Zum Tode von Marcel Reich-Ranicki (2. Juni 1920 – 18. September 2013)

Ein Anwalt der Literatur

„Die Denker schätzte man hierzulande
vor allem dann, wenn sie dichteten
– und die Dichter, wenn sie nicht dachten.“ (1)

Mit dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki starb am 18. September eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des kulturellen Lebens in Deutschland. Er war mehr als der scharfzüngige, gefürchtete und umstrittene „Literaturpapst“, als den ihn die meisten Medien gewürdigt haben. Er liebte die deutsche Literatur und Musik, obwohl der größte Teil seiner Familie dem Holocaust zum Opfer fiel und er ihm nur knapp entrinnen konnte. Eine Haltung, alles Deutsche abzulehnen oder Deutschland pauschal für die Nazi-Verbrechen verantwortlich zu machen, hat er immer abgelehnt.

Auch schloss er sich nie den pessimistischen, alles Aufklärerische in Frage stellenden Auffassungen an, die Mitglieder der Frankfurter Schule wie Adorno oder Horkheimer vertraten. Für ihn war Literatur im wahrsten Sinne des Wortes lebenswichtig und diese Bedeutung wollte er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln einer breiten Öffentlichkeit vermitteln. Nicht zuletzt sah er darin seinen Beitrag, einem erneuten Rückfall in die Barbarei entgegen zu wirken.

Wohl zu jedem deutschen Autor, angefangen von den Klassikern bis zu den Schriftstellern und Lyrikern der jüngsten Gegenwart, hat er fundierte Urteile und Wertschätzungen hinterlassen, die noch lange nachwirken werden. Immer wieder hat er durch Neuausgaben und Anthologien versucht, auf Halbvergessenes oder seiner Meinung nach nicht mehr oder nicht genügend Beachtetes zu verweisen und es einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Seine Rezensionen und Aufsätze sind alles andere als trockene Zergliederei der Literatur. Sie sind in einer verständlichen und bildreichen Sprache verfasst und, auch wenn man mit ihm nicht übereinstimmt, kurzweilig zu lesen. „Viele Autoren und Kritiker hegen ein Misstrauen gegen unterhaltsame Literatur. Ich sage stattdessen: Literatur darf nicht nur unterhaltsam sein, sie muss es sogar!“ (Focus 2010)

An diese Maxime hielt er sich auch in seinen eigenen Schriften, wobei „unterhaltsam“ für ihn nicht etwa mit „oberflächlich“ gleichzusetzen war. Vielmehr war er der Auffassung, dass nur Durchdachtes, in dem Form und Inhalt in einer stimmigen Weise verbunden war, auch unterhaltsam sein konnte.

Er erzählt die Geschichte seines von den großen Widersprüchen des 20. Jahrhunderts geprägten Lebens in seiner 1999 erschienenen Autobiografie Mein Leben, (2) die in wenigen Jahren eine Auflage von 1,5 Millionen Exemplaren erreichte und auch jetzt nach seinem Tode erneut großen Absatz findet. Das Buch ist mehr als eine Biographie, es ist selbst ein Stück Literatur und hat vielen Lesern erstmals die grauenvollen Verhältnisse des Warschauer Ghettos nahegebracht.

Marcel Reich wurde am 2. Juni 1920 im polnischen Wloclawek an der Weichsel geboren. Sein Vater besaß eine kleine Baustoff-Fabrik. Nach deren Konkurs schickte ihn seine Mutter, die aus einer deutsch-jüdischen Familie stammte und die deutsche Kultur und Literatur liebte, nach Berlin. Dort sollte er ein deutsches Gymnasium besuchen, um größere berufliche Chancen zu haben.

