Bergbaukatastrophe in der Türkei: Empörung über Regierung wächst

Während in der Bergbaustadt Soma die ersten Opfer der Katastrophe vom Dienstag in Massenbeerdigungen zu Grabe getragen werden, wächst in der Türkei die Empörung über die Regierung Erdogan. Das Unglück, das von vielen als „Mord“ oder „Massaker“ bezeichnet wird, hat das schmutzige Geheimnis des international gelobten Wirtschaftswachstums in der Türkei enthüllt – die schonungslose Ausbeutung der Arbeiterklasse.

In Soma gibt es mittlerweile kaum mehr Hoffnungen, überlebende Bergleute zu finden. Die offizielle Zahl der Toten wird zwar immer noch mit 282 angegeben. Sie könnte aber bis zu 400 steigen.

Sowohl der größte türkische Gewerkschaftsbund Türk-Is wie die konkurrierenden Gewerkschaften DISK und KESK sahen sich gezwungen, am Donnerstag zu Protesten und Arbeitsniederlegungen aufzurufen, um die Empörung aufzufangen. Türk-Is, dem 35 Einzelgewerkschaften angehören, bezeichnete die Katastrophe als größten „Mord am Arbeitsplatz“ in der Geschichte der türkischen Republik.

In einer gemeinsamen Erklärung von DISK und KESK, die auch von der Ingenieurs- und Architektenkammer TMMOB und dem Medizinerverband TTB unterzeichnet wurde, heißt es: „Hunderte unserer Kollegen in den Bergwerken von Soma wurden gezwungen, unter menschenunwürdigen Bedingungen für maximale Profite zu arbeiten, da Sicherheitsmaßnahmen und die Gesundheit der Arbeiter nur danach beurteilt werden, wie sie die Kosten beeinflussen. Das bedeutet, dass sie von Anfang an dem Tod ausgeliefert wurden. Wer die Privatisierungspolitik durchgeführt und sich für Subunternehmer eingesetzt hat, wer den Tod von Arbeitern in Kauf genommen hat, um die Kosten zu reduzieren, und wer dies ermutigt hat, zählt zu den Tätern beim Massaker von Soma.“

Die Gewerkschaften haben sich allerdings bemüht, die Proteste so bescheiden wie möglich zu gestalten. So forderten DISK und KESK lediglich dazu auf, zum Zeichen der Trauer schwarze Kleider und Bänder zu tragen, drei Schweigeminuten am Arbeitsplatz einzuhalten und anschließend zu den Arbeitsämtern der Provinzen zu marschieren.

In der Millionenstadt Izmir, die nur 130 Kilometer südlich von Soma liegt, hatten bereits am Mittwoch im Rahmen eines 24-stündigen Streiks 20.000 Arbeiter gegen die Verantwortlichen der Katastrophe demonstriert. Sie wurden von der Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas angegriffen. DISK-Führer Kani Beko musste ins Krankenhaus eingeliefert werden.

Bereits am Vortag war es in Istanbul und Ankara zu Protesten und heftigen Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften gekommen. Auch in den südlichen Städten Mersin und Antalya gab es Demonstrationen.

In Istanbul protestierten mehrere Tausend Leute, indem sie sich vor Wasserwerfern der Polizei auf den Boden setzten und Transparente hochhielten, auf denen stand: „Es ist nicht Zufall, nicht Schicksal, sondern Mord“ und „Unsere Herzen brennen in Soma“. Die Polizei hinderte die Demonstranten daran, zum Taksim-Platz zu ziehen, wo es im vergangenen Jahr zu heftigen Protesten gegen Ministerpräsