDR? Was war die Rolle der herrschenden Bürokratie, dass sie einen derartigen Hass nicht nur der gesamten Arbeiterklasse, sondern auch der restlichen Bevölkerung, Bauern und Handwerker, auf sich zog?

Von ihrem gesellschaftlichen Charakter her war die herrschende Bürokratie in der DDR wie in allen anderen osteuropäischen Ländern und in der Sowjetunion selbst eine kleinbürgerliche Schicht, welche die Verstaatlichungen und die Elemente der Planwirtschaft dazu benutzte, um die Arbeiter politisch zu unterdrücken und sich selbst auf deren Kosten Privilegien zu sichern.

Historisch gehen ihr Aufstieg und ihre Herrschaft auf die Niederlagen der proletarischen Revolutionen in ganz Westeuropa und vor allem in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg zurück. Die Sowjetunion wurde damals isoliert und von den Produktivkräften und Ressourcen der Weltwirtschaft, insbesondere von der internationalen Arbeiterklasse abgeschnitten. Unter diesen Bedingungen hat die von der Geschichte ererbte Rückständigkeit Russlands die Oktoberrevolution übermannt. Seinen gesellschaftlichen Ausdruck hat dies im Aufstieg einer bürokratischen Schmarotzerschicht gefunden, deren politischer Führer Josef Stalin war. Zusammen mit Bucharin hatte Stalin 1924 ihre Interessen formuliert, indem er das Programm der sozialistischen Weltrevolution unterdrückte, an seine Stelle eine völlig nationalistische Politik setzte und dies mit der „Theorie“ vom „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ rechtfertigte.

Diese Politik war darauf ausgerichtet, die Bedingungen, unter denen die Bürokratie aufgestiegen war und ihre Machtposition gegenüber der Arbeiterklasse hatte einnehmen können, aufrechtzuerhalten und zu festigen: im Inneren wie auf internationaler Ebene sollten alle revolutionären Kämpfe eingestellt und weitere Siege der internationalen Arbeiterklasse, eine Ausdehnung der sozialistischen Revolution auf andere Länder verhindert werden.

Diesem Zweck dienten auch die Regime, welche von Moskau nach 1945 in Osteuropa und Ostdeutschland eingesetzt worden waren. Ihre Führer wie Ulbricht, Pieck, Zaisser, Herrnstadt, Mielke, Honecker usw. hatten sich alle als rücksichtslose Henker und ergebene Anhänger Stalins bewährt. Ihre Politik beruhte nicht auf kommunistischen Traditionen, sondern auf
deren Zerstörung.

Zwar hatte die Bürokratie damals noch an den staatlichen, in der Oktoberrevolution geschaffenen Eigentumsverhältnissen festgehalten, aber sie hatte bereits die gesamte marxistische Kultur, aus der der Bolschewismus und der Sieg der sozialistischen Revolution in Russland hervorgegangen war, zerstört. Nicht nur die Traditionen und Prinzipien der internationalen kommunistischen Bewegung waren ihr zum Opfer gefallen und die Komintern 1943 schließlich auch formal aufgelöst worden, sondern auch all die mächtigen Impulse und Bewegungen in Kunst, Wissenschaft und Technik, welche von den gesellschaftlichen Umwälzungen der Oktoberrevolution angestoßen worden waren. Seinen Höhepunkt fand diese reaktionäre Entwicklung in der physischen Vernichtung der marxistischen Führer, im regelrechten Völkermord an Millionen von revolutionär gesinnten Arbeitern, Naturwissenschaftlern, Künstlern und Technikern, die ihre Fähigkeiten in den Dienst des Sozialismus stellen wollten. Durch das Instrument der Komintern, die unter die Kontrolle der Kreml-Bürokratie geraten war, ist dieser Prozess auf internationaler Ebene fortgesetzt worden.

Die Angehörigen der Linken Opposition in der Kommunistischen Partei um Leo Trotzki, die das marxistische Programm der sozialistischen Weltrevolution verteidigten, waren die ersten Opfer. Sie wurden verfolgt und zu Zigtausenden ermordet, allen voran 1940 Leo Trotzki selbst, der Hauptangeklagte der Moskauer Prozesse.

