Georg Büchner (1813-1837)

Ein zeitgemäßes Jubiläum

Georg Büchner - Revolutionär mit Feder und Skalpell, Ausstellung vom 13.10.2013 bis 16.02.2014. Darmstadtium, Schlossgraben 1, 64283 Darmstadt. Gleichnamiger Katalog, Verlag Hatje Cantz, 612 S., 58,– €

"Ein Kopf merkwürdiger Frühreife,
ein Freidenker in politischen Dingen,
wie keiner sonst von allen, die im damaligen
Deutschland politisch hervorgetreten sind."
Franz Mehring, 1897

Im vergangenen Jahr gab es zahlreiche Jubiläen, die an einen zweihundertjährigen Geburtstag erinnerten. Das Jahr 1813 war das Geburtsjahr der Komponisten Richard Wagner und Giuseppe Verdi. Es war das Jahr der Völkerschlacht bei Leipzig, in der die Armee Napoleons geschlagen wurde. Aber es war auch das Geburtsjahr des revolutionären Dichters und Naturwissenschaftlers Georg Büchner. An ihn erinnert zurzeit in Darmstadt eine große und sehenswerte Ausstellung.

Von dem jung verstorbenen Genie sind nur ein schmales Werk, wenig Biographisches und außer einer Haarlocke keine Devotionalien überliefert. Sein dichterisches Werk umfasst keine dreihundert Seiten. Dennoch hat die Ausstellung großes Publikumsinteresse geweckt und wurde in der Presse vielfach besprochen, was sicherlich nicht nur ihrer interessanten Konzeption und der vielseitigen Auswahl des Gezeigten zu verdanken ist. Hauptsächlich zeigt es die große Bedeutung, die diesem Dichter zukommt, der doch nur 23 Jahre alt wurde.

Angesichts der mageren Quellenlage beschränkten sich die Kuratoren keineswegs darauf, Handschriften und Druckeditionen zu zeigen. Sie vermitteln in der Ausstellung vielmehr ein lebendiges Bild sowohl der faszinierenden, vielseitigen Persönlichkeit Georg Büchners, als auch der Zeit des politisch gesellschaftlichen Umbruchs, in der er lebte. All ihre wissenschaftlichen, politischen und kulturellen Facetten werden dargestellt, wie auch die Menschen und die Literatur, die den jungen Autor beeinflussten. Seine Persönlichkeit und seine unmittelbare Umgebung werden anschaulich illustriert: durch einen Seziertisch, medizinische Präparate, eine zeitgemäße Druckmaschine, eine Guillotine, zahlreiche Gemälde, politische Karikaturen, erotische Darstellungen und Vieles mehr.

Portrait Georg Büchners von Philipp August Joseph Hoffmann, 1833. Das Portrait wurde erst vor kurzem wieder entdeckt.

Wer sich die Zeit nimmt, die umfangreiche Ausstellung in Darmstadt anzuschauen, für den wird nicht nur die damalige vorrevolutionäre Zeit zum Leben erweckt, sondern er wird auch begreifen, weshalb Georg Büchner, dem nur wenige Jahre produktiver Arbeit vergönnt waren, die Menschen im neunzehnten wie im zwanzigsten Jahrhundert immer wieder begeistern konnte. Seine Werke sind in der Tat auch heute noch höchst aktuell.

Büchner wird mitten in die reaktionäre Periode der deutschen Restauration geboren. In der Zeit nach der Völkerschlacht 1813 und der endgültigen Niederlage Napoleons ist Deutschland noch immer in unzählige kleine Staaten und Fürstentümer zersplittert. Die feudale Herrschaft kann sich erneut in all ihrer Rückständigkeit etablieren. Freigeister und Intellektuelle werden verfolgt und wie die „Göttinger Sieben“ ihrer Ämter enthoben. Die durch die Herrschaft Napoleons eingeführten bürgerlichen Rechte und Gesetze werden beseitigt. Die konservative, biedermeierliche Kleinstaaterei stützt sich auf Unterdrückung, Polizeiwillkür und Pressezensur. Die arme Landbevölkerung hungert und friert, während die reichen Bürger und der Adel ihre Privilegien genießen.

Aber die Zeit ist eine höchst politische; die dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhundert sind Jahre revolutionärer Gärung. Die Ideen der französischen Revolution von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ergreifen breite Schichten der Bevölkerung.

Dabei wenden sich die Privilegierten und Wohlhabenden nach den Jahren der Schreckensherrschaft und den Napoleonischen Kriegen wieder reaktionären Ideologien zu. Die deutsche Freiheitsbewegung wird immer stärker von chauvinistischem Franzosenhass, der Sehnsucht nach dem Mittelalter und der Wiederauferstehung von Kaiser Barbarossa geprägt, die Heinrich Heine in seinem Wintermärchen aufs Korn nimmt.

Die Familie Büchner

Am 17. Oktober 1813 wirdKarl Georg Büchner in Goddelau im damaligen Großherzogtum Hessen-Darmstadt als Sohn des Amtschirurgen Ernst Büchner und seiner Frau Caroline, geb. Reuß, geboren. 1816 siedelt die Familie in die Residenzstadt Darmstadt über. Georg ist der Älteste von sechs Geschwistern.

Der Vater, Mediziner, ist naturwissenschaftlich gebildet, Atheist und Anhänger Napoleons, was ihn im Kreise der Darmstädter Honoratioren nicht übermäßig beliebt macht. Er verhält sich jedoch dem Darmstädter Duodezfürsten Ludwig gegenüber loyal und wird in seinem Amt hoch geachtet. Die Mutter ist literarisch interessiert und religiös. Bei ihrer Straßburger Verwandtschaft ist Büchner während seiner Studienzeit häufig zu Gast.

Bis auf seine Schwester Mathilde, die sich sozialen Tätigkeiten widmet, treten alle Geschwister Büchners auch schriftstellerisch hervor. Die Schwester Louise wird Schriftstellerin und ist in der frühen Frauenbewegung aktiv. In ihrem Romanfragment Ein Dichter schildert sie zahlreiche Begebenheiten aus dem Leben ihres Bruders Georg.

Bruder Ludwig wird Arzt und Naturwissenschaftler und nimmt an der Revolution 1848 teil. Als Anhänger Darwins und (Vulgär-)Materialist veröffentlicht er das vielbeachtete Buch Kraft und Stoff. Wegen seines offen vertretenen Materialismus wird er später seine Professur in Tübingen verlieren und seinen Lebensunterhalt als Arzt in Darmstadt verdienen. 1850 besorgt Ludwig die erste Werkausgabe der nachgelassenen Schriften seines Bruders Georg Büchner.

Bruder Wilhelm, Pharmazeut und Chemiker, wird als Fabrikant einer Farbenfabrik als einziger der Familie zu größerem Wohlstand gelangen. Er ist auch politisch interessiert und wird als hessischer Landtags- und Reichstagsabgeordneter etliche Schriften veröffentlichen. Der jüngste Bruder Alexander wird sein Leben als deutsch-französischer Schriftsteller in Frankreich verbringen, nachdem ihm die Zulassung als Jurist am Landgericht wegen staatsfeindlicher Gesinnung entzogen wird.

Schon während der Schulzeit im Großherzoglichen Gymnasium wird Georg Büchners erzählerische Begabung offensichtlich. So schreibt er zum Geburtstag des Vaters eine Erzählung über die wunderbare Rettung Schiffbrüchiger und hält eine Rede zur Verteidigung des Cäsar-Gegners Catos von Utica. Auch gründet er mit Freunden einen literarischen Zirkel. Sie begeistern sich vor allem für Shakespeare, lesen aber auch philosophische Texte, zum Beispiel von Voltaire und Rousseau.

1831 immatrikuliert sich Georg an der Medizinischen Fakultät der Académie in Straßburg. Er wohnt bei dem Pfarrer Johann Jakob Jaeglé, mit dessen Tochter Wilhelmine (Minna) er sich später verlobt.