Seiner jüdischen Abstammung wegen wurde er durch die Nationalsozialisten von gemeinschaftlichen Aktivitäten der Schule wie Ausflügen oder dem Sportunterricht ausgeschlossen. In seiner zunehmenden Isolation flüchtete er sich in die Lektüre. Er konnte zwar 1938 noch Abitur machen, wurde aber anschließend wie alle Juden nicht zum Studium zugelassen. Während seiner Arbeit als Lehrling in einer Exportfirma versuchte er, so oft es ging an Theater-, Oper- oder Konzertkarten zu kommen, bevor er im Oktober 1938 verhaftet und nach Polen ausgewiesen wurde. In dieser Zeit waren Literatur und Musik seine Zuflucht und seine besondere Vorliebe für bestimmte deutsche Autoren bildete sich heraus.

Im Nachwort zu Der Fall Heine schreibt er über diese Zeit: „Als ich die großen deutschen Dichter zum erstenmal las – es ist lange her, es war in meiner Berliner Schulzeit, in den dreißiger Jahren – da tat ich es freiwillig und sehr gern. … Ich bewunderte die drei großen Dramen Lessings, die mich allerdings etwas kalt ließen. Ich liebte Schiller… Ich bewunderte Goethe… Hölderlin war mir fremd, aber ich verneigte mich vor ihm bebend vor Ehrfurcht. Ich litt mit Kleist und war in ihn vernarrt… Büchner hatte mich aufgeschreckt und hingerissen, Grabbe nur irritiert, Hebbel nur interessiert, Gottfried Keller belustigt und ergötzt, Storm berührt, Fontane berückt und entzückt, der junge Hofmannsthal beglückt. Aber keiner stand mir näher als Heinrich Heine. Mit ihm konnte ich mich bisweilen sogar identifizieren.“ (3)

Im Warschauer Ghetto

Nach seiner Deportation nach Warschau musste er die polnische Sprache neu lernen. Vor allem nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen war es aussichtslos, Arbeit zu finden. Im November 1940 wurde die gesamte Familie zur Umsiedlung ins Ghetto gezwungen. Dort wurde er vom Ältestenrat, dem sogenannten Judenrat, als Übersetzer beschäftigt. Gleichzeitig verfasste er Konzertrezensionen und half bei der Veranstaltung von Konzerten.

Als die Deportationen begannen, heiratete er seine Freundin Teofila (Tosia) Langnas, deren Vater vor Verzweiflung Selbstmord begangen hatte. Dadurch konnte er sie vor dem Transport in die Vernichtungslager retten, denn die Ehefrauen der Beschäftigten des Judenrats durften zunächst im Ghetto bleiben. Seine Schwiegermutter, seine Eltern und sein Bruder wurden abtransportiert und in Treblinka ermordet. Seine Schwester konnte bereits 1939 mit ihrem Mann nach London fliehen.

Gemeinsam schafften es Tosia und Marcel, auf dem Weg zum Versammlungsplatz aus dem Ghetto zu fliehen. Versteckt wurden sie von der sehr armen Familie des arbeitslosen Schriftsetzers Bolek Gawin und seiner Ehefrau Genia, die sich und ihre „Gäste“ nur mühsam durch den Verkauf selbstgedrehter Zigaretten ernähren konnten. An den langen oft wegen Stromausfalls dunklen Abenden begann Reich Bolek und seiner Frau klassische Dramen und Romane nachzuerzählen und damit deren Ängste und Zweifel zu besiegen. Auf diese Weise schafften sie es bis September 1944, nach der deutschen Niederschlagung des Warschauer Aufstands und der Besetzung des rechten Weichselufers durch die Rote Armee, zu überleben.

Nach dem Krieg stellte sich Marcel Reich aus Dankbarkeit für seine Befreiung zunächst der polnischen kommunistischen Regierung zur Verfügung und arbeitete für den auswärtigen Dienst und den Auslandsnachrichtendienst (MRP) in Berlin und später in Großbritannien, wo er auch Informationen über die Aktivitäten der dort residierenden polnischen Exilregierung beschaffte. 1948 wurde er Vizekonsul an der Botschaft in London. Er arbeitete damals unter dem Namen Marceli Ranicki, da sein Namen Reich zu sehr an die in Polen verhassten Deutschen erinnerte.