Ihre Mörder und Verfolger bekamen 1945 den Auftrag, eine proletarische Revolution, wie sie am Ende des Zweiten Weltkriegs als Folge des Zusammenbruchs der Hitlerherrschaft zu befürchten war, gewaltsam zu unterdrücken. Der Staat der DDR war das Produkt und gleichzeitig das Hauptinstrument dieser stalinistischen Arbeit in Deutschland.

Die erste Aufgabe, welche die von Moskau in Ostdeutschland eingesetzten Bürokraten unter Führung von Ulbricht erledigten, bestand darin, die von den Arbeitern gebildeten antifaschistischen Komitees aufzulösen, jede selbständige politische Regung von Arbeitern zu ersticken und insbesondere die KPD und später die SED von allen Mitgliedern zu säubern, die sozialistische Prinzipien und revolutionäre Ziele verfolgten. Das Programm der KPD von 1945 war nicht die sozialistische Revolution, sondern die Errichtung eines „demokratischen Kapitalismus“.

Auch die später, nach Ausbruch des Kalten Krieges dann vorgenommenen Enteignungen und die schrittweise Einführung der Planwirtschaft machten die DDR nicht zu einem sozialistischen Staat. Sie waren von Anfang an mit einer verschärften politischen Knebelung und wirtschaftlichen Ausbeutung der Arbeiter verbunden, während sich die kleine Clique von Stalinisten um Ulbricht auf dieser Grundlage eine Schicht von ergebenen Bürokraten in Staat und Wirtschaft heranzog, die vom staatlichen Eigentum schmarotzte. Unter „Aufbau des Sozialismus“ verstand diese Bürokratie die Vergrößerung und Absicherung ihrer Privilegien gegenüber den Arbeitern durch Verschärfung der Arbeitshetze in den Betrieben, durch ständige Versuche, die Löhne zu senken und die Normen zu erhöhen.

Der FDGB wurde nicht als gewerkschaftliche Vertretung der Belegschaften, sondern systematisch als Betriebspolizei der SED aufgebaut. Dass sich die FDGB-Funktionäre selbst als solche verstanden, macht ein interner Lagebericht des FDGB in Rostock vom 6./7. August 1953, also zwei Monate nach dem Aufstand, deutlich. In dem Bericht, der jetzt in den Beständen des MfS entdeckt worden ist, schreibt der örtliche FDGB-Vorsitzende Rudi Speckin: „Man muss offen sagen, dass die Leitungen der Gewerkschaften durch die faschistische Provokation überrascht wurden... Wir waren der Meinung, wir hätten die Arbeiter in diesen Betrieben in der Hand. Darin haben wir uns gründlich geirrt. Nicht die Gewerkschaftsleitung hatte das Heft in der Hand, sondern die feindlichen Provokateure hatten in diesen Betrieben eine Reihe Arbeiter hinter sich... Genosse Detzner, Bezirksstaatsanwalt Rostock, meint: ‚Am 17. Juni waren wir plötzlich erstaunt, wie viel Provokateure und Agentenzentralen es bei uns in der Republik gibt. Warum haben wir vorher nichts davon gemerkt?... Weil wir keine Massenbasis haben, kein Vertrauen bei der Bevölkerung gehabt haben!‘“

Dieses aufschlussreiche Eingeständnis macht auch deutlich, was SED und FDGB unter „faschistischen Provokateuren“ verstanden: Jeden, der die Macht und die Privilegien der Bürokratie bedrohte oder auch nur in Frage stellte, mit einem Wort, die Arbeiter selbst und vor allem die klassenbewussteren Vertreter und Führer unter ihnen, welche in der einen oder anderen Form noch sozialistische Prinzipien und Vorstellungen vertraten. Trotz aller Säuberungsarbeit der Stalinisten waren solche Vorstellungen unter der damaligen Generation von Arbeitern noch viel weiter verbreitet als heute, weil sie selbst oder ihre Eltern noch von den Traditionen der frühen KPD oder gar von den großen Marxisten wie Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Franz Mehring beeinflusst worden waren.

