Ägypten: Tödlichste Polizeiübergriffe seit Monaten

In Ägypten rückt der dritte Jahrestag der Revolution vom 25. Januar 2011 näher, gleichzeitig steht das Referendum über die neue Verfassung Ägyptens Mitte Januar kurz bevor. Die Militärjunta verschärft derweil die Unterdrückung jeder Opposition gegen ihre Herrschaft.

Am Freitag griffen Sicherheitskräfte Demonstrationen der von der Muslimbruderschaft (MB) geführten Anti-Coup-Allianz an und töteten mindestens vierzehn Demonstranten. Nach offiziellen Angaben des Gesundheitsministeriums wurden fünf Demonstranten in Kairo getötet, zwei in Ismailia, der Stadt am Suezkanal, und einer in Alexandria. Die übrigen Toten gab es in Giseh, Fayoum und Minja in Oberägypten. Es gab zahlreiche Verletzte.

Die Sicherheitskräfte sollen mit scharfer Munition gegen die Demonstranten vorgegangen sein. Der örtliche Vertreter des Gesundheitsministeriums in der ländlichen Provinz Fayoum, Medhat Schukri, sagte gegenüber Reuters, dass drei Demonstranten, darunter ein Student, an Schusswunden in Brust und Kopf gestorben seien. Ein weiterer Student wurde bei Zusammenstößen in der mittel-ägyptischen Stadt Minja erschossen.

Die heftigsten Zusammenstöße gab es in Kairo und im benachbarten Giseh am Westufer des Nils. Im Kairoer Stadtteil Nasr City beschossen schwer bewaffnete Bereitschaftspolizisten Demonstranten mit Tränengas, die sich mit Feuerwerkskörpern und Steinen wehrten. In den Stadtteilen Maadi, Al Haram und Alf Maskan dauerten die Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten bis spät in die Nacht an.

Bei den Polizeiaktionen wurden hunderte Mitglieder der MB festgenommen, nach Angaben des Innenministeriums 122 Personen wegen Waffenbesitzes.

Die Polizeiangriffe vom Freitag waren die schlimmsten seit dem 6. Oktober, als Sicherheitskräfte am 40. Jahrestag des Ausbruchs des Oktoberkriegs von 1973 mehr als fünfzig regimekritische Demonstranten töteten. Seitdem hat das Regime seine autoritären Maßnahmen ständig verschärft. Ende November hat die Junta ein Anti-Demonstrationsgesetz erlassen und eine neue Verfassung vorgelegt, die der Militärherrschaft praktisch „legal“ verankert. Am 25. Dezember erklärte die vom Militär gestützte Übergangsregierung die MB zu einer „Terrororganisation“.

Seit dem Militärputsch vom 3. Juli, der Präsident Mohammed Mursi von der Muslimbruderschaft aus dem Amt fegte, benutzt die Junta den Vorwand des “Kampfs gegen den Terrorismus”, um ihre islamistischen Rivalen zu unterdrücken und den Polizei- und Militärapparat wiederherzustellen, wie er vor dem Sturz des langjährigen Diktators Hosni Mubarak existiert hat.

Die Junta versucht jetzt, die MB auszulöschen und ihren Einfluss in der ägyptischen Gesellschaft zu zerstören. Ein Komitee hat den Auftrag erhalten, das Eigentum der Gruppe zu konfiszieren. Es hat das Vermögen von über 700 führenden MB-Mitgliedern eingefroren, darunter der Vorsitzende Mohammed Badie, seine Stellvertreter Kheirat Al-Schater, Rashad Bayoumi, Mahmud Ezzat und Gomaa Amin und mehrere Mitglieder des MB-Vorstands.

Das Komitee unterstellte auch 87 Schulen, die von den Muslimbrüdern betrieben wurden, der Aufsicht des Bildungsministeriums und des Ministeriums für religiöse Stiftungen. Desweiteren übernahm es mehrere Moscheen, die vorher von der islamistischen Organisation geleitet worden waren.

In den vergangenen Tagen hat die Justiz Prozesse gegen inhaftierte MB-Führer terminiert. Am heutigen Mittwoch wird vermutlich ein Verfahren gegen Mursi wieder aufgenommen und ein zweites am 28. Januar. Ihm und anderen MB-Mitgliedern wir die Anstachleung zur Gewalt gegen regierungsfeindliche Demonstranten im Dezember 2012, die Flucht aus dem Gefängnis während des Aufstands von 2011 und eine „terroristische Verschwörung“ gegen Ägypten vorgeworfen. Die Anklagen können die Todesstrafe nach sich ziehen.

Die Militärjunta, die jetzt Mursi und anderen prominenten Muslimbrüdern wegen Anstachleung zur Gewalt gegen Demonstranten den Prozess macht, hat selbst Massaker begangen, denen mindestens 1.500 Gegner des Putschs zum Opfer gefallen sind. Tausende wurden verletzt. Putschführer und Verteidigungsminister General Abdel Fattah al-Sisi und Innenminister Mohammed Ibrahim amtierten beide unter Mursi und waren daher selbst direkt an der Unterdrückung von Demonstranten gegen die Präsidentschaft Mursis beteiligt.