1950 wurde er von Geheimdienst und Außenministerium entlassen und wegen „ideologischer Entfremdung“ aus der stalinistischen Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei ausgeschlossen. Wie viele andere Opfer der damaligen stalinistischen „Säuberungskampagne“ gegen „wurzellose Kosmopoliten“ und „zionistische Spione“ wanderte er ins Gefängnis.

Nach seiner Entlassung wandte er sich wieder der Literatur zu und arbeitete als freier Schriftsteller und Lektor für deutsche Literatur in einem Warschauer Verlag. Aber die polnischen Behörden erteilten ihm zeitweise ein Publikationsverbot. 1955 erschien in Warschau ein Buch von ihm mit dem Titel: Aus der der Geschichte der deutschen Literatur 1871 bis 1954. 1956 konnte er nach Berlin reisen und besuchte u. a. die Schriftsteller Arnold Zweig und Stefan Hermlin. Als aber Heinrich Böll als erster deutscher Schriftseller nach dem Krieg Polen besuchte und Reich-Ranicki und seine Frau sich um ihn kümmerten, fanden sich nur wenige polnische Schriftsteller bereit, an einem Empfang mit Böll teilzunehmen.

Trotz der allgemeinen antideutschen Stimmung in Polen, die von der stalinistischen Bürokratie verbreitet und gefördert wurde, und obwohl seine Familie bis auf seine Schwester von Deutschen ins Gas geschickt wurde, ist Marcel Reich-Ranicki nie Anhänger der Kollektivschuldthese gewesen, sondern hat sich immer als Vermittler und Anwalt der deutschen Kultur verstanden.

1957, so schreibt er in seiner Autobiografie, wurde das Klima in Polen insbesondere für Juden „unheimlich“. Vor allem die Intellektuellen gerieten immer mehr unter den Druck der Parteibürokratie, die Ressentiments gegen sie schürte. So fragte er sich, was er in diesem Land, in dem er zwar geboren, aber in das er nicht freiwillig zurückgekehrt war, noch zu suchen hätte. Als seine eigentliche „Heimat“ begriff er zunehmend die Literatur, vor allem die deutsche.

Am 21. Juli 1958 nutzte Reich-Ranicki eine Studienfahrt in die Bundesrepublik Deutschland und blieb in Frankfurt am Main. Seine Frau war zuvor mit dem Sohn Andrzej nach London in Urlaub gefahren, um die Ausreise der gesamten Familie zu erleichtern. Ab August 1958 konnte er als Literaturkritiker für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) arbeiten. Damals nahm er den Doppelnamen Reich-Ranicki an. Er stürzte sich sofort in die Arbeit. In einem kleinen, spärlich möblierten Zimmer schrieb er in den ersten sechs Monaten seines Aufenthalts in der Bundesrepublik 38 Aufsätze für Zeitungen und Rundfunksender und begründete seine spätere Karriere.

Der konservative Leiter der Literaturredaktion der FAZ, Friedrich Sieburg, setzte schon bald Reich-Ranickis Ausscheiden aus deren Redaktion durch. Ende 1959 zog er mit seiner Frau nach Hamburg, wo er als Kritiker für die Zeit arbeitete, aber nie offiziell in die Redaktion aufgenommen wurde. Er selbst deutete dies als Auswirkung eines unterschwellig vorhandenen Antisemitismus. Erst 1973 kehrte er zur FAZ zurück, deren Literaturredaktion er bis 1988 leitete.

Erstmals DDR-Literatur im Westen

Die im Adenauer-Deutschland geschürten antikommunistischen Stimmungen des Kalten Kriegs spielten damals eine große Rolle. Dass in der DDR, die in Westdeutschland damals nicht so genannt werden durfte, auch bemerkenswerte Literatur, Poesie und Prosa geschrieben wurde, wurde im Westen nicht wahrgenommen. In dieser Atmosphäre war es ein großes Verdienst Marcel Reich-Ranickis, dass er DDR-Autoren wie Arnold Zweig, Anna Seghers und viele andere im Westen bekannt machte und westliche Leser dazu anregte, sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Besonders junge Leser griffen damals neugierig zu dem 1960 von ihm herausgegebenen Bändchen Auch dort erzählt Deutschland, zu Deutsche Literatur in West und Ost (1963) oder zum Band Zur Literatur der DDR von 1974. Bemerkenswert war, dass er die DDR-Autoren unabhängig von ihrer ideologischen Haltung vor allem nach der literarischen Qualität ihrer Prosa oder Poesie beurteilte.

Im Juni 1974 begann Marcel Reich-Ranicki ein in der Zeitungsgeschichte bemerkenswertes Unternehmen: Er ließ in jeder Samstagsausgabe der FAZ Gedichte aus sämtlichen Epochen deutscher Lyrik abdrucken und von einem namhaften Interpreten erläutern. Die Bände der Frankfurter Anthologie fassen die Gedichte und Interpretationen jeweils eines Jahrgangs zusammen. Inzwischen liegen annähernd 2.000 Gedichte vor. Er hat damit eine literarische Gattung, die meist ein Schattendasein führt, ans Licht geholt und ihr neue Aufmerksamkeit verschafft.

Verdienstvoll waren auch Reich-Ranickis Bemühungen, dem deutschen Publikum Autoren bekannt zu machen, die in der Nazizeit emigrieren mussten und in der Nachkriegszeit weder Leser noch Verlage fanden. 1968 gab er den Band Die Ungeliebten. Sieben Emigranten heraus. Ein anderes Buch mit dem Titel Über Ruhestörer widmete er einem ihm sehr wichtigen Thema: Juden in der deutschen Literatur. Ihm ging es darum, die Rolle der Autoren jüdischer Herkunft darin aufzuhellen und aufzuklären, wie er in der Vorbemerkung schreibt, war doch die jüdische Herkunft dieser Schriftseller vor allem von Antisemiten hervorgehoben und bösartig verunglimpft worden. Er wollte dagegen auf die Besonderheit dieser Autoren – zu denen er selbst gehörte – hinweisen und auf ihre große Bedeutung für die Kultur in Deutschland. (4)

In seiner Autobiographie schildert er, dass die erste Person, die „aufrichtig und ernsthaft wünschte“, über seine Erfahrungen im Warschauer Ghetto informiert zu werden, eine junge Journalistin des Norddeutschen Rundfunks war: Ulrike Meinhof. Sie stellte ihm die Frage: Wie konnte das geschehen? (5)

Schon kurz nach seiner Ankunft in Deutschland wurde Reich-Ranicki als Kritiker zu den Treffen der damals für die zeitgenössische Literatur maßgeblichen Gruppe 47 eingeladen, auf denen Schriftsteller – die meisten von ihnen mussten die Erfahrungen der Nazizeit und des Krieges verarbeiten – aus ihren neuen Werken vorlasen und sich der Kritik sowohl der Kollegen als auch der eingeladenen Kritiker stellten. Er begleitete diese Gruppe, in der sich so unterschiedliche Autoren wie Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger, Günther Eich, Heinrich Böll, Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger und Günter Grass zusammengefunden hatten, bis zu deren Auflösung. Sein Lob wie sein Tadel trafen sie nie persönlich, sondern immer ging es um das jeweilige Werk. Oft kritisierte er eines oder Teile von ihm scharf, obwohl er das vorhergehende hoch gelobt hatte.

Die Gruppe 47 spielte in den 1960er Jahren eine wichtige Rolle. Sie wurde, weil viele ihrer Mitglieder – keineswegs alle – eine eher gesellschaftskritische, linke Einstellung hatten und teilweise der Sozialdemokratie zuneigten, von der CDU/CSU nahestehenden Kreisen heftig angefeindet und als „Reichsschrifttumskammer“ beschimpft.

Das Ende der Gruppe 47 fiel zusammen mit der Radikalisierung der studentischen Jugend Ende der 1960er Jahre. Reich-Ranicki begrüßte zwar die Aufbruchsstimmung und die „längst fällige Auseinandersetzung mit dem ‚Dritten Reich‘“. Mit großem Misstrauen beobachtete er jedoch die „Rolle der Schriftsteller in diesem Aufruhr“. Besonders beunruhigte ihn, dass viele sich einer politischen Richtung anschlossen, „deren Verhältnis zu Kunst und Literatur geringschätzig war. Jetzt sollten Schriftsteller nicht mehr im Namen des Individuums sprechen und das Individuum gegen jene Institutionen verteidigen, die es für ihre Zwecke gebrauchten und missbrauchten. Vielmehr sollte die Literatur das Individuum vor allem politisch mobilisieren. Sie hatte als Werkzeug der Ideologen zu dienen, sie hatte zur angestrebten Weltveränderung beizutragen. Die dies am lautesten forderten, waren paradoxerweise gerade jene, die an der Autonomie der Literatur am meisten interessiert sein sollten: eben die Schriftsteller.“ (6)

Hier spielt er auf „rein politische“ Literatur an, auf Richtungen der 1960er Jahre, die sich am sozialistischen Realismus oder Agitprop orientierten. Reich-Ranicki hat immer erklärt, dass Literatur von jeher das Leiden der Menschen in und an der Gesellschaft zum Inhalt hatte. Gerade in seinen ersten Jahren in der Bundesrepublik hob er immer wieder hervor, dass die Literatur sich mit der Gegenwart beschäftigen müsse und meinte dies durchaus als Gesellschaftskritik. „Um 1968, als jeder von Gesellschaft und Gesellschaftskritik sprach und der bare Unsinn in Sachen Literatur postuliert wurde, konnte ich nur sagen: Das habe ich nicht gewollt.“ (7)

Reich Ranicki wollte also keineswegs einem Kult des Individuums in der Literatur das Wort reden. In einer Kritik zum Briefwechsel Hermann Hesses mit Peter Suhrkamp schreibt er: „Wenn ich das Wort Seele höre, wittere ich allemal Schmus.“ (8)

Literaturkritik als Aufklärung

Marcel Reich-Ranicki konnte oft scharf und witzig kritisieren. Nicht umsonst konnte er eine Sammlung seiner Kritiken mit dem Titel Lauter Verrisse herausgeben, die sich sehr gut verkaufte.

Diesem Band stellte er einen Essay voran, in dem er sich ausführlich mit der Geschichte, der Bedeutung und den Aufgaben der Literaturkritik auseinandersetzt. Anknüpfend an die Aufklärer des 18. Jahrhunderts legt er dar und belegt mit den Klassikern der Literaturkritik wie Gotthold Ephraim Lessing, dem Romantiker Friedrich Schlegel oder Theodor Fontane, weshalb die Negation eine notwendige Aufgabe der Kritik sein müsse. Sie bedeute, die Literatur ernst zu nehmen und sie ernst zu behandeln.

Er grenzt sich ab von der „deutsch-spießbürgerlichen Abkehr vom öffentlichen Leben“ nach der gescheiterten Revolution von 1848 und dem „Kultus des Gefühls“. „Wo man die Dämmerung und das Geheimnisvolle mehr liebt als die Klarheit und das Nüchterne, wo man der Beschwörung mehr traut als der Analyse, wo man die Denker vor allem schätzt, wenn sie dichten, und die Dichter, wenn sie nicht denken, und wo man andererseits eine hartnäckige Schwäche für das Abstruse und Konfuse, für das Tiefsinnige oder richtiger gesagt, für das Scheinbar-Tiefsinnige hat, da freilich kann kein Platz für die Kritik sein. Da muss sie als etwas Lästiges und Anstößiges erscheinen.“ (9)

Für Reich-Ranicki existierte kein Gegensatz zwischen der aufklärerischen Wirkung der Literatur oder Dichtung und ihrem poetischen Gehalt. Dichten und Denken, beides war für ihn sowohl in der Lyrik als auch in der Prosa unverzichtbar. Er wurde nicht müde, von den Autoren und ihren Werken beides zu fordern. Daher liebte er auch Heinrich Heine so sehr. Ein Gräuel waren ihm moralische oder politische Traktate, die vorgaben, Erzählungen oder Romane zu sein.

In den Verrissen finden sich heftige Verurteilungen von Werken, deren Autoren er im Grunde überaus schätzte. So bedauerte er immer wieder die Kapitulation von Anna Seghers vor den Forderungen des stalinistischen Kulturbürokratie. Ihren Roman Das Vertrauen besprach er unter der Überschrift Der Bankrott einer Erzählerin. (10)

Ein missratenes Stück von Peter Weiss

Auch wenn es nicht möglich ist, alle Verrisse hier ausführlich zu behandeln, sei noch auf einen verwiesen. Zu den Autoren, deren Verdienste er an anderer Stelle gewürdigt hatte, gehört Peter Weiss, dessen Theaterstück Trotzki im Exil er rezensiert. Er hatte es sich im Düsseldorfer Schauspielhaus in einer gewöhnliche Aufführung angeschaut und beginnt mit dem Satz: „Was sich hier abspielte, kommt mir widerwärtig und obszön vor.“ Er beschreibt dann zunächst die im Publikum sitzenden „typischen Vertreter“ der reichen bürgerlichen Gesellschaft, „offenbar wohlhabende Düsseldorfer, die natürlich nichts weniger wünschen als die kommunistische Herrschaft an Rhein und Ruhr“, die scheinbar gleichgültig auf den Inhalt des Stücks reagieren.

Das Stück markiert die Reaktion von Peter Weiss, der an den Sozialismus und die Reformierbarkeit der Sowjetherrschaft glaubte, auf den Einmarsch der Roten Armee 1968 in Prag und seine Abwendung von den Methoden des Stalinismus. So lässt er Trotzki in dem Stück sagen: „Was geschehen ist, beweist nicht die Falschheit des Sozialismus, sondern die Gebrechlichkeit, die Unerfahrenheit in unseren revolutionären Handlungen.“ (11)

Reich-Ranicki begrüßt zwar die neue kritische Haltung Weiss‘ gegenüber dem Stalinismus, aber an seinem Stück lässt er kein gutes Haar: „Da indes dem Trotzki im Exil kaum mehr als die zwar für Peter Weiss neue, doch nicht eben originelle Einsicht in das Wesen des Stalinismus zu entnehmen ist und da dieses Stück vor allem aus Leitartikeln zusammengesetzt scheint, fragt es sich, ob es nicht praktischer und vernünftiger gewesen wäre, gleich einen Artikel zu schreiben. Wozu der umständliche und anspruchsvolle Weg über die Bühne, wozu die vielen Schauspieler, Kostüme und Requisiten, wenn doch nicht mehr dabei herauskommt?“ (12)

Er kritisiert dann im Verlauf des Artikels, dass „der Zuschauer, der die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion nicht kennt, sich rasch in einem Chaos ihm ganz oder teilweise unverständlicher Äußerungen, Anspielungen und Vorfälle“ verliert. „Derjenige Zuschauer hingegen, der die Schriften Lenins und Trotzkis gelesen hat und dem Namen wie Radek, Plechanow oder Bucharin (sie treten alle hier auf) viel bedeuten, ist entsetzt über die Oberflächlichkeit des Autors Weiss und seine zumindest ärgerliche Fahrlässigkeit.“ (13)

Im Folgenden weist er darauf hin, dass der Stückeschreiber absurderweise in diesem Stück den Richtlinien des sozialistischen Realismus Genüge getan habe. Am meisten habe ihn an dessen Dramatik „eine Nebenfigur dieses Bilderbogens“, Stalin, erinnert. „War er dort leibhaftiger Gott, allmächtig und prächtig anzusehen, so ist er hier ein lächerlicher Popanz, wenn nicht gar ein Kretin. Die Methode bleibt sich also gleich, nur die Vorzeichen sind ausgewechselt.“ (14) Eine derartige Auseinandersetzung mit dem Kommunismus mache jede ernste Diskussion unmöglich und füge dem politischen Theater Schaden zu.

Reich-Ranicki zufolge hätte Trotzki eine ganz andere Darstellung verdient: „Noch schlimmer und noch ärgerlicher: Trotzki, einer der geistreichsten politischen Schriftsteller des Jahrhundert, dem es eine Zeitlang gelungen war, eine Synthese von philosophischer Idee und revolutionärer Tat zu verwirklichen, dessen hochdramatisches und abenteuerliches Leben einer – ich glaube nicht zu übertreiben – einzigartigen Parabel gleicht, diesen Mann degradiert Weiss zu einem ledernen, langweiligen Phrasendrescher, der oft noch den Eindruck eines bornierten und dümmlichen Funktionärs macht.“ (15)

Später fügte er den Verrissen einen Band Lauter Lobreden hinzu, in dem er seine positiven Besprechungen zusammenstellte, der sich aber nicht so großer Beliebtheit erfreute wie die Verrisse. In den Lobreden fasste er nicht nur Aufsätze anlässlich von Preisverleihungen an lebende Autoren, sondern auch solche zu Gedenktagen Verstorbener zusammen. Darunter ragt besonders seine Würdigung von Richarda Huch hervor, einer der wenigen großen Schriftstellerinnen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die kaum noch gelesen wird, obwohl sie Thomas Mann als „‘Herrscherin im Bereich des Bewussten’, als eine große Intellektuelle“ gefeiert hatte. (16)

Thomas Mann und Heinrich Heine als Maßstab

Reich-Ranickis Auffassung von Literatur war alles andere als elitär oder abgehoben. Dennoch stellte er hohe Ansprüche. Basis und Maßstab waren ihm Autoren wie Thomas Mann, Franz Kafka, Heinrich Heine, Theodor Fontane und die seit seiner Jugend geliebten deutschen Klassiker.

Im Anschluss an die oben zitierte Stellen aus dem Heine-Buch schreibt er: „Wenn ich mir überlege, ob es denn einen anderen Autor gebe, der mir so nahe stehen würde wie Heine und von dem ich sagen könnte, er habe mir in den schwierigsten Situationen meines Lebens geholfen, er habe mich geändert – dann kommt mir nur ein einziger in den Sinn: Thomas Mann.“ In seiner Autobiographie bekennt er, dass „Thomas Mann mich beeindruckt und beeinflusst, vielleicht sogar geprägt hat wie kein anderer deutscher Schriftsteller“. (17) Ihm und seiner Familie hat er den Band Thomas Mann und die Seinen gewidmet.

In der Tat erinnert Vieles in Reich-Ranickis Schriften an die Bissigkeit und Schärfe, mit denen Heine seine schriftstellerischen Zeitgenossen beurteilte, und an die enzyklopädische Belesenheit und Präzision der Darstellung von Thomas Mann, auch wenn sein Stil in der Regel viel schlichter ist.

Denn auch wenn er polarisierte und bei allem, was er für verurteilenswert befand, kein Blatt vor den Mund nahm, begriff er sich immer als Anwalt der Literatur, als Vermittler und Freund vor allem der Leser aber auch der Autoren, denn seine Kritik war begründet, beruhte auf großem Wissen und war brillant formuliert. Die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, deren literarisches Talent er in Frage gestellt hatte, gestand ihm zu, er formuliere seine Vernichtungen so witzig, dass selbst sie zum Genuss würden.

Martin Walser, der nach einer heftigen Fehde mit ihm den Roman Der Tod eines Kritiker geschrieben hatte, dessen Titelfigur Reich-Ranicki verkörpern sollte, schrieb jetzt in der Zeit einen seiner Bedeutung würdigenden Nachruf: „Er hätte sich auf seine Schlagfertigkeit verlassen können, aber schob seinen Erkenntnisblitzen gern noch Überlegtes nach. Zwar konnte er alles pointiert sagen, aber dann verlangte er von sich auch noch den Beweisgang. Dafür stand ihm jedes Bildungsgut zur Verfügung.”