Nur ein Beispiel dazu: In allen Großbetrieben der sowjetisch besetzten Zone wurde 1945 gegen den Willen der Besatzer von den Belegschaften und den von ihnen gewählten Betriebsräten die Akkordarbeit als typisch kapitalistische Ausbeutungsmethode abgeschafft, von der es seit jeher in der Arbeiterbewegung hieß: „Akkord ist Mord“. Ebenso wurden Privilegien für Angestellte, Ingenieure usw. beseitigt und die Lohndifferenzierung weitgehend aufgehoben.

Die Stalinisten von SED und FDGB hatten von Anfang an heftig gegen diese „Gleichmacherei“, wie sie es nannten, gekämpft und versucht, die Gültigkeit der Arbeitsgesetze von 1936, die Arbeitszeitordnung und Tarifregelungen der Nazi-Zeit aufrechtzuerhalten. Doch weder mit Stachanow-Kampagnen noch „Fortbildungskursen“ konnten sie bei diesen Bemühungen einen durchschlagenden Erfolg verzeichnen.

Als Ulbricht daher auf der berüchtigten 2. Parteikonferenz vom Juli 1952 im Auftrag des Kreml den „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“ verkündete, meinte er damit die planmäßige, systematische Unterdrückung der Arbeiter, um ihren Widerstand endlich zu brechen und Lohnsenkungen, Sozialabbau und verschärfte Arbeitshetze in den Betrieben durchzusetzen.

Die Kreml- und DDR-Führung reagierte mit diesem Kurs auf die Verschärfung des Kalten Kriegs nach dem Ausbruch des Koreakriegs, auf die intensiven Vorbereitungen des Westens für einen neuen Krieg gegen die Sowjetunion und insbesondere auf die Integration des wirtschaftlich wiedererstarkten Westdeutschlands in das westliche Militärbündnis NATO.

Sofern sich die Maßnahmen gegen Unternehmer, Großbauern und Mittelständler richteten, dienten sie nur dazu, die Stellung der Bürokratie zu stärken, und wurden teilweise mit dem „Neuen Kurs“ Anfang Juni 1953 wieder zurückgenommen. Hauptsächlich richteten sie sich aber gegen die Arbeiterklasse. Statt mit einem revolutionären Programm sich mit den Arbeitern im Westen zu vereinen, sollte sie nun die Last einer gewaltsam beschleunigten Entwicklung der Schwerindustrie und des gleichzeitigen Aufbaus einer eigenen Verteidigungsarmee der DDR tragen. Um dieses nationale „Aufbauprogramm“ durchzusetzen und zu finanzieren, versuchte die stalinistische Bürokratie die kapitalistischen Ausbeutungs- und Unterdrückungsmethoden mit brachialer Gewalt zu forcieren. Dagegen, und nicht gegen Sozialismus richtete sich der Aufstand vom Juni 1953!

Tausende von Arbeitern und auch Kleinbauern waren bereits im Winter 1952/53 verhaftet, zu barbarischen Strafen verurteilt oder zur Flucht in den Westen getrieben worden. Die Zahl der Häftlinge in der gesamten DDR schwoll vom Sommer 1952 bis zum Mai 1953 von 30.000 auf über 60.000 an. Im April 1953 wurden in Leipzig zwei Arbeiter zu vier und sechs Jahren Zuchthaus verurteilt, weil sie sich nach dem Tode Stalins eine Verbesserung der Lage erhofft und dies auch noch laut geäußert hatten.

Die ökonomischen Forderungen im Juni 1953 nach Rücknahme der Normenerhöhungen, nach Preissenkungen und Aufrechterhaltung der sozialen Leistungen waren daher von Anfang an mit politischen Forderungen verbunden: Freilassung aller politischen Gefangenen und Rücktritt bzw. Sturz der Regierung Ulbricht/Grotewohl.

