Perspektive

Vor fünfzig Jahren: Johnsons Kriegserklärung an die Armut

Präsident Lyndon B. Johnson forderte in seiner ersten Rede zur Lage der Nation am 8. Januar 1964 dazu auf, in den Vereinigten Staaten Armut, Arbeitslosigkeit und Hunger zu überwinden. "Diese Regierung erklärt hier und jetzt den bedingungslosen Krieg gegen die Armut in Amerika", sagte Johnson in seiner Rede. Kaum sieben Wochen waren seit der Ermordung seines Amtsvorgängers John F. Kennedy vergangen.

Innerhalb von zwei Jahren beschloss der Kongress eine Reihe von Gesetzen und Programmen, die zusammen als die "Great Society" bekannt wurden. Dazu gehörte in erster Linie der Social Security Act von 1965, der die Sozialversicherungen Medicare und Medicaid einführte, erstere als Krankenversicherung für Senioren, die zweite als staatliche Krankenfürsorge für behinderte und arme Menschen. Dann der Civil Rights Act von 1964, das erste nennenswerte Gesetz gegen den staatlichen Rassismus seit der Reconstruction-Phase fast hundert Jahre zuvor (als am Ende des Bürgerkriegs die Sklaverei abgeschafft worden war).

Hinzu kam die Einrichtung mehrerer staatlicher Berufsbildungs-, Stadtentwicklungs-, Bildungs- und Ernährungsbehörden und Initiativen, unter anderem die Kleinkinderförderung Head Start (Vorsprung) und die Einführung von Lebensmittelmarken für sozial benachteiligte Familien.

Johnson stellte seine legislative Agenda als historische Herausforderung für den amerikanischen Kapitalismus dar: "Wir haben im Jahre 1964 eine einzigartige Gelegenheit und Verpflichtung, den Erfolg unseres Systems unter Beweis zu stellen. (...) Wenn wir versagen (...) wird uns die Geschichte zu Recht streng verurteilen."

Die Geschichte hat ihr Urteil gefällt. Der Krieg gegen die Armut kam dem Ziel, Armut und Hunger auszulöschen, niemals auch nur nahe. Er ist gescheitert, weil er die Grundlagen der Klassenherrschaft in den USA und im Ausland nicht verändern konnte. Im Vergleich zum Reichtum der USA ("der reichsten Nation der Welt", wie Johnson seine Zuhörer erinnerte) wurde nur ein kleiner Teil der Ressourcen genutzt; gleichzeitig umfasste Johnsons Programm auch Steuersenkungen für Reiche. Viel mehr Ressourcen wurden für die amerikanische Kriegsmaschinerie aufgewandt. Der Krieg gegen die Armut scheiterte letzten Endes am Niedergang des amerikanischen Kapitalismus, der sich in den Jahren nach Johnsons Rede beschleunigte.

Die Great Society wurde durch die amerikanische Vorherrschaft über die Weltwirtschaft möglich. Noch 1964 stellten die USA vierzig Prozent der Industrieproduktion der Welt. Doch seit den späten 1950ern hatten die USA mit Zahlungsbilanzdefiziten von mehr als drei Milliarden Dollar pro Jahr zu kämpfen und, laut einem aktuellen Dokument über Wirtschaftsgeschichte, einen "massiven Verlust von Gold- und Dollarbeständen an den Rest der Welt" zu verzeichnen. Die amerikanische Wirtschaft wuchs in den 1960ern zwar schnell, aber die japanische und westdeutsche Wirtschaft wuchsen dreimal- bzw. doppelt so schnell.

Der Niedergang der amerikanischen Industrie, der zuerst fälschlicherweise als ein Phänomen von Unterauslastung ausgelegt wurde, hatte besonders schwere Auswirkungen auf Städte im Norden des Landes. Johnson gab das in seiner Rede verdeckt zu: "Vier Millionen Arbeiter und dreizehn Prozent unserer Industriekapazität sind heute noch untätig", und das mehrere Jahre nach der Rezession Ende der 1950er.

Kennedy, Johnson und ihre Berater glaubten, das beste Mittel, um auf die ersten Anzeichen des wirtschaftlichen Niedergangs zu reagieren, sei eine Steuersenkung. "Vor allem müssen wir durch Steuersenkungen elf Milliarden Dollar in den privaten Konsumkreislauf lenken, um neue Arbeitsplätze und neue Märkte in allen Bereichen des Landes zu schaffen“, erklärte Johnson und führte Kennedys zentrale Finanzpolitik fort. "Wir brauchen jetzt eine Steuersenkung, um die Wirtschaft dieses Landes am Laufen zu halten." Der United States Revenue Act von 1964 senkte den Spitzensteuersatz von 91 auf 70 Prozent, wodurch 30 Prozent der gesenkten Steuern den obersten zwei Prozent der Steuerzahler zugute kamen. Auch die Steuern für Unternehmen wurden gesenkt.

Diese Logik, Reiche mit Steuersenkungen zu belohnen, damit sie in die Industrie investieren, ist in den 1960ern gescheitert. Die Gewinne der Konzerne stiegen in zehn Jahren um 65 Prozent. Dennoch verlagerten Konzerne und reiche Aktionäre ihre Ressourcen zunehmend nach Übersee, und so stiegen die Industrieinvestitionen amerikanischer Konzerne im Ausland in den 1960ern um 500 Prozent an. Gleichzeitig nutzten sie ihren Reichtum für Finanzspekulationen: In der Zeit von 1965-1969 kam es laut dem Historiker Alfred Chandler zu einer "Orgie" von Fusionen und Übernahmen. Die Tradition von langfristigem und stabilem Aktienbesitz wurde von einer Kaufstrategie verdrängt, die auf kurzfristige Profite abzielte.

Johnson versprach in seiner Rede, "die militärische Sicherheit und Überlegenheit" beizubehalten, die durch die dreijährige Erhöhung der Militärausgaben unter Kennedy erreicht worden war, um "die Sache der Freiheit zu verteidigen, wo immer sie durch die offene Aggression oder die Infiltration der Machthaber in Hanoi und Havanna bedroht wird". Allerdings trugen die enormen Militärausgaben während der Kennedy- und Johnson-Jahre zum Niedergang der amerikanischen Wirtschaft bei, indem sie die Mittel beanspruchten, die für produktive Zwecke benötigt worden wären, und noch mehr Geld verließ die USA.

Im August 1964 konstruierte die Johnson-Regierung mit dem Zwischenfall im Golf von Tonkin einen Kriegsgrund, und in den nächsten zehn Jahren gaben die USA fast 700 Milliarden Dollar für den Vietnamkrieg aus. Etwa drei Millionen Südostasiaten und 58.000 amerikanische Soldaten wurden bei dem Versuch getötet, die antikoloniale Nationale Befreiungsfront und Nordvietnam zu besiegen. Johnsons Kritiker wiesen auf den Zusammenhang zwischen den Ausgaben für den Vietnamkrieg und dem Scheitern des Kriegs gegen die Armut hin.

Unter diesen Kritikern befand sich auch Martin Luther King, der bemerkte, die USA gäben 500.000 Dollar aus, um einen feindlichen Soldaten zu töten, aber nur 53 Dollar für einen als arm eingestuften Menschen. Ende der 1960er war ein Zehntel aller Arbeitsplätze in den USA vom Haushalt des Verteidigungsministeriums abhängig.

Johnsons begrenzte Reformagenda wurde zwar durch den immensen Reichtum der USA ermöglicht, allerdings wurde sie angesichts der Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse als notwendig angesehen. Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre kam es in den wichtigsten Industrien zu Streiks, unter anderem in der Stahl-, Auto-, Elektro-, Luftfahrt- und Schifffahrtsindustrie, während Lehrer und staatliche Beschäftigte begannen, die gleichen Rechte zu fordern wie Arbeiter.

Noch alarmierender waren für die Führung der Demokratischen Partei die Massenkämpfe schwarzer Arbeiter und Jugendlicher gegen die gesetzliche Rassentrennung im Süden und die Armut in den Städten im Norden. Dafür zeichneten der Südstaatenflügel der Demokraten und ihre politischen Apparate in den Großstädten verantwortlich.

Die begrenzten Reformen der Great Society reichten jedoch nicht aus, um die Militanz der Arbeiterklasse zu kontrollieren. Der pazifistische Charakter der Bürgerrechtskämpfe wurde Ende der 1960er Jahre von massiven Aufständen in den Städten verdrängt, und Millionen Amerikaner erhoben sich gegen die Ziele des amerikanischen Imperialismus in Vietnam. Anfang der 1970er begann im ganzen Land die größte Streikwelle seit 1945-46.

Das Scheitern des liberalen Reformismus der Great Society, die Lohnstreiks der 1970er und der anhaltende Niedergang der globalen Stellung des US-Kapitalismus schufen die Bedingungen für eine Scharfe Wende der Klassenverhältnisse.

Die Missbrauch von Mitteln für Finanzspekulationen und die persönliche Bereicherung der Reichen wurde zum Kernstück der Innenpolitik beider Parteien. Seit den 1970ern wurden große Teile der Industrie stillgelegt, wodurch Städte und ganze Regionen verfielen. Spätere Regierungen und Parlamente senkten die Steuern für Reiche und begannen, einen Industriezweig nach dem anderen zu deregulieren. In den 1980ern kam noch eine gnadenlose Kampagne gegen die organisierten Teile der Arbeiterklasse hinzu.

Die herrschenden Schichten, die bei diesen Prozessen ständig reicher wurden, begannen, alle staatlichen Ausgaben für Sozialprogramme als unakzeptables Hemmnis für ihre persönliche Bereicherung anzusehen.

Ende der 1970er Jahre setzten sich beide Parteien für die Rücknahme der Reformpolitik der 1930er und 1960er Jahre ein, aber die Demokratische Partei erwies sich – gerade weil sie mit den vergangenen Reformen stärker in Verbindung gebracht wurde – als besser geeignet, um diese Angriffe durchzuführen.

Die allgemein als "Welfare" bekannte Sozialhilfe (früher: Aid to Families with Dependent Children), ging aus dem New Deal des Demokraten Franklin Delano Roosevelt hervor und wurde von Johnson im Rahmen der Great Society stark ausgeweitet. Sie wurde 1996 unter dem Demokraten Bill Clinton zerschlagen. Barack Obama hat heute mit seiner "Gesundheitsreform", wie er sie irreführend nennt, die zentrale Reform der Great Society (Medicare) ins Visier genommen.

Die Angriffe sind unerbittlich. Vor kurzem tat sich Obama mit den Republikanern zusammen, um die Ausgaben für Lebensmittelmarken zu senken und das verlängerte Arbeitslosengeld zu kürzen. Diese Kürzungen, die zusammen etwa sechzig Millionen Amerikaner betreffen, werden zu unvorstellbarem Leiden führen und dabei weniger Geld "sparen", als ein einzelner amerikanischer Milliardär besitzt. Am anderen Ende der Klassenspaltung ermöglicht die Federal Reserve den Finanzbetrügern weiterhin den Zugang zu kostenlosen Krediten, was die Aktienkurse auf neue Rekordstände treibt.

Heute, fünfzig Jahre nach Johnsons Schwur, die Armut zu beenden, setzen Demokraten und Republikaner eine Politik um, die dafür sorgen wird, dass sie im Gegenteil weiter steigt. Fünfzig Millionen Menschen, ein Sechstel der Bevölkerung, leben unter der offiziellen Armutsgrenze. Der gescheiterte Krieg gegen die Armut wurde schon lange aufgegeben. Stattdessen wird ein sozialer und politischer Krieg gegen die Arbeiterklasse geführt, in dem riesige Reichtümer an die Spitze der Gesellschaft geschaufelt werden, während die „neue Normalität“ am unteren Ende der Gesellschaft in chronischer Massenarbeitslosigkeit und sozialem Elend besteht.

Das letzte halbe Jahrhundert hat unwiderlegbar gezeigt, dass es nicht möglich ist, die Armut im Rahmen des Profitsystems zu beseitigen. Diese drängende Aufgabe kann nur durch die unabhängige politische Mobilisierung der Arbeiterklasse für ein Ende der Herrschaft der Finanz- und Wirtschaftsoligarchie und die Umgestaltung der Wirtschaft auf sozialistischer Grundlage erfüllt werden.

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