Klassen- und Rassenfrage in Amerika

Der Freispruch George Zimmermans, des „Nachbarschaftswächters“, der den siebzehnjährigenTrayvon Martin im Februar 2012 erschossen hatte, hat breite Empörung hervorgerufen. Die mutwillige Erschießung eines unbewaffneten jungen Afroamerikaners, der für seinen Angreifer keinerlei Gefahr darstellte, und die juristische Travestie des Freispruchs für seinen Angreifer sind zum Focus für eine breite Opposition gegen Ungerechtigkeit in der amerikanischen Gesellschaft geworden.

Martins tragischer Tod und der empörende Freispruch für Zimmerman können beide nur im Zusammenhang mit der politischen Reaktion verstanden werden. Seit Jahrzehnten kultiviert die herrschende Klasse gesellschaftliche Rückständigkeit, Militarismus und eine Atmosphäre von Selbstjustiz.

Schon nach Trayvon Martins Tod drehte sich die Reaktion der Medien, des politischen Establishments und der kleinbürgerlichen Pseudolinken, wie auch jetzt auf den Freispruch Zimmermans, ausschließlich um Fragen der Hautfarbe.

Die allgemeine Forderung lautet – wieder einmal: Wir brauchen eine „nationale Diskussion über Rassismus“. Das ist ein Ausweichen vor den tiefer liegenden sozialen, politischen und historischen Fragen, die der Fall Trayvon Martin aufwirft.

Ein typisches Beispiel ist ein Leitartikel der New York Times, in dem es heißt, bei dem Freispruch Zimmermans gehe es „zweifellos um Rassismus“. Weiter werden darin die Vereinigten Staaten als „ein Land, das ein Rassismusproblem hat“, bezeichnet. Hysterischere Variationen des gleichen Themas finden sich bei der International Socialist Organisation auf ihrer Web Site SocialistWorker.org und im Magazin Nation. Letzteres veröffentlichte einen Artikel („Weiße Überlegenheitsfanatiker sprechen Zimmerman frei“), in dem Zimmermans Verteidiger verurteilt werden, weil sie den „Sklavenbesitzer und Vergewaltiger Thomas Jefferson“ zitiert haben.

Spielt Rassismus eine Rolle in dem Fall Trayvon Martin, und spielt er eine Rolle in der amerikanischen Gesellschaft? Natürlich. Aber er kann nicht als Ding an sich verstanden werden, außerhalb seiner materiellen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und historischen Wurzeln in der Entwicklung des amerikanischen und Weltkapitalismus. Das würde nur verschleiern, dass die Ausbeutung der Arbeiterklasse die tiefer liegende Quelle der Unterdrückung von Arbeitern und Jugendlichen aller Hautfarben ist. Die eigentliche Triebkraft der Geschichte ist der Klassenkampf.

Mehr als vierzig Jahre sind seit der Bürgerrechtsbewegung ins Land gegangen, die im politischen Leben Amerikas eine ungeheure Rolle spielte. Damals war akzeptiert, dass Rassenfragen etwas mit Klassenfragen zu tun haben. Damals wurde weithin gesehen, dass die Lebensbedingungen von Afroamerikanern (Rassentrennung, Gewalt, Lynchmorde im Süden; Armut, Polizeibrutalität, Diskriminierung im Norden) ihre Wurzeln in der kapitalistischen Gesellschaft hatten, und dass der Rassismus ein besonders widerwärtiges Mittel war, mit dem die amerikanische herrschende Klasse die Arbeiterklasse spaltete.

In der großen Klassenbewegung für Industriegewerkschaften, die der Bürgerrechtsbewegung vorherging, war der Kampf gegen Rassismus und für die Einheit der Arbeiter aller Hautfarben und Nationalitäten eine zentrale Frage. Henry Ford versuchte Rassenkonflikte zu schüren, als er bei dem Streik der United Auto Workers 1941 afroamerikanische Arbeiter aus dem Süden als Streikbrecher herankarrte. Sein Plan ging hauptsächlich deswegen schief, weil sozialistisch gesinnte Autoarbeiter sich gegen jede Art von Rassismus wandten und dafür kämpften, die Arbeiter in einem gemeinsamen Kampf gegen die Terrorherrschaft der Bosse in den Betrieben zu vereinen.