Damit aber zielte der Aufstand auf den Lebensnerv nicht nur der Bürokratie in Moskau, sondern auch des westlichen Imperialismus. Denn insofern die stalinistische Bürokratie die Arbeiter in ganz Europa nach 1945 „befriedete“ und in Osteuropa mit staatlicher Gewalt unterdrückte, insofern sie jede sozialistische Regung unterdrückte und proletarische Revolutionen verhinderte, hatte die „grausame Knute der Kommissare auch ihr Gutes“ für den Westen, wie es der Herausgeber der Wochenzeitung Die Zeit, Theo Sommer, in einem Kommentar zu Beginn dieses Jahres ausdrückte. Und insofern fand sich die westdeutsche Bourgeoisie auch zumindest vorübergehend mit den Enteignungen im Osten des Landes ab und unterstützte 1953 - wie die USA, Frankreich und Großbritannien - nach Kräften die Niederschlagung des Arbeiteraufstands in Ostdeutschland, ebenso wie später die Niederschlagung der ungarischen Revolution 1956, des Prager Frühlings 1968 oder der Solidarnosc-Bewegung 1981 durch das stalinistische Militär.

Wenn die amerikanische Regierung dem Sender RIAS am 16./17. Juni sofort die Sendung des Aufrufs zum Generalsstreik verbot, um die eine Delegation ostdeutscher Arbeiter gebeten hatte, und als Begründung die Gefahr eines Dritten Weltkrieges anführte, dann meinte sie damit die Gefahr, dass die Westmächte sich plötzlich gezwungen sehen könnten, militärisch nicht nur gegen aufständische Arbeitermassen in Ostdeutschland, sondern gegen revolutionäre Erhebungen in ganz Osteuropa und in der Sowjetunion zu intervenieren - mit sehr zweifelhaften Aussichten auf Erfolg.

Tatsächlich war nach dem Tode Stalins ganz Osteuropa und die Sowjetunion in Gärung, Streikwellen breiteten sich in Sibirien, im Mai und Juni auch in der Tschechoslowakei aus. Dies kam zusammen mit einer Offensive der Arbeiterklasse in Westdeutschland, die gegen die bisherigen Hungerlöhne kämpfte, und mit einer Generalstreiksbewegung in Frankreich. Die gesamte zwischen den Westmächten und Moskau am Ende des Zweiten Weltkriegs vereinbarte Nachkriegsordnung war akut in Gefahr. Dies war der Grund dafür, dass Bonn, die SPD und die Westmächte aktiv den Kreml bei der blutigen Unterdrückung des Aufstands in Ostdeutschland unterstützten.

Deshalb errichteten die westlichen Militärbehörden an den Sektorengrenzen sofort Barrikaden, um eine Vereinigung der aufständischen Arbeiter im Osten mit den Arbeitern im Westen zu verhindern; deshalb wurden U- und S-Bahnhöfe im Westen gesperrt, um die von den Sowjets verhängte Ausgangssperre durchzusetzen. Und deshalb weigerten sich SPD und DGB strikt, auf die Forderungen und flehentlichen Bitten aus dem Osten um praktische Unterstützung auch nur im geringsten einzugehen. Anschließend freilich vergossen sie umso größere Krokodilstränen über die Niederschlagung des Aufstands und die „Verbrechen des Kommunismus“.

Die Ursachen der Niederlage

Die ganze Geschichte der Klassenkämpfe zeigt, dass militärische Machtmittel allein nie ausreichen, um einen Volksaufstand niederzuschlagen. Auch 1953 war dies nicht der Fall. Trotz der Unterstützung aus dem Westen für sie und trotz ihres massiven und grausamen Vorgehens war die physische Gewalt der sowjetischen Armee nicht der entscheidende Faktor für die Niederwerfung der Erhebung. Ausschlaggebend war vielmehr, dass es den Arbeitern selbst zwar nicht an instinktivem und berechtigtem Hass auf die stalinistische Bürokratie fehlte, wohl aber an einem klaren Programm, sie zu besiegen und selbst die Macht zu erobern.