Frankreich

Büchner, der schon als Jugendlicher unter den beengten Verhältnissen im hessischen Duodezfürstentum gelitten hat, fühlt sich in der offeneren und freiheitlicheren Atmosphäre Frankreichs wohl, was ihn nicht davon abhält, die neue französische Verfassung heftig zu kritisieren: Sie stelle auf dem Gebiet der sozialen Gleichheit keinerlei Fortschritt dar und erlaube nur reichen Bürgern die Wahl ins Parlament. „Das Ganze ist doch eine Komödie. Der König und die Kammern regieren, und das Volk klatscht und bezahlt."

Er besucht Veranstaltungen der Studentenverbindung Eugenia, nimmt an Demonstrationen und politischen Debatten teil. Zur Illustration der politisch-gesellschaftlichen Situation im damaligen Frankreich zeigt die Darmstädter Ausstellung etliche Karikaturen des Meisters der politischen Satire, Honoré Daumier. Sie treffen ebenso auf die Zustände im Großherzogtum Hessen zu.

„Gargantua“, von Honoré Daumier. Die Karikatur stellt König Louis-Philippe I als unersättliches Monstrum dar.

In der Folge der Juliereignisse von 1830 in Paris, der belgischen Revolution von 1830/31 und der polnischen Aufstandsbewegung breitet sich auch unter deutschen Intellektuellen und Studenten eine zunehmend revolutionäre Stimmung aus. Das Hambacher Fest im Mai/Juni 1832 ist der Höhepunkt der oppositionellen bürgerlichen Vormärz-Bewegung gegen die Restauration. Die Teilnehmer des Marschs auf das Hambacher Schloss in der Pfalz fordern nationale Einheit, Freiheit und Demokratie.

Im April 1833 kommt es in Frankfurt am Main zum sogenannten „Wachensturm“. Etwa fünfzig Aufständische versuchen, die Hauptwache und die Konstablerwache zu stürmen, um dadurch eine allgemeine Revolution in Deutschland auszulösen, was aber gründlich misslingt.

Am 5. April 1833 schreibt Büchner anlässlich der Frankfurter Ereignisse aus Straßburg an seine Eltern:

„Meine Meinung ist die: Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es Gewalt. Wir wissen, was wir von unseren Fürsten zu erwarten haben. Alles, was sie bewilligen, wurde ihnen durch die Notwendigkeit abgezwungen. Und selbst das Bewilligte wurde uns hingeworfen wie eine erbettelte Gnade und ein elendes Kinderspielzeug, um dem ewigen Maulaffen Volk seine eng geschnürte Wickelschnur vergessen zu machen. (…) Man wirft unseren jungen Leuten Gewalt vor. Sind wir denn aber nicht in einem ewigen Gewaltzustand? Weil wir im Kerker geboren und großgezogen sind, merken wir nicht mehr, dass wir im Loch stecken mit angeschmiedeten Händen und Füßen und einem Knebel im Munde. Was nennt Ihr denn gesetzlichen Zustand? Ein Gesetz, das die große Masse der Staatsbürger zum fronenden Vieh macht, um die unnatürlichen Bedürfnisse einer unbedeutenden und verdorbenen Minderzahl zu befriedigen? Und dies Gesetz, unterstützt durch eine rohe Militärgewalt und durch die die dumme Pfiffigkeit seiner Agenten, dies Gesetz ist eine ewige rohe Gewalt, angetan mit dem Recht und der gesunden Vernunft, und ich werde mit Mund und Hand dagegen kämpfen, wo ich kann.“ (1)

Er distanziert sich zwar von den Frankfurter Kämpfern, weil er „im gegenwärtigen Zeitpunkt jede revolutionäre Bewegung als eine vergebliche Unternehmung“ betrachtet. Er schreibt, er teile „nicht die Verblendung derer (…), welche in den Deutschen ein zum Kampf für sein Recht bereites Volk sehen“. Ob Letzteres seine wirkliche Überzeugung ist, oder ob es vor allem zur Beruhigung der Eltern beitragen soll, sei dahingestellt. Zumindest mischt er sich sehr bald in die Ereignisse ein.

Aus Straßburg schreibt er im Juni 1833 an die Familie: „(…) Ich werde zwar meinen Grundsätzen gemäß handeln, habe aber in neuerer Zeit gelernt, dass nur das notwendige Bedürfnis der großen Masse Umänderungen herbeiführen kann, dass alles Bewegen und Schreien der Einzelnen vergebliches Torenwerk ist. Sie schreiben, man liest sie nicht; sie schreien, man hört sie nicht; sie handeln, man hilft ihnen nicht. – Ihr könnt voraussehen, dass ich mich in die Gießner Winkelpolitik und revolutionären Kinderstreiche nicht einlassen werde.“ (2)

Frankfurter „Wachensturm“, zeitgemäße Darstellung des gescheiterten Aufstands vom 3. April 1833.

Mit „Winkelpolitik“ und „revolutionären Kinderstreichen“ hat er vermutlich die in Gießen aktiven studentischen Burschenschaften im Sinn, deren Franzosenhass, Deutschtümelei und Rückwärtsgewandtheit sicher nicht in seinem Sinne waren.

Im gleichen Jahr wechselt Büchner an die Medizinische Fakultät der Großherzoglich-Hessischen Landesuniversität Gießen, um ein in seiner Heimat anerkanntes Examen machen zu können. Hier macht er die Bekanntschaft des Theologiekandidaten August Becker, wegen seines roten Haarschopfs „der rote Becker“ genannt. Durch ihn lernt er auch den Rektor und Theologen in Butzbach, Friedrich Ludwig Weidig, kennen, den führenden Kopf der oppositionellen Bewegung in Hessen und Initiator des gescheiterten Aufstandsversuchs in Frankfurt.

Mit diesen Menschen empört sich Büchner über die katastrophale Lage der armen Landbevölkerung im Großherzogtum, und nun beschäftigt er sich intensiv mit der Geschichte der Französischen Revolution. Er nimmt an der Gründungsversammlung eines konspirativen „Preßvereins“ teil.

Portrait Georg Büchners von Philipp August Joseph Hoffmann, 1833. Das Portrait wurde erst vor kurzem wieder entdeckt.

Oberhessen gehörte damals zu den ärmsten und rückständigsten Gebieten Deutschlands. Die Kleinbauern mit ihren nur wenige Hektar großen Höfen konnten kaum überleben. Durch die Bauernbefreiung von 1811 hatte sich ihre Lage keineswegs gebessert, denn während sie früher Naturalien an den Grundherrn abgeben oder Hand- und Spanndienste leisten mussten, mussten sie diese jetzt in Geld ablösen. Dadurch verschuldeten sich viele so stark, dass sie ihre Höfe aufgeben mussten, um als Tagelöhner ihr Dasein zu fristen oder nach Amerika auszuwandern.

Nach der Aufhebung der von Napoleon verhängten Kontinentalsperre drängten zudem englische Garne und Tuche auf den Markt, so dass auch der Nebenerwerb durch Spinnen und Weben keinen Ausgleich mehr schaffen konnte. Auch die preußischen Zollgesetze, die den Warenverkehr in frühere Absatzgebiete verhinderten, trugen zum Niedergang dieser Nebengewerbe bei. Reiche Bauern und Grundbesitzer privatisierten die Allmende, das im Allgemeinbesitz befindliche Land, und die Wälder. Damit wurde den Armen das Weiden ihres Viehs oder das Holzsammeln verboten oder stark eingeschränkt. Außerdem drückten immer höhere Steuerlasten. So kam es zu Nahrungskrisen, Hungerrevolten und ersten Aufständen der Landbevölkerung.

Im Jahr 1830 rebellierten aufständische Bauern. Rund zweitausend verarmte Bauern und mittellose Landarbeiter, Mägde und Knechte aus dem Gebiet des Vogelsberg marschierten mit Dreschflegeln, Mistgabeln, Sensen und Knüppeln über Büdingen in die Wetterau, plünderten adelige Güter, brannten deren Anwesen sowie Zollhäuser, Ämter und Polizeistationen nieder, vernichteten Akten und Grundbücher. Die Bewegung wurde mit äußerster Brutalität niedergeschlagen.

„Friede den Hütten - Krieg den Palästen“

In Gießen gründet Georg Büchner zusammen mit seinem Kampfgefährten August Becker und einigen anderen die geheime revolutionäre „Gesellschaft für Menschenrechte“. Er entwirft die politische Flugschrift Der Hessische Landbote.

Darin begnügt er sich keineswegs mit bloßer Agitation, sondern belegt seine Anklagen mit höchst anschaulichen Statistiken. Genaue Zahlen und Fakten belegen die schreiende soziale Ungleichheit, die Verschwendung und den Luxus des Hofes, der herrschenden Kreise, ihres Heeres und ihres Beamten- und Justizapparats auf Kosten der armen Landbevölkerung. Büchner rechnet vor, dass die 700.000 Einwohner jährlich über sechs Millionen Gulden aufbringen müssen, während sie selbst hungern. Die Flugschrift ist in weiten Passagen in höchst nüchternem und sachlichem Ton gehalten, umso drastischer wirken seine Anklagen.

„Die Justiz ist in Deutschland seit Jahrhunderten die Hure der deutschen Fürsten. Jeden Schritt zu ihr müsst ihr mit Silber pflastern, und mit Armut und Erniedrigung erkauft ihr ihre Sprüche. (…). Ihr dürft euern Nachbarn verklagen, der euch eine Kartoffel stiehlt; aber klagt einmal über den Diebstahl, der von Staats wegen unter dem Namen von Abgabe und Steuern jeden Tag an eurem Eigentum begangen wird, damit eine Legion unnützer Beamten sich von eurem Schweiße mästen; klagt einmal, dass ihr der Willkür einiger Fettwänste überlassen seid, und dass diese Willkür Gesetz heißt; klagt, dass ihr die Ackergäule des Staates seid; klagt über eure verlornen Menschenrechte: Wo sind die Gerichtshöfe, die eure Klage annehmen, wo die Richter, die Recht sprächen? – Die Ketten eurer Vogelsberger Mitbürger, die man nach Rockenburg schleppte, werden euch Antwort geben.“ (3)

Der Hessische Landbote, Politische Flugschrift von 1834, Titelseite

Büchner hat aber keineswegs nur die Verhältnisse im Großherzogtum und die Lage der ländlichen Armut im Auge. Er schildert in wenigen Absätzen die historische Lage in Europa, angefangen von der Französischen Revolution, als „das Volk in Frankreich müde [war], länger die Schindmähre seines Königs zu sein“, und die Menschrechte erklärte:

„Keiner erbt vor dem andern mit der Geburt ein Recht oder einen Titel, keiner erwirbt mit dem Eigentum ein Recht vor dem andern. Die höchste Gewalt ist in dem Willen aller oder der Mehrzahl. Dieser Wille ist das Gesetz, er tut sich kund durch die Landstände oder die Vertreter des Volks, sie werden von allen gewählt, und jeder kann gewählt werden; diese Gewählten sprechen den Willen ihrer Wähler aus, und so entspricht der Wille der Mehrzahl unter ihnen dem Willen der Mehrzahl unter dem Volke.“

Der König habe auf die Verfassung geschworen „ er wurde aber meineidig an dem Volke, und das Volk richtete ihn, wie es einem Verräter geziemt. Dann schafften die Franzosen die erbliche Königswürde ab und wählten frei eine neue Obrigkeit, wozu jedes Volk nach der Vernunft und der Heiligen Schrift das Recht hat.“

Nach dem Sieg der Revolution über die Interventionsarmeen der europäischen Fürsten und Könige wuchs die „junge Freiheit (…) im Blut der Tyrannen, und vor ihrer Stimme bebten die Throne und jauchzten die Völker. Aber die Franzosen verkauften selbst ihre junge Freiheit für den Ruhm, den ihnen Napoleon darbot, und erhoben ihn auf den Kaiserthron.“

Nach der Niederlage Napoleons, als die „dickwanstigen Bourbonen“ wieder herrschten, kam es 1830 wieder zur Erhebung des Volkes, und „als tapfere Männer im Julius 1830 den meineidigen König Karl den Zehnten aus dem Lande jagten, da wendete dennoch das befreite Frankreich sich abermals zur halberblichen Königsherrschaft und band sich in dem Heuchler Louis Philipp eine neue Zuchtrute auf.“

Dann schildert Büchner, wie die deutschen Fürsten – auch der hessische Großherzog – aus Angst, ihre Macht gänzlich zu verlieren, bereit waren, Verfassungen zu erlassen.

„Das Volk traute ihnen leider und legte sich zur Ruhe. – Und so ward Deutschland betrogen wie Frankreich. Denn was sind diese Verfassungen in Deutschland? Nichts als leeres Stroh, woraus die Fürsten die Körner für sich herausgeklopft haben.“

Er beschreibt den Betrug der Wahlgesetze, „wonach keiner gewählt werden kann, der nicht hochbegütert ist, wie rechtschaffen und gutgesinnt er auch sei“. (4)

Durch Vermittlung des Butzbacher Theologen Friedrich Ludwig Weidig wird die Schrift geheim in Offenbach gedruckt und von den Mitverschwörern verbreitet. Weidig hat sie allerdings vorher überarbeitet und ihr nicht nur einen etwas christlicheren Anstrich verpasst, sondern sie auch in weiten Teilen in seinem Sinne umgemodelt und auf ein Bündnis mit den bürgerlichen Liberalen und burschenschaftlichen Intellektuellen ausgerichtet. Sein politisches Ideal ist eine Wiedergeburt des mittelalterlichen Wahlkaisertums.

Büchner hingegen, der vermutlich von den ersten proletarischen Streiks in Frankreich und den Aufständen der Lyoner Textilarbeiter 1832 gehört hat, hat heftige Auseinandersetzungen mit Weidig über die politische Ausrichtung der Bewegung. Büchner lehnt ein Bündnis mit den reichen Bürgern ab, weil er weiß, dass eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft nur von den armen Massen ausgehen kann. In Hessen, wo eine kapitalistische Industrie erst in den allerersten Anfängen steckt, muss dies in seinen Augen die arme Landbevölkerung sein.

Ihm geht es darum, die armen und verelendeten Massen für einen politischen Umsturz zu gewinnen. So distanziert er sich nachträglich in Gesprächen und Briefen an seine Freunde heftig von Weidigs Änderungen. Besonders wütend ist er darüber, dass Weidig den Ausdruck die „Reichen“ durch die „Vornehmen“ ersetzte. Zwar ist Büchners Originalmanuskript nicht erhalten geblieben, aber aus seinen Äußerungen und auch aus den Gerichtsakten geht seine Position eindeutig hervor. Ihm ist klar, dass es nicht nur um Veränderung der politische n Strukturen geht, sondern um eine soziale Revolution, um die Verwirklichung sozialer Gleichheit. (5)

Zahlreiche Exemplare des Landboten werden von den Behörden beschlagnahmt. Karl Minnigerode, ein Schulfreund Büchners, fällt mit 150 Exemplaren der Druckschrift durch Verrat eines Mitverschwörers der Polizei in die Hände und wird verhaftet. Auch gegen Büchner wird Haftbefehl erlassen. Nach einer Hausdurchsuchung bei ihm wird er von dem Universitätsrichter Georgi verhört. Allerdings wird der Haftbefehl gegen ihn aus taktischen Gründen zunächst nicht vollzogen, wohl weil man erst das gesamte Ausmaß der Verschwörung aufklären will. Aber Büchner ist klar, dass er von nun an unter Beobachtung steht und bespitzelt wird.

Die Darmstädter Ausstellung zeigt in Karten die Verbreitung der Flugschrift. Sie hat trotz Polizeiterror und Beschlagnahmungen relativ weite Teile Hessens erreicht. Aber nur wenige Empfänger der Schrift wagen es, sie weiterzureichen. Viele geben die Schrift, gelesen oder ungelesen, bei der Obrigkeit ab. Die gewaltsame Niederschlagung der Revolte von 1830 hat ihre Spuren hinterlassen. Zu einem Aufstand kommt es nicht. Weil eine Arbeiterklasse noch kaum vorhanden ist, sind weder in Hessen, noch im übrigen Deutschland die Bedingungen reif für eine soziale Revolution und die Enteignung der „Reichen“.

Um weiterer politischer Verfolgung zu entgehen, kehrt Büchner Gießen den Rücken und geht zunächst ins Elternhaus nach Darmstadt zurück. Dort gibt er seine revolutionären Aktivitäten aber keineswegs auf, sondern gründet eine Darmstädter Sektion der Geheimgesellschaft. In diesen Wochen sorgt er sich um seine verhafteten Freunde und Mitverschwörer.

Dantons Tod

Die Revolution ist wie Saturn, sie frisst ihre eigenen Kinder.“
(1. Akt, 5. Szene)

Kurz vor seiner Flucht nach Straßburg schreibt Büchner im Januar 1835 in Darmstadt in nur fünf Wochen sein erstes Drama „Danton's Tod“.

Der Stoff dieses Dramas hat seine Gedanken offenbar seit langem beherrscht. Nachdem sein eigener Versuch, eine revolutionäre Bewegung ins Leben zu rufen, gescheitert ist, wählt Büchner als Thema die Französische Revolution, und zwar gerade die Phase kurz vor dem Sieg des Thermidors.

Dieses Stück wird heute im Unterricht oder anlässlich von Aufführungen immer wieder als Beweis für Büchners vollständige Resignation und Abkehr von der Revolution angeführt. Es wird als Antirevolutionsdrama interpretiert und entsprechend aufgeführt. Aber dies ist zu einseitig.

Zweifellos verarbeitet Büchner in diesem Drama auch seine eigenen gescheiterten revolutionären Erfahrungen. Er ist überzeugt, „dass nichts zu tun ist, und dass jeder, der im Augenblick sich opfert, seine Haut wie ein Narr zu Markte trägt“, wie er in einem Brief an seinen Bruder Wilhelm 1835 darlegt. Büchner leidet, aber er sucht gleichzeitig die äußeren Ursachen der Niederlage zu ergründen: Ihm geht es darum, nicht nur das Scheitern eines Revolutionärs zu verstehen, sondern zu begreifen, warum die Revolution gescheitert ist. Schon in einem Brief an seine Braut vom März 1834 hat er geschrieben:

„Ich studiere die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem grässlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich. Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte mich zu bücken. Ich gewöhnte mein Auge ans Blut. Aber ich bin kein Guillotinenmesser. Das muss ist eins von den Verdammungsworten, womit der Mensch getauft worden. Der Ausspruch: es muss ja Ärgernis kommen, aber wehe dem, durch den es kommt, – ist schauderhaft. Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt? Ich mag dem Gedanken nicht weiter nachgehen.“ (6)

Die Sätze „Es muss ja Ärgernis kommen, aber wehe dem, durch den es kommt, – ist schauderhaft. Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?“ kehren fast wörtlich in seinem Drama wieder. Sie geben Dantons resignativer Stimmung anlässlich der Aussichtslosigkeit der Schreckensherrschaft Ausdruck. Er selbst, Danton, hat den Auftakt dazu gegeben, als er zur Verteidigung der Revolution 1792 den Sturm auf die Tuilerien und die Verhaftung des Königs anführte.

Guillotine (zeitgenössische Darstellung)

Es greift zu kurz, Dantons Revolutionsmüdigkeit zum Kernpunkt des Dramas und zur alleinigen Aussage des Autors zu machen. Büchner hat die Geschichte gründlich studiert und zahlreiche Quellen zu Rate gezogen. Er geht gleichsam mit wissenschaftlicher Präzision gegen seine Depression und seine Skepsis in die Zukunft vor. Er sucht nach den „Umständen, die außer uns liegen“ (Brief an die Familie, Februar 1834).

In gewisser Hinsicht nimmt Büchner in seiner dramatischen Bearbeitung der Französischen Revolution eine materialistische Geschichtsauffassung des Klassenkampfs vorweg. Darin unterscheidet er sich von den utopischen Sozialisten des Saint-Simonismus, die er in seinen Briefen eher mit wohlwollendem Spott bedenkt, auch wenn er ihren Grundsatz der materiellen Gleichheit aller Menschen teilt.

Noch weniger vertraut er auf die Einsicht und Bereitschaft der Besitzenden, friedlich auf ihren Reichtum und ihre Privilegien zu verzichten. Abstrakte Ideale sind nicht sein Ding. Ihm ist klar, dass es um materielle Interessen geht.

Sehr bewusst siedelt er die Handlung seines Dramas gerade in einer Phase der Revolution an, in der deutlich wird, dass sie die Erwartungen der Schicht, die vor allem für ihre Ideale gekämpft haben, nicht erfüllen kann. Diese Schicht ist der vierte Stand: Er hat für die Revolution gekämpft und die größten Opfer gebracht.

Büchner ist vollkommen klar, dass eine Revolution nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie eine Gesellschaft hervorbringt, die die Bedürfnisse des einfachen Volks und der Ärmsten der Armen befriedigen kann. Er weiß, dass die Französische Revolution dies noch nicht erreichen konnte und daher gescheitert ist. In einer Volksszene zu Beginn seines Dramas kommen die Stimmung der Betrogenen und ihr Zorn auf die Profiteure der Revolution deutlich zum Ausdruck:

„Sie haben uns gesagt: schlagt die Aristokraten tot, das sind Wölfe! Wir haben die Aristokraten an die Laternen gehängt. Sie haben gesagt: das Veto [Der König] frisst euer Brot; wir haben das Veto totgeschlagen. Sie haben gesagt: die Girondisten hungern euch aus; wir haben die Girondisten guillotiniert. Aber sie haben die Toten ausgezogen, und wir laufen wie zuvor auf nackten Beinen und frieren. Wir wollen ihnen die Haut von den Schenkeln ziehen und uns Hosen daraus machen, wir wollen ihnen das Fett auslassen und unsere Suppen mit schmelzen. Fort! Totgeschlagen, wer kein Loch im Rock hat!“ (1. Akt, 2. Szene)

Büchners Danton ist widersprüchlich. Einerseits gibt er in seiner Verteidigungsrede vor dem Revolutionstribunal wörtlich die großartige Verteidigungsrede des historischen echten Revolutionärs wider, der sich durch die Erinnerung an seine entscheidende Rolle rechtfertigt und seinen Gegnern ein anderes politisches Programm zur Stabilisierung der Revolution und der Republik entgegenhält. Andererseits verkörpert er im gesamten Drama mit seinem Fatalismus und seinem Epikuräertum, seiner Hoffnungslosigkeit und Tatenlosigkeit das Scheitern der Revolution. Büchners Danton weiß von Anfang an, dass sein Schicksal besiegelt ist. Seinen Freunden, die ihn zum Widerstand auffordern, entgegnet er: „ich bin eine Reliquie, und Reliquien wirft man auf die Gasse“.

Ihm gegenüber steht Robespierre, der verzweifelt versucht, dieses Scheitern durch einen Strom von Blut aufzuhalten. In einer zentralen Szene antwortet er auf Dantons Einwand: „Wo die Notwehr aufhört, fängt der Mord an; ich sehe keinen Grund, der uns länger zum Töten zwänge“, mit dem Satz: „Die soziale Revolution ist noch nicht fertig; wer eine Revolution zur Hälfte vollendet, gräbt sich selbst sein Grab. Die gute Gesellschaft ist noch nicht tot, die gesunde Volkskraft muss sich an die Stelle dieser nach allen Richtungen abgekitzelten Klasse setzen.“ (1. Akt, 6. Szene) Aber auch er kann dem Volk kein Brot geben. Büchners Danton zeigt Robespierre als einen abstrakte Phrasen dreschenden Ideologen.