Das Militärregime versucht, eine Atmosphäre der Angst zu schaffen, um einer erneuten sozialen Explosion in der Arbeiterklasse, der treibenden sozialen Kraft in der Revolution, zuvorzukommen. Das ägyptische Center for Social and Economic Rights (ECESR) veröffentlichte kürzlich Zahlen, die zeigen, dass Arbeiter im Jahr 2013 fast 2.500 Proteste durchführten. 2.243 fanden während der Präsidentschaft Mursis statt, 243 unter der Militärjunta.

Nach dem Putsch ging die Zahl der Protestaktionen zunächst zurück, aber in den letzten Monaten kam es zu mehreren bedeutsamen Arbeiterprotesten. Nennenswert sind besonders die Streiks der Textilarbeiter von Mahalla im Oktober und der Streik der Goldminenarbeiter von Sukhari, der am 15. Dezember von der Polizei aufgelöst wurde. Gegenwärtig sind 5.000 Stahlarbeiter des Eisen- und Stahlwerks in Helwan in einem Besetzungsstreik und verlangen höhere Löhne und eine Erfolgsbeteiligung. Am vergangenen Mittwoch traten auch die Ärzte in einen Teilstreik. Sie fordern höhere Mindestlöhne und eine Erhöhung der Gesundheitsausgaben von 3,5 Prozent auf 15 Prozent des Staatshaushalts.

Dem ECESR zufolge gab es im November, dem Monat, in dem das Anti-Demonstrationsgesetz eingeführt wurde, die meisten Arbeiterproteste seit dem Putsch.

Parallel zu der wachsenden Opposition in der Arbeiterklasse verschärft die Junta auch die Unterdrückung von politischen Gruppen und Aktivisten, die den Putsch vom 3. Juli ursprünglich unterstützt hatten, darunter die Jugendbewegung des 6. April und die pseudolinken Revolutionären Sozialisten (RS).

Am Sonntag verhängte das Strafgericht von Giseh eine einjährige Gefängnisstrafe auf Bewährung gegen den Aktivisten Alaa Abdel Fattah und seine Schwester Mona Seif. Sie sollen angeblich die Wahlkampfzentrale des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten und letzten Ministerpräsidenten unter Mubarak, General Ahmed Schafik, angegriffen haben. Fattah wurde am 28. November festgenommen, weil er angeblich gegen das neue Anti-Demonstrationsgesetz verstoßen hat.

Am Donnerstag verurteilte das Amtsgericht in Raml neun Aktivisten aus Alexandria zu zwei Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe von 50.000 ägyptischen Pfund (5.290 Euro). Die Aktivisten, unter ihnen das Mitglied der RS, Mahienur El-Massry, wurden nach Artikel 19 des Demonstrationsrechts verurteilt, das drakonische Urteile von bis zu zehn Jahren Gefängnis und 500.000 Ägyptischen Pfund (53.400 Euro) Geldstrafe vorsieht.

In der Vorwoche hatte ein Gericht die Gründer der Jugendbewegung des 6. April, Ahmed Maher, Mohamed Adel und Ahmed Douma, zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie das Gesetz verletzt und angeblich Polizisten angegriffen haben.

Der 6. April und die RS sind im Moment mit der islamistischen Strong Egypt Party (Partei Starkes Ägypten) des ehemaligen MB-Führers Abdel Moneim Abul Fotuh in der so genannten Revolutionary Path Front (RPF) zusammengeschlossen. Die RPF ist besorgt, dass die Unterdrückung der Junta die Arbeiterklasse zu weiteren Kämpfen provozieren könnte. Nachdem sie den Putsch zuerst unterstützt hatten, versuchen sie jetzt, die Fraktionen der ägyptischen Elite wieder zusammenzubringen, um einen besseren Mechanismus zur Kontrolle der Arbeiterklasse zu haben.

Der konterrevolutionäre Charakter des wohlhabenden kleinbürgerlichen Milieus in Ägypten wird am schärfsten von der neuen Koalition der so genannten “Kräfte für Demokratie und soziale Gerechtigkeit” zum Ausdruck gebracht. Die Koalition besteht aus diversen nasseristischen, stalinistischen und pseudolinken Gruppen, mit denen die Aktivisten und Parteien der RPF früher verbündet waren: der Tamarod-Koalition, der Ägyptischen Kommunistischen Partei, der Sozialistischen Partei Ägyptens, der Kifaja-Bewegung, der Sozialistischen Volksallianz und der Tagammu-Partei.

Die neue Koalition bejubelt die Unterdrückungsmaßnahmen der Junta zynisch als Teil eines Kampfs für “Demokratie, soziale Gerechtigkeit und nationale Unabhängigkeit”. Auf ihrer Gründungskonferenz am vergangenen Donnerstag forderte sie alle politischen Kräfte auf, für die reaktionäre Verfassung der Junta zu stimmen und „Millionen Ägypter gegen den Terrorismus der Muslimbruderschaft“ zu mobilisieren.

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