Die politischen Forderungen der streikenden Massen blieben darauf beschränkt, den Rücktritt der Regierung und die Absetzung örtlicher Machthaber und Fabrikdirektoren der SED zu verlangen. Doch ohne den Willen und das Programm, selbst die Macht im Staat und in den Fabriken zu übernehmen, zielten diese Forderungen nur auf eine Reform, nicht den Sturz des Regimes ab.

Zwar waren, wie schon erwähnt, bestimmte sozialistische Auffassungen bei den Arbeitern noch stärker vorhanden als heute, aber der Kern sozialistischen Bewusstseins und marxistischer Perspektiven besteht darin, dass die Arbeiter nicht nur auf den unmittelbaren ökonomischen und sozialen Druck in ihrem eigenen Lebensbereich und Land reagieren, sondern ihr Schicksal bewusst mit dem der Arbeiter in den anderen Ländern Ost- und Westeuropas und der ganzen Welt verbinden und sich international zu ihrer geschichtlichen Aufgabe vereinen: weltweit den Kapitalismus und seine stalinistischen und sozialdemokratischen Stützen zu stürzen und in eigener Regie eine neue, sozialistische Gesellschaft aufzubauen.

Eine solche historische Perspektive fehlte im Juni 1953 völlig und daher auch der Wille und die Fähigkeit, der stalinistischen Repression energisch und zielbewusst entgegenzutreten.

Statt an die Arbeiter in der sowjetischen Armee zu appellieren, die in den Streitkräften tatsächlich vorhandenen Verbrüderungstendenzen zu stärken und den stalinistischen Befehlshabern die Einsatztruppen zu nehmen oder wenigstens zu paralysieren, richtete zum Beispiel das Zentrale Streikkomitee der Aufständischen im Kreise Bitterfeld ein Bittschreiben ausgerechnet an den obersten Vertreter des Kreml, den Hohen Kommissar Semjonow, er „möge doch alle Maßnahmen, die gegen die Arbeiterschaft gerichtet sind, wieder aufheben, damit wir Deutsche wirklich den Glauben in uns behalten können, dass Sie (Semjonow) der Vertreter einer Werktätigen-Regierung... sind.“

Kein Wunder, dass bei solchen Illusionen sich der stalinistische Apparat, obwohl er extrem geschwächt aus den Ereignissen hervorging, wieder fangen und stabilisieren konnte.

Gehen wir noch kurz weiter auf die politischen Forderungen und Vorstellungen der Arbeiter vom 17. Juni 1953 ein.

Die Vertreter der „Vermächtnislüge“ - wie Kohl und die SPD - weisen oft darauf hin, dass damals auch die Forderung nach der Einheit Deutschlands aufgestellt und damit heute, nach 1990, das Ziel des Aufstands erfüllt worden sei. Aber nirgendwo wurde von Arbeitern damals die Forderung aufgestellt oder unterstützt, die DDR der BRD anzuschließen, die Enteignungen rückgängig zu machen, Kapitalismus wieder einzuführen.

Natürlich kam es in dieser spontanen Massenerhebung auch zu nationalen Tönen. Sofern sie auch bei einigen Arbeitern Anklang fanden, das Deutschlandlied gesungen wurde usw., trägt dafür vor allem die SPD mit ihrem betont nationalistischen Programm die Verantwortung. Trotz ihrer schändlichen Vergangenheit von 1914, 1918 und 1933 hatte diese Partei auf Grund der Verbrechen des Stalinismus wieder an Einfluss gewonnen.

Aber die ganze Verwirrung in dieser Frage, die übrigens auch bei vielen Historikern zu bemerken ist, die darüber debattieren, ob der Aufstand eher als nationale Erhebung statt als sozialer Aufstand einzuschätzen sei - die Konfusion darüber wird geschaffen, indem diese Forderung nach Einheit völlig von ihrem realen Klasseninhalt losgelöst und damit mystifiziert wird.

Wenn Arbeiter damals die Einheit Deutschlands forderten, dann strebten sie nach Angleichung der Lebensverhältnisse, nach gleichen Löhnen, unbeschränkten Reise-, Organisations- und Bewegungsmöglichkeiten, nach gleichen Rechten und Freiheiten.