Das Ziel des historischen Danton, die Stabilisierung der Revolution, findet real statt. Die reiche städtische Bourgeoisie kann ihre ökonomische und letztlich ihre politische Macht auf Kosten des Kleinbürgertums und des Proletariats festigen. Dantons Vision von der Republik, die die Gegensätze versöhnen könnte, lässt sich nicht verwirklichen. Sein Tod besiegelt in Büchners Drama die Unmöglichkeit des Klassenkompromisses, wie der Literaturwissenschaftler Hans Mayer bemerkt. (7)

Büchner macht klar, dass beide Protagonisten, Danton so gut wie Robespierre, scheitern mussten. Das ist das Thema seines Dramas und die Tragik der Geschichte der Französischen Revolution, die ihm durch seine eigenen Erfahrungen bestätigt wurde. Büchner zeigt die Enttäuschung und Erbitterung der Massen, aber er zeigt auch, dass sie keinen Ausweg wissen. Er ist noch nicht in der Lage, die gesellschaftliche Gesetzmäßigkeit hinter diesem Scheitern zu begreifen. Er sieht schon die Klassengegensätze zwischen der gerade zur Macht gelangten Bourgeoisie und dem entstehenden Proletariat, aber er kann noch keine Lösung des Konflikts erkennen.

Büchner lässt St. Just vor dem Nationalkonvent die Worte sprechen:

„Die Natur folgt ruhig und unwiderstehlich ihren Gesetzen; der Mensch wird vernichtet, wo er mit ihnen in Konflikt kommt. Eine Änderung in den Bestandteilen der Luft, ein Auflodern des tellurischen Feuers, ein Schwanken in dem Gleichgewicht einer Wassermasse und eine Seuche, ein vulkanischer Ausbruch, eine Überschwemmung begraben Tausende. Was ist das Resultat? Eine unbedeutende, im großen Ganzen kaum bemerkbare Veränderung der physischen Natur, die fast spurlos vorübergegangen sein würde, wenn nicht Leichen auf ihrem Wege lägen.

Ich frage nun: soll die geistige Natur in ihren Revolutionen mehr Rücksicht nehmen als die physische? Soll eine Idee nicht ebensogut wie ein Gesetz der Physik vernichten dürfen, was sich ihr widersetzt? Soll überhaupt ein Ereignis, was die ganze Gestaltung der moralischen Natur, das heißt der Menschheit, umändert, nicht durch Blut gehen dürfen? Der Weltgeist bedient sich in der geistigen Sphäre unserer Arme ebenso, wie er in der physischen Vulkane und Wasserfluten gebraucht. Was liegt daran, ob sie an einer Seuche oder an der Revolution sterben?“ (2. Akt. 7. Szene)

Danton muss geopfert werde, weil er sich dem Fortgang der Revolution widersetzt, Aber auch St. Just und Robespierre scheitern. Büchner ahnt, dass die Gründe für ihr Scheitern wie für sein eigenes als Revolutionär außerhalb ihres Wollens liegen. Er sucht sie in der menschlichen Natur und dem Gang der Natur überhaupt. Dem „Fatalismus der Geschichte“, ihrem „ehernen Gesetz“, wie er es im Brief an die Braut ausdrückte, kann er ebenso wenig entrinnen wie seine Helden. Ihm scheint, dass jeder Versuch, die sozialen Verhältnisse zu ändern, an der menschlichen Natur scheitern und im Sieg der Geldaristokratie enden müsse. Hier wird, wie Mayer schreibt, das „historisch Begrenzte seiner Sicht auf die Geschichte deutlich“ (8)

Die Flucht

Büchner sendet das Manuskript an den Verleger Sauerländer in Frankfurt am Main. Auf Empfehlung des Vormärzliteraten und Verlagsmitarbeiters Karl Gutzkow wird das Drama angenommen, allerdings der Zensur wegen ziemlich stark überarbeitet. Auf diese Weise wird das Drama, präventiv zensiert und einigermaßen politisch entschärft, in der Zeitschrift Phönix abgedruckt. Später erscheint es als selbständiger Text unter dem Titel “Dramatische Bilder aus Frankreichs Schreckensherrschaft“, ein Titel, den Büchner„abgeschmackt“ findet.

Was die Änderungen Gutzkows betrifft, schreibt Büchner am 28. Juli 1835 an die Familie:

„Über mein Drama muss ich einige Worte sagen: erst muss ich bemerken, dass die Erlaubnis, einige Änderungen machen zu dürfen, allzusehr benutzt worden ist. Fast auf jeder Seite weggelassen, zugesetzt, und fast immer auf die dem Ganzen nachteiligste Weise. Manchmal ist der Sinn ganz entstellt oder ganz und gar weg, und fast platter Unsinn steht an der Stelle.“

Nicht weniger als 111 Änderungen Gutzkows hat er registriert. Der Zensur zuliebe hat Gutzkow nicht nur Büchners politische, sondern auch und vor allem die erotischen Ausdrücke und Anspielungen ausgemerzt oder abgeschwächt. Der Autor ist berechtigterweise empört, hat er doch zu Sexualität und Erotik ein für seine Zeit höchst unverkrampftes Verhältnis. Er wollte „der Geschichte treu bleiben und die Männer der Revolution geben (…), wie sie waren, blutig, liederlich, energisch und zynisch. Ich betrachte mein Drama wie ein geschichtliches Gemälde, dass seinem Original gleichen muss“.

Im gleichen Brief schreibt er:

„(…) der Dramatische Dichter ist in meinen Augen nichts, als ein Geschichtsschreiber. (…) Seine höchste Aufgabe ist, der Geschichte, wie sie sich wirklich begeben, so nahe als möglich zu kommen. Sein Buch darf weder sittlicher noch unsittlicher sein, als die Geschichte selbst; aber die Geschichte ist vom lieben Herrgott nicht zu einer Lektüre für junge Frauenzimmer geschaffen worden, und da ist es mir auch nicht übel zu nehmen, wenn mein Drama ebensowenig dazu geeignet ist. Ich kann doch aus meinem Danton und den Banditen der Revolution nicht Tugendhelden machen! (…) Der Dichter ist kein Lehrer der Moral, er erfindet und schafft Gestalten, er macht vergangene Zeiten wieder aufleben, und die Leute mögen dann daraus lernen, so gut, wie aus dem Studium der Geschichte und der Beobachtung dessen, was im menschlichen Leben um sie herum vorgeht. Wenn man so wollte, dürfte man keine Geschichte studieren, weil sehr viele unmoralische Dinge darin erzählt werden, müsste mit verbundenen Augen über die Gasse gehen, weil man sonst Unanständigkeiten sehen könnte, und müsste über einen Gott Zeter schreien, der eine Welt erschaffen, worauf so viele Liederlichkeiten vorfallen.“ (9)

Da sich die Schlinge um ihn enger zieht und Verhaftung droht, muss Büchner aus Darmstadt nach Straßburg fliehen, wo er sich erneut an der Hochschule einschreibt. In Darmstädter und Frankfurter Zeitungen erscheint inzwischen ein Steckbrief Büchners.

Was ihn erwartet hätte, wäre er nicht geflohen, sondern verhaftet worden, wird an dem Schicksal Weidigs deutlich. Dieser wurde über zwei Jahre lang unter übelsten Bedingungen gefangen gehalten und misshandelt. Verzweifelt brachte er sich vier Tage nach Büchners Tod selbst um, indem er sich die Kehle durchschnitt.

Georg Büchner, Kupferstich von A. Limbach (nach einer Zeichnung von A. V. Hoffmann)

Auch wenn Georg Büchner sich ab 1835 von revolutionärer Praxis fernhält, glaubt er weiterhin nicht an eine friedliche Versöhnung der Klassenwidersprüche. Ebenso wenig überzeugen ihn die abstrakten Appelle seiner Schriftstellerkollegen, die dem „Jungen Deutschland“ angehören. Am 1. Januar 1836 schreibt er:

„Übrigens gehöre ich für meine Person keineswegs zu dem sogenannten Jungen Deutschland, der literarischen Partei Gutzkows und Heines. Nur ein völliges Misskennen unserer gesellschaftlichen Verhältnisse konnte die Leute glauben machen, dass durch die Tagesliteratur eine völlige Umgestaltung unserer religiösen und gesellschaftlichen Ideen möglich sei (…).