Die Bürgerrechtsbewegung wurde in den folgenden Jahrzehnten immer mehr zum Teil des Klassenkampfs, so zum Beispiel bei mehreren militanten Streiks in den späten 1960er und den frühen 1970er Jahren. Es wurde immer klarer, dass der Kampf für Bürgerrechte nicht zu trennen war vom Kampf der Arbeiterklasse als Ganzer.

Die Bürgerrechtsbewegung kam immer stärker unter den Einfluss von Sozialisten. Konservativere Führer wehrten sich heftig gegen diese Entwicklung. Martin Luther King Jr. und andere hielten zwar an ihrem reformistischen Programm fest, aber sie waren von sozialistischen Gedanken beeinflusst und sahen die Befreiung der Afroamerikaner untrennbar mit dem Kampf für soziale und gesetzliche Gleichheit verbunden. Sie waren im Gegensatz zu Barack Obama keine Anhänger des „freien Unternehmertums“.

Als Reaktion auf die sozialen Unruhen der 1960er Jahre begann die amerikanische herrschende Klasse einen Teil der Führer der Bürgerrechtsbewegung und der afroamerikanischen Mittelklasse zu umschmeicheln und sie mittels der Demokratischen Partei und mit den Methoden des Affirmative Action und der Identitätspolitik in das System der wirtschaftlichen und politischen Macht zu integrieren. Gleichzeitig gab die Demokratische Partei die Politik der Sozialreform völlig auf.

Vier Jahrzehnte lang hat die herrschende Klasse mit diesen Methoden die Klassenfrage von der Rassenfrage getrennt. Das hat den Interessen des wohlhabenden afroamerikanischen Establishments genützt, aber die Auswirkungen auf die breiten Massen waren katastrophal. Die Lage der Mehrheit der Afroamerikaner ist heute schlimmer als vor vierzig Jahren.

Die Befürworter von Rassen- und Identitätspolitik sprechen für diese privilegierte kleinbürgerliche Schicht, die von den Affirmative Action Programmen profitieren.

Der Versuch, den Fall Trayvon Martin zur Begründung von Rassenpolitik zu nutzen, enthält ein starkes Element von Heuchelei und Eigeninteresse. Politische Scharlatane wie Al Sharpton, Führer der offiziellen Bürgerrechtsorganisationen, wohlhabende afroamerikanische Mediengrößen und Akademiker, schein-linke Gruppen wie die International Socialist Organisation, die alle an den Rockschößen der Demokratischen Partei hängen, haben ein direktes Interesse daran, dass die Identitätspolitik-Industrie weiterläuft.

Diese Gruppen haben kein Interesse daran, die tieferen sozialen und politischen Fragen des Falls Trayvon Martin anzusprechen. Obama hat ihrer aller Position treffend auf den Punkt gebracht, als er eine atemberaubend heuchlerische Erklärung auf die Website des Weißen Hauses stellen ließ, in der es heißt: „Wir sind ein Land des Gesetzes, und eine Jury hat gesprochen.“

Praktisch wurde niemals erwähnt, dass in dem “bewachten Wohngebiet” in Sanford, Florida, wo Trayvon Martin ermordet wurde, ein zwangsgeräumtes Haus neben dem anderen steht. In den pausenlosen Medienkommentaren über den Martin-Fall kommen Massenarbeitslosigkeit, Armut und die verheerenden Folgen von Lohnsenkungen und Sparpolitik der Regierung so gut wie nicht vor.

Statt einer “nationalen Diskussion über Rassismus” braucht es eine “nationale Diskussion” über die schrecklichen Bedingungen, die in den Vereinigten Staaten entstanden sind: Die industrielle Infrastruktur ist zusammengebrochen, eine räuberische Finanzaristokratie ist aufgestiegen, und die Gesellschaft ist brutalisiert und von Militarisierung und wachsender sozialer Ungleichheit geprägt.

Diese Bedingungen können nur überwunden werden, wenn sich die Arbeiterklasse auf der Grundlage eines revolutionären sozialistischen Programms zusammenschließt, das sich gegen das kapitalistische System und die Klassenausbeutung richtet, die seinen Kern ausmacht.

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