Ganz etwas anderes verband die Bourgeoisie mit dieser Forderung. Für sie bedeutete die Teilung Deutschlands nicht nur ein Instrument zur Spaltung, Unterdrückung und Kontrolle der Arbeiterklasse, das ihr nach dem Ende ihrer faschistischen Herrschaft aus Furcht vor einer proletarischen Revolution nicht unwillkommen war. Für sie bedeutete sie auch eine erhebliche Einschränkung der Entfaltungs- und Ausbeutungsmöglichkeiten des Kapitals, die ihr von den im Zweiten Weltkrieg siegreichen Rivalen aufgezwungen worden war, um ihren Wiederaufstieg zu bremsen und unter Kontrolle zu halten.

Die bürgerlichen Parteien und die SPD verbanden mit der Forderung nach der Einheit Deutschlands daher das Bestreben, diese Einschränkung und Bevormundung bei der nächsten besten Gelegenheit abzuschütteln: Freiheit und Einheit für das Kapital! Freie Bahn nach Osten für Banken, Konzerne, Immobilienspekulanten, Versicherungsgangster! Das waren ihre Ziele, welche sich direkt gegen die Arbeiterklasse richteten. Durch den Aufstand von 1953 sah die Bourgeoisie diese Ziele ernsthaft gefährdet. Der Sturz des Stalinismus von rechts zur Wiederherstellung des Privateigentums, das war, was sie wollte, nicht der Sturz der Bürokratie von links unter dem Druck revolutionärer Arbeiter. Deshalb war sie so erleichtert über das blutige Ende des 17. Juni.

Eine weitere Forderung des Aufstands, auf die von den „Vermächtnislügnern“ von der CSU, der SPD ebenso wie von der PDS gerne hingewiesen wird, ist die nach „freien Wahlen“, nach „Freiheit und Demokratie“. Und hier sind wir tatsächlich mit einer wichtigen politischen Schwäche der Arbeiterklasse konfrontiert. Die Arbeiter forderten mehr Mitspracherecht im Staat, in den Gewerkschaften, ganz allgemein mehr Demokratie. Aber sie waren unfähig zu unterscheiden zwischen bürgerlicher Demokratie und proletarischer Demokratie.

So richtete sich das Streikkomitee in Bitterfeld, anstatt selbst Arbeiterräte als Machtbasis einer revolutionären Arbeiterregierung zu bilden, an die stalinistische Führung in Ostberlin und forderte: „Sofortiger Rücktritt der sogenannten Deutschen Demokratischen Regierung, die sich durch Wahlmanöver an die Macht gebracht hat! Bildung einer provisorischen Regierung aus den fortschrittlichen Werktätigen! Zulassung sämtlicher großer demokratischer Parteien Westdeutschlands! Freie und geheime direkte Wahlen in spätestens vier Wochen!“

„Freie und geheime Wahlen“ aber sind bürgerlich-parlamentarische Wahlen - ein Mittel der Herrschaft der Bourgeoisie. Wirklich „freie Wahlen“ für Arbeiter, Arbeiterdemokratie, setzt die Kontrolle der Arbeiter mittels demokratisch gewählter und jederzeit abwählbarer Arbeiterräte über Produktion, Außenhandel, alle sozialen Bereiche und staatlichen Institutionen voraus. Das Ziel der Aufständischen war ihre Befreiung von wirtschaftlicher Ausbeutung in den Betrieben und von politischer Unterdrückung und Bevormundung in allen Bereichen der Gesellschaft. Doch wo und wie dieses Ziel zu finden und zu verwirklichen ist, darüber gab es bei ihnen keine Vorstellungen.

Die politische Schwäche des Aufstands

Die Ursache für die Orientierungslosigkeit, für das Fehlen eines klaren revolutionären Programms bei den aufständischen Arbeitern ist der Völkermord an den Marxisten, den die stalinistische Bürokratie bereits in den dreißiger Jahren in der Arbeiterbewegung organisiert hatte. Allein Trotzki und die Vierte Internationale hatten ein klares revolutionäres Programm für die Arbeiter in der Sowjetunion und allen anderen Ländern entwickelt, in denen sich die stalinistische Bürokratie auf verstaatlichte Eigentumsverhältnisse stützte.