Ich komme vom Christkindlesmarkt, überall Haufen zerlumpter, frierender Kinder, die mit aufgerissenen Augen und traurigen Gesichtern vor der Herrlichkeit aus Wasser und Mehl, Dreck und Goldpapier standen. Der Gedanke, dass für die meisten Menschen auch die armseligsten Genüsse und Freuden unerreichbare Kostbarkeiten sind, machte mich sehr bitter.“ (10)

Lenz

In Straßburg widmet sich Büchner verstärkt seinen naturwissenschaftlichen Studien, beschäftigt sich aber gleichzeitig mit der Arbeit für eine Erzählung über den Sturm-und-Drang-Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz (als Fragment 1839 im Telegraph für Deutschland abgedruckt). Um Geld für seinen Lebensunterhalt zu verdienen, übersetzt er nebenbei unter anderem Victor Hugos Dramen „Lucretia Borgia“ und „Marie Tudor“, die, wie schon sein „Dantons Tod“, von Sauerländer gedruckt werden. Außerdem beschäftigt er sich mit der Philosophie René Descartes´ und Baruch de Spinozas.

Den Stoff für seine Erzählung„Lenz“hat ervon Freunden erhalten, die Zugang zu den Aufzeichnungen des elsässischen Pfarrers Johann Friedrich Oberlin haben. Bei Oberlin hat der Dichter Lenz, der immer stärkere Anzeichen einer Psychose aufweist, Zuflucht gefunden. Obwohl Büchner sich im „Lenz“ häufig sehr eng an Oberlins Schilderungen hält und sie oft fast wörtlich übernimmt, ist er in der Lage, die qualvollen Zustände des Dichters zwischen Wahn und Realität einfühlsam darzustellen. Gleichzeitig zeigt er sie mit einer medizinisch-wissenschaftlichen Präzision, die noch heutige Leser in den Bann zieht.

Gleichzeitig entwickelt er in diesem Stück eine bis dahin unbekannte Erzähltechnik. Er wechselt kunstvoll zwischen Ich- und Er-Erzählung.

Besonders eindrucksvoll sind die Schilderungen der Natur, wenn Lenz während eines Unwetters, von Visionen gemartert, in den Vogesen herumirrt, und sich in der Natur die Seelenzustände des Wahnsinnigen spiegeln. Büchner selbst liebte die Vogesen und hatte sie sich zusammen mit seinen Straßburger Freunden erwandert. Schon der Beginn der Erzählung fasziniert:

„Den 20. ging Lenz durch's Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Es war nasskalt, das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber Alles so dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump. Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf- bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehn konnte. Anfangs drängte es ihm in der Brust, wenn das Gestein so wegsprang, der graue Wald sich unter ihm schüttelte, und der Nebel die Formen bald verschlang, bald die gewaltigen Glieder halb enthüllte; es drängte in ihm, er suchte nach etwas, wie nach verlornen Träumen, aber er fand nichts. Es war ihm alles so klein, so nahe, so nass, er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen, er begriff nicht, dass er so viel Zeit brauchte, um einen Abhang hinunter zu klimmen, einen fernen Punkt zu erreichen; er meinte, er müsse Alles mit ein Paar Schritten ausmessen können. Nur manchmal, wenn der Sturm das Gewölk in die Täler warf, und es den Wald herauf dampfte, und die Stimmen an den Felsen wach wurden, bald wie fern verhallende Donner, und dann gewaltig heran brausten, in Tönen, als wollten sie in ihrem wilden Jubel die Erde besingen, und die Wolken wie wilde wiehernde Rosse heransprengten, und der Sonnenschein dazwischen durchging und kam und sein blitzendes Schwert an den Schneeflächen zog, so dass ein helles, blendendes Licht über die Gipfel in die Täler schnitt; oder wenn der Sturm das Gewölk abwärts trieb und einen lichtblauen See hineinriss, und dann der Wind verhallte und tief unten aus den Schluchten, aus den Wipfeln der Tannen wie ein Wiegenlied und Glockengeläute heraufsummte, und am tiefen Blau ein leises Rot hinaufklomm, und kleine Wölkchen auf silbernen Flügeln durchzogen und alle Berggipfel scharf und fest, weit über das Land hin glänzten und blitzten, riss es ihm in der Brust, er stand, keuchend, den Leib vorwärts gebogen, Augen und Mund weit offen, er meinte, er müsse den Sturm in sich ziehen, Alles in sich fassen, er dehnte sich aus und lag über der Erde, er wühlte sich in das All hinein, es war eine Lust, die ihm wehe tat; oder er stand still und legte das Haupt ins Moos und schloss die Augen halb, und dann zog es weit von ihm, die Erde wich unter ihm, sie wurde klein wie ein wandelnder Stern und tauchte sich in einen brausenden Strom, der seine klare Flut unter ihm zog.“(11)

Eine der wichtigsten Passagen in der Erzählung ist eine Auseinandersetzung von Lenz in einer seiner gesunden Phasen mit seinem Bekannten Christoph Kaufmann über die Kunst. Büchner legt ihm hier seine eigene, gegen den Idealismus gerichtete Kunstauffassung in den Mund:

„Über Tisch war Lenz wieder in guter Stimmung, man sprach von Literatur, er war auf seinem Gebiete; die idealistische Periode fing damals an, Kaufmann war ein Anhänger davon, Lenz widersprach heftig. Er sagte: Die Dichter, von denen man sage, sie geben die Wirklichkeit, hätten auch keine Ahnung davon, doch seien sie immer noch erträglicher, als die, welche die Wirklichkeit verklären wollten. Er sagte: Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht wie sie sein soll, und wir können wohl nicht was Besseres klecksen, unser einziges Bestreben soll sein, ihm ein wenig nachzuschaffen. Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist's gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es hässlich ist, das Gefühl, dass was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen Beiden, und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen. Übrigens begegne es uns nur selten, in Shakespeare finden wir es und in den Volksliedern tönt es einem ganz, in Goethe manchmal entgegen.“ (12)

Obwohl die Erzählung Fragment geblieben ist, gehört sie zu den wichtigsten und wirkungsvollsten Beispielen deutscher Erzählprosa. Der junge Gerhart Hauptmann hat sie ebenso verschlungen wie Marcel Reich-Ranicki.

Straßburg: Medizin und Philosophie und Dichtung

In Straßburg widmet sich Büchner verstärkt seinen naturwissenschaftlichen und philosophischen Studien. Die Darmstädter Ausstellung zeigt in eindrucksvoller Weise an Hand zahlreicher Beispiele von Experimenten, Präparaten und Apparaturen die großen medizinischen und allgemein naturwissenschaftlichen Fortschritte in Büchners Zeit, an denen er selbst beteiligt war.

Präparate von Barben und Kröten

Gegen Ende des Jahres 1835 beginnt Büchner mit Untersuchungen über das Nervensystem des Süßwasserfischs Barbe. Im Jahr darauf hält er auf drei Sitzungen der Straßburger naturhistorischen Gesellschaft einen Vortrag in französischer Sprache über das Nervensystem der Flussbarbe, worauf ihn die Gesellschaft zum korrespondierenden Mitglied ernennt.

Der 23-Jährige reicht im Juli 1836 seine Abhandlung unter dem Titel „Mémoire sur le système nerveux du barbeau (Cyprinus Barbus L.)“an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich ein und wird am 3. September in Abwesenheit zum Doktor der Philosophie ernannt. Im November hält er in Zürich eine Probevorlesung über Schädelnerven und erhält eine Stelle als Privatdozent.

Georg Büchners Forschungen über das Zentralnervensystem waren zu seiner Zeit bahnbrechend und sind bis heute gültig, auch wenn sie inzwischen natürlich durch weitere Erkenntnisse vertieft wurden. Im Darmstädter Museum wird durch einen Film demonstriert, welche Entdeckungen er damals genau machte.

Parallel zu seiner erfolgreichen akademischen Tätigkeit arbeitet Büchner schriftstellerisch weiter. Er hat bereits ein neues literarisches Projekt und beginnt mit den Arbeiten an seinem Drama „Woyzeck“, das er nicht mehr vollenden wird. Es erscheint erst 1877 als Fragment in der Berliner Zeitschrift Mehr Licht.