Die scharfe Auseinandersetzung zwischen Reich-Ranicki und Walser ging auf dessen Frankfurter Rede von 1998 zurück, in der er erklärt hatte, Auschwitz eigne sich nicht dafür, „Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung“. Nicht nur Reich-Ranicki hatte ihn so verstanden, dass er einen „Schlussstrich“ hinter die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit setzen wolle, was Walser bis heute bestreitet.

Reich-Ranicki behandelt diese Debatte in dem Kapitel „Ende der Schonzeit“ (18) in Mein Leben. Darin geht es um den Historikerstreit, der 1986 ausgebrochen war, nachdem die FAZ eine Rede des Historikers Ernst Nolte veröffentlicht hatte, die den Massenmord an Juden mit anderen Massenmorden der Geschichte, vor allem in der Sowjetunion, relativierte und die Verbrechen der Nationalsozialisten als Notwehr gegen den Bolschewismus rechtfertigte. Das freundschaftliche Verhältnis Reich-Ranickis zum Chefradakteuer der FAZ, Joachim Fest, war damit beendet. Sie sprachen jahrelang nicht mehr miteinander.

Seine Funktion als Anwalt der Literatur und sein Bedürfnis, diese einem großen Publikum nahezubringen, brachte Reich-Ranicki dazu, auch ein Medium zu nutzen, dem er durchaus kritisch gegenüber stand: Das Fernsehen. In seiner ZdF-Sendung Das literarische Quartett, in der er zusammen mit Helmut Karasek und Sigrid Löffler (später Iris Radisch) Neuerscheinungen oft äußerst kontrovers diskutierte, machte er die Werke nicht nur bekannt und Leser neugierig darauf, sich selbst ein Urteil zu bilden. Durch seine lebendige, geradezu bühnenreife Darstellungskunst vermittelte er gleichzeitig einer breiten Öffentlichkeit, dass Literatur nicht nur „bildet“, sondern höchst unterhaltsam sein kann. Als ihm aber der Fernsehpreis verliehen werden sollte, war er so abgestoßen von der abgeschmackten oberflächlichen Unterhaltung, die diese Veranstaltung und das Programm der Fernsehsender mehr und mehr dominiert, dass er ihn rundheraus ablehnte.

All dies hat Reich-Ranicki zu einer Persönlichkeit gemacht, mit der die herrschenden Kreise in Politik und Medien sich zu schmücken und ihre moralische Integrität zu stärken versuchten. Nicht zuletzt deshalb durfte er 2012 die Rede zum Holocaust-Gedenktag im Bundestag halten. Zu einem Zeitpunkt, an dem deutsche Soldaten wieder an internationalen Kriegseinsätzen teilnehmen und demokratische Rechte unter Beschuss stehen, sollte sein Auftritt beweisen, dass dieser Staat ein ganz anderer ist als der, der ihn verfolgt und seine Eltern in die Gaskammern geschickt hatte.

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Anmerkungen:

1) Marcel Reich-Ranicki: Der Fall Heine, München 2006, S. 14

2) Ders.: Mein Leben, Stuttgart 1999

3) Ders.: Der Fall Heine, S. 110f

4) Ders.: Über Ruhestörer. Juden in der deutschen Literatur, Stuttgart 1989, S. 9

5) Ders.: Mein Leben, S. 459f

6) Ebd. S. 462f

7) Betrifft Literatur. Über Marcel Reich-Ranicki, Stuttgart 1990, S. 177

8) Marcel Reich Ranicki: Nachprüfungen, München 1990, S.137

9) Marcel Reich-Ranicki, Lauter Verrisse, Stuttgart 1984, S. 29

10) Ebd. S. 46-49

11) Ebd. S. 98f

12) Ebd. S. 99

13) Ebd. S. 100

14) Ebd. S. 101

15) Ebd. S. 100

16) Ders.: Lauter Lobreden, Stuttgart 1985, S. 26

17) Ders.: Mein Leben, S. 507

18) Ebd. S. 540-551

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