„Sturz der Bürokratie in allen Bereichen des Staats und der Gesellschaft durch einen Aufstand des Proletariats! Wiederbelebung der Arbeiterdemokratie, gestützt auf wahre, gewählte Arbeiterräte! Angleichung der Löhne für alle Arten der Arbeit! Neugestaltung und Neuausrichtung der Planwirtschaft von oben bis unten unter Kontrolle und aktiver Beteiligung der Arbeitermassen!“ - Dies sind einige der zentralen Forderungen dieses Programms gewesen.

Doch nur wenige Trotzkisten hatten in Deutschland die Vernichtungsjagd der Stalinisten und der Faschisten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs überlebt. Kaum hatten diese ihre Arbeit wieder aufgenommen, um erneut eine marxistische Partei aufzubauen, schlug die stalinistische Bürokratie zu: 1948 wurde Oskar Hippe, ein führender Trotzkist, von der sowjetischen Militärpolizei in Halle verhaftet, in einem geheimen Prozess zusammen mit anderen Trotzkisten wie Leo Silberstein und Walter Haas verurteilt und für viele Jahre in Bautzen eingekerkert.

Das völlige Fehlen einer revolutionären trotzkistischen Führung in der Arbeiterklasse hat es der stalinistischen Bürokratie ermöglicht, den Aufstand zu überstehen und anschließend daranzugehen, ihre Herrschaft zu stabilisieren. Ein gigantischer Sicherheitsapparat wurde aufgebaut, um sie künftig vor den Arbeitern zu schützen. Direkt in den Betrieben wurde eine schwerbewaffnete Polizei, die sogenannten Betriebskampfgruppen aufgebaut. Der Stasi-Moloch wucherte von Jahr zu Jahr in allen Poren der Gesellschaft.

Auch die Sozial- und Wirtschaftspolitik wurde für die Ziele der Staatssicherheit eingesetzt. Normen- und Preiserhöhungen, die den letzten Anstoß für den Aufstand gegeben hatten, wurden zurückgenommen und Verbesserungen der Wohnungs- und Arbeitsbedingungen eingeleitet. Derartige wirtschaftlichen Zugeständnisse und sozialpolitischen Reformen für Arbeiter während der folgenden Jahrzehnte waren keine Maßnahmen zum „Aufbau des Sozialismus in der DDR“, sondern zur Festigung der bürokratischen Kontrolle über die Arbeiterklasse. Langfristig führte die Herrschaft der Stalinisten zwangsläufig zur Untergrabung und immer tieferen Entartung selbst ökonomischer Reformmaßnahmen wie der Verstaatlichungen und der Planwirtschaft.

Mit dem nationalistischen Wirtschaftsprogramm des Stalinismus, dem „Aufbau des Sozialismus in einem Land“, trieb die Bürokratie unter den Bedingungen einer fortschreitenden Globalisierung der Produktion in der kapitalistischen Weltwirtschaft die DDR immer tiefer in den wirtschaftlichen Bankrott. Und je mehr sie als Ergebnis davon neue Aufstände der Arbeiterklasse fürchten musste, desto engere Beziehungen knüpfte sie zum westdeutschen Imperialismus. 1989 schließlich, als sie trotz aller Stützungsversuche der westdeutschen Bourgeoisie ihre Macht nicht mehr länger halten konnten, ebneten die SED/PDS-Stalinisten den Weg für den Wiedereinzug des Kapitals im Osten.

1990 erfüllten Kohl, Modrow und de Maiziere nicht das Vermächtnis der aufständischen Arbeiter von 1953, sondern sie fuhren im Gegenteil die Ernte ihrer blutigen Niederwerfung für die Bourgeoisie ein. Wiederum leisteten die Stalinisten die entscheidende Arbeit. Es war die SED/PDS-Regierung unter Modrow, die mit dem Runden Tisch dafür sorgte, dass im Winter 1989/90 „Ruhe und Ordnung“ in den Betrieben aufrechterhalten und so die Gefahr eines neuen, in Ost und West von den Herrschenden gefürchteten 17. Juni vorläufig gebannt wurde.