Obwohl Fragment geblieben, gehört „Woyzeck“ ohne Zweifel zu den wichtigsten deutschen Theaterstücken. Erst lange nach Büchners Tod konnte das Fragment im Druck erscheinen. Heute gehört es zu den international meistgespielten deutschen Theaterstücken.(13)

Das Manuskript ist in mehreren Entwürfen in schwer lesbarer Schrift überliefert. Büchners Bruder Ludwig scheiterte an der Entzifferung und verzichtete darauf, es in seine Ausgabe der nachgelassenen Schriften aufzunehmen. Erst der Herausgeber der Gesamtausgabe von Büchners Werken, Karl Emil Franzos, machte sich Ende der 1870er Jahre an die Entzifferung und ließ seine Überarbeitung 1879 drucken. Uraufgeführt wurde es erst zu Büchners hundertstem Geburtstag, am 8. November 1913 im Münchener Residenztheater.

Das Stück besteht aus losen Szenen, deren Reihenfolge in den verschiedenen Rekonstruktionsversuchen unterschiedlich festgelegt wurde. Eine Einteilung in Akte gibt es nicht.

Mit seinem„Woyzeck“ versucht Büchner offenbar, praktisch umzusetzen, was er im Kunstgespräch im „Lenz“ theoretisch entwickelt hat. Seine Anregungen holt er dazu aus der Schilderung von Kriminalfällen in seiner unmittelbaren Umgebung. Vor allem dienen ihm Berichte und Gutachten über den Fall des Johann Christian Woyzeck, Sohn eines Perückenmachers, der am 21. Juni 1821 in Leipzig die 46jährige Witwe Christiane Woost erstochen hatte. Der Fall hatte unter anderem wegen medizinischer Gutachten über die Zurechnungsfähigkeit des Täters Aufsehen erregt. Dieser hatte angegeben, vor seiner Tat Stimmen gehört zu haben. Er wurde am 27. August 1824 verurteilt.

Büchner kennt diesen und ähnliche Fälle vermutlich aus der Zeitschrift für die Staatsarzneikunde,die sein Vater abonniert und für die er Beiträge aus der eigenen Praxis verfasst hat. (14)

Was macht dieses Stück bis heute so anziehend? Immer wieder wird es gespielt, sein Stoff verfilmt und von bedeutenden Komponisten vertont. Da ist einerseits natürlich sein Inhalt: Büchner hat einen Stoff gestaltet, der heute noch genau so aktuell wie damals ist.

Der Soldat und Barbier Woyzeck ist ein ausgebeutetes, unterdrücktes Wesen, das schließlich in seiner Verzweiflung einen Mord begeht. Aber das Ganze wird nicht trocken abgehandelt. Die einfachen Leute sprechen mit ihren oft unvollständigen Sätzen eine authentische Sprache. Oft reden sie in hessischem Dialekt aneinander vorbei, sie singen Volkslieder, die noch heute geläufig sind. Ein trauriges, an die Brüder Grimm erinnerndes Großmutter-Märchen erzeugt eine eigenartig düstere Stimmung und deutet Woyzecks Vereinsamung und Hilflosigkeit an.

Im Gegensatz dazu reden die sozial Höherstehenden meist in hohlen Phrasen, ohne das geringste Verständnis für die Leiden der Untergebenen. Vor allem der Doktor wird als zynisch und in all seiner Gelehrsamkeit als dumm und gefühlskalt entlarvt.

Gleichzeitig ist das Stück voll drastischer Komik und schwarzem Humor, bei dem einem das Lachen im Halse stecken bleibt.

Woyzeck muss sich plagen, den Lebensunterhalt für sich und Marie zu verdienen, die ein Kind von ihm hat. Er muss seinem Hauptmann zu Diensten sein und ihn rasieren. Der Hauptmann macht sich lustig über ihn und tadelt seine Moral, weil er ein Kind hat „ohne den Segen der Kirche“. Woyzeck verteidigt sich mit seiner Armut. Aber das ist nicht die einzige Ursache für Woyzecks psychische Verfassung. Seine Geliebte Marie, für die und ihr Kind er das alles über sich ergehen lässt, lässt sich von dem schneidigen Tambourmajor verführen. Woyzeck verzweifelt, körperlich und geistig zerrüttet, und sticht ihr ein Messer in die Brust.

Hinzu kommt, dass Woyzeck vom Medizin-Professor für den gefährlichen Menschenversuch mit einer „Erbsendiät“ missbraucht wird. In der Tat wurden derartige Versuche in Gießen von Justus von Liebig durchgeführt, um zu testen, ob man die Kosten für die Ernährung von Soldaten nicht durch eine eiweißreiche Hülsenfruchtdiät senken und dadurch die teure Versorgung mit Fleisch ersetzen könnte. Das hatte teilweise gefährliche Nebenerscheinungen zur Folge, Halluzinationen, Verlust der Kontrolle über den Schließmuskel und verstärkten Harndrang, genau die Symptome, über die Büchners Woyzeck klagt.

Woyzecks Mordmotiv setzt sich so aus verschiedenen Faktoren zusammen. Einerseits ist es die Eifersucht, die auch als Auslöser seiner Psychose zu deuten ist. Diese wird gleichzeitig durch seine gesellschaftliche Unterdrückung und die Demütigungen verstärkt, und auch der unmenschliche Versuch mit der Erbsendiät trägt dazu bei. Wie Danton kann Woyzeck seinem Schicksal nicht entrinnen, aber in jeder Szene wird deutlich, dass dieses Schicksal von Menschen gemacht ist.

Es ist keineswegs so, wie in dem jüngsten, im Oktober von Arte ausgestrahlten Woyzeck-Film, der im Kiez-Milieu des Berliner Wedding angesiedelt wird. Nuran David Calis übernimmt darin den Büchner-Text nur teilweise. Er zeigt Woyzeck als einen Menschen, dem immer alles misslingt, egal was er anfängt. Wie die Berliner Zeitung schreibt, lebt er in einer Gesellschaft, „in der sich die Verhältnisse langsam umdrehen: das unterste Berliner Milieu bilden die Mitglieder der sogenannten Mehrheitsgesellschaft wie Woyzeck. Obenauf sind türkische Migranten wie die Gegenspieler Tambourmajor und Hauptmann, der eine der Kiez-Macker im schwarzen Maserati, der andere hat Woyzeck die Kneipe abgeknöpft, sie zum türkischen Restaurant umgebaut und lässt Woyzeck noch als Küchenjungen arbeiten.“

Das ist alles Andere als eine zeitgemäße Adaption des Büchner-Fragments. Vielmehr wird hier in einer postmodernen Beliebigkeit alles aufgemischt, um die von Büchner deutlich herausgearbeiteten Klassengegensätze und die daraus resultierenden Leiden auf allgemein Menschliches zu reduzieren.

Wie nicht erst im „Woyzeck“ deutlich wird, verfügt Büchner über großes Talent zu Ironie und beißendem Spott. Im Sommer 1836 schreibt er für einen Lustspielwettbewerb des Stuttgarter-Verlags Cotta eine Komödie: „Leonce und Lena“. Das Stück wird jedoch wegen verspäteten Eintreffens ausgeschlossen. Ungeöffnet erhält er den Umschlag mit dem Manuskript zurück.

In diesem Lustspiel führt Büchner seine Figuren in ironisch romantische Traumwelten, lässt sie Weltschmerz, Melancholie, Langeweile und Einsamkeit auskosten, um sie durch Shakespeare’schen Humor und hintersinnig durch den Narren vorgebrachte Vernunftgründe auf die Erde zurückzuholen. Zugleich verulkt er höchst bissig die deutschen Duodezfürsten und ihre Hofschranzen und Beamten.

Büchner erlebt weder den Druck noch eine Aufführung des Stücks, das erstmals 1842 publiziert wird.

Im Januar 1837 erkrankt Georg Büchner an Typhus und stirbt am 19. Februar 1837 im Zürcher Exil. Es ist schwer zu ermessen, was er als Schriftsteller, als Naturwissenschaftler oder vielleicht auch als politisch Tätiger noch hätte leisten können. Doch was er uns in seiner kurzen Schaffenszeit hinterlassen hat, ist großartig.

Büchners Wirkung

Im Laufe des 19. Jahrhunderts ist Büchner, wie Jan-Christoph Hauschild in seinem Büchner-Buch von 1985 nachweist, nie ganz vergessen, auch wenn seine Dichtungen keine große Verbreitung finden. (15)

Verstärkt beginnt die Büchner-Rezeption mit der Ausgabe seiner Gesammelten Werke von Karl Emil Franzos Ende der 1870er Jahre. Franz Mehring behandelt in seiner „Geschichte der deutschen Sozialdemokratie“ die Aufstände in Hessen, Büchners Rolle und seinen Hessischen Landboten ausführlich. Er schreibt:

„Büchner war ein Kopf von merkwürdiger Frühreife, nicht nur ein Freidenker auf religiösem Gebiet, sondern auch, was ungleich mehr sagen wollte, so klar in politischen Dingen, wie keiner sonst von allen, die im damaligen Deutschland politisch hervorgetreten sind (…). Ganz im Gegensatz zu den Utopisten verstand er vielmehr die Französische Revolution; aus ihr schöpfte er seine Überzeugung, dass der Despotismus nur durch Gewalt gestürzt werden könne, aber dass jede politische Revolution ohne materielle Grundlage, ohne ein notwendiges Bedürfnis der großen Masse scheitern müsse.“

„Dantons Tod“ bezeichnet Mehring als eine „formlos-mächtige Dichtung, die in grandiosem Wurfe der abgerissenen, in fieberhafte Aufregung hingewühlten Szenen die Schreckensherrschaft in all ihrer unheimlichen Größe heraufbeschwor.“ (16)

In der Neuen Zeit schreibt er anlässlich der neuen Büchnerausgabe von Paul Landau 1902: „Büchners poetische Bruchstücke sind nur an Shakespeare und Byron, Goethe, Schiller zu messen; Büchner war ein reicherer Geist als Hebbel und enthält im Keime schon die Hauptmann, Holz und Schlaf.“

Die Initiatoren der Freien Volksbühne planen seit 1890 immer wieder, „Dantons Tod“ aufzuführen, doch es kommt nie dazu. Frank Wedekind und vor allem Naturalisten wie Gerhart Hauptmann haben Büchner viel zu verdanken. Hauptmann ist vom „Lenz“ begeistert. Sein „Bahnwärter Thiel“ und viele seiner Dramengestalten sind ohne Büchners Vorbild kaum denkbar. Wie er in seinen Erinnerungen schreibt, haben er und sein literarischer Freundeskreis in Berlin die Büchner-Ausgabe von Franzos besprochen.

Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts beginnen Büchners Stücke die Theaterbühne zu erobern und lassen sie seitdem nicht mehr los.

Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki schreibt im Vorwort seines Buches „Mein Büchner“: „Mit Büchner beginnt die moderne deutsche Literatur. Seine Werke führen zum (...) epischen Theater, zum Theater der Surrealisten und zum Dokumentartheater. Büchner führt zu Gerhart Hauptmann, zu Frank Wedekind, zu Ödon von Horváth und schließlich zu Franz Kafka und Bertolt Brecht."

Der beste Beweis, dass Büchners Werk bis heute an Aktualität nichts eingebüßt hat, ist seine bis heute unumstrittene Präsenz in der Geschichte und Literaturgeschichte. Die einen sehen in ihm einen resignierten Gegner der Revolution und Pessimisten, die anderen feiern ihn als Vorläufer der deutschen Revolution von 1848 und des „Kommunistischen Manifests“.

Einer seiner jüngsten (und in den Medien vielgepriesenen) Biografen, Hermann Kurzke, versucht ihn dagegen als christliches Urgestein hinzustellen und sieht sein gesamtes Werk als Ausdruck christlicher Nächstenliebe. Die ihn prägende politische Erfahrung habe sich in seinem Werk vor allem als rasante Desillusionierung niedergeschlagen. Büchners revolutionäre Flugschrift Der Hessische Landbote ist Kurzkes Meinung nach ein romantischer Gewaltstreich, frei von politischer Analyse und Kalkül. Büchner sei „mehr Sozialromantiker als Sozialrevolutionär“ gewesen. (17)

Wer den Landboten gelesen und die Zeit studiert hat, in der er entstand, muss zu einer anderen Einschätzung kommen. Noch 1836 schrieb Büchner an den aus der Haft entlassenen Karl Gutzkow, eine gesellschaftliche Umgestaltung werde nicht von der „gebildeten und wohlhabenden Minorität“ ausgehen, „so viel Konzessionen sie auch von der Gewalt für sich begehrt. (…) Ich glaube, man muss in sozialen Dingen von einem absoluten Rechtsgrundsatz ausgehen, die Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volk suchen und die abgelebte moderne Gesellschaft zum Teufel gehen lassen.“

Man kann letztlich nur darüber spekulieren, wie Büchner sich weiter entwickelt hätte, wenn er nicht so früh gestorben wäre. Den möglichen Höhepunkt seiner intellektuellen und politischen Entwicklung hatte er mit 23 Jahren mit Sicherheit noch nicht erreicht. Er starb in einer Zeit, in der das deutsche Geistesleben rasante und revolutionäre Umwälzungen durchmachte.

Vier Jahre nach seinem Tod erschien Ludwig Feuerbachs materialistische Schrift, „Das Wesen des Christentums“, über die Friedrich Engels schrieb: „Man muss die befreiende Wirkung dieses Buchs selbst erlebt haben, um sich eine Vorstellung davon zu machen. Die Begeisterung war allgemein: Wir waren alle momentan Feuerbachianer.“ Und elf Jahre nach Büchners Tod – er wäre gerade 34 geworden – veröffentlichten Marx und Engels nach einer gründlichen Auseinandersetzung mit den Junghegelianern und Feuerbach das „Kommunistische Manifest“.

Büchner war Teil und Pionier eines Gärungsprozesses, der das menschliche Denken auf neue Höhen führte und schließlich die Grundlage für die moderne, sozialistische Arbeiterbewegung legte. Wie weit er selbst diesen Weg mitgegangen wäre, lässt sich nur vermuten. Durch die neue, in diesem Jahr vollendete große kritische Marburger Werkausgabe Büchners, die trotz des schmalen Umfangs seines Werks auf achtzehn Folianten angewachsen ist, konnten viele wichtige Bruchstücke und Varianten seiner Stücke, Quellen, Bezüge Briefe von ihm und an ihn, sowie seine wissenschaftlichen Schriften gesichert und zugänglich gemacht werden. (18)

Aus ihnen ist nicht nur die Bedeutung Büchners in seiner Zeit, sondern auch für uns heute festzustellen.

– – – – – – – –

Anmerkungen:

(1) http://gutenberg.spiegel.de/buch/421/5

(2) http://gutenberg.spiegel.de/buch/421/5

(3) http://gutenberg.spiegel.de/buch/416/1
Dieses und alle folgenden Zitat aus dem Landboten ebd.

(4) http://gutenberg.spiegel.de/buch/416/1

(5) Vergl. Hans Mayer: Büchner und seine Zeit, Wiesbaden 1946, S. 94ff

(6) http://gutenberg.spiegel.de/buch/421/3

(7) H. Mayer: a.O., S. 195

(8) ebd. S., 109

(9) http://gutenberg.spiegel.de/buch/421/1

(10) Brief an die Familie vom 1. Januar 1836

(11) http://gutenberg.spiegel.de/buch/422/1

(12) ebd.

(13) http://gutenberg.spiegel.de/buch/416/1

(14) Die Gutachten von Hofrat Dr. Johann Christian Clarius in: Hans Mayer: Georg Büchner Woyzeck – Dichtung und Wahrheit, Frankfurt 1963

(15) Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Studien und neue Quellen zu Leben, Werk und Wirkung. Königstein/Ts., 1985

(16) Franz Mehring: Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Band I, Berlin, 1980, S. 70-80

(17) Hermann Kurzke: Georg Büchner - Geschichte eines Genies. München2013, 592 S.,

(18) http://www.uni-marburg.de/fb09/fgb/forschung/publ/marburgausgab

Loading