Die Stalinisten, die den Arbeitern von 1953 stets vorgeworfen hatten, sie seien von Faschisten inspiriert und gelenkt worden, übergaben die Betriebe und alle Rechte der Arbeiter an dieselben Konzerne und Banken, die den Hitler-Faschismus aufgebaut und davon profitiert hatten. Modrow war es, der nach dem Vorbild von Hitlers Treuhandanstalt für die Verwaltung der eroberten Ostgebiete wieder eine Treuhandanstalt für denselben Zweck gegründet hat. „Schmach und Schande! Wo bleibt die Gerechtigkeit?“ rufen nun Modrow, die PDS und ihre erbärmlichen „Gerechtigkeitskomitees“ - aber nur, weil ihnen die Bourgeoisie so wenig gedankt und sie bei der Aufteilung der Beute und Posten so gründlich hintergangen hat.

Immerhin ist sich die Bourgeoisie im Grunde Modrows unschätzbarer Dienste sehr wohl bewusst und will auch für die Zukunft nicht ausschließen, auf sie noch einmal zurückzugreifen. Dies gab sie in dem Prozess in Dresden gegen ihn wegen „Fälschung der DDR-Wahlen“ deutlich zu verstehen, einem Verfahren, das dem Prozess gegen einen Bordellbetreiber wegen gefälschter Abrechnungen gleicht. Die Justiz ließ es bei einer Bewährungsstrafe bewenden, d.h. einem freundschaftlichen Klaps, es das nächste Mal nicht gar so plump anzustellen.

Es gibt keinen Zweifel: an den Händen von Modrow, Gysi, Bisky und der anderen PDS-Führer klebt das Blut der ermordeten Arbeiter vom 17. Juni! Sie tragen die Verantwortung dafür, dass der langersehnte Sturz des SED-Regimes nicht zur Befreiung der Arbeiterklasse führte, sondern in ihre Unterjochung durch den Kapitalismus, in die erneute akute Gefahr von Krieg und Faschismus mündete.

Historisch gesehen haben die DDR, ihre ganze Geschichte und insbesondere die Niederschlagung des Aufstands 1953 nichts anderes geleistet, als eine Periode der Reaktion zu verlängern, die bürgerliche Gesellschaft noch ein halbes Jahrhundert länger vor sich hin faulen zu lassen. Der Zusammenbruch der DDR wie der Sowjetunion hat nicht den Sozialismus diskreditiert, sondern seinen schlimmsten Feind, den Stalinismus. Mit ihm gingen nicht nur das Programm vom „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ zugrunde, sondern auch alle anderen nationalistischen Programme - wie das der Sozialdemokratie -, welche die Arbeiterklasse in diesem Jahrhundert an die Herrschaft des Imperialismus und sein Nationalstaatensystem ketteten.

Nur der bewusste Bruch mit diesen nationalistischen Programmen und die Hinwendung zum Programm des proletarischen Internationalismus öffnen einen Weg in die Zukunft. Die Arbeiter müssen ihre Kämpfe gegen den Kapitalismus international mit dem Ziel vereinen, die politische Macht zu erobern und die Gesellschaft weltweit sozialistisch umzugestalten. Dies ist das Vermächtnis des Aufstands vor 40 Jahren! Und nur wir, der Bund Sozialistischer Arbeiter, sind in der Lage dazu, es einzulösen: durch den Aufbau der Vierten Internationale als neuer revolutionärer Führung der Arbeiterklasse.

Wie Leo Trotzki sind wir im Kampf für diese Weltperspektive voller Zuversicht und Optimismus: „Das deutsche Proletariat wird sich wieder aufrichten, der Stalinismus -- niemals!“ (Leo Trotzki, „Die Tragödie des deutschen Proletariats“, in: Porträt des Nationalsozialismus, Mehring Verlag, Essen 1999; S. 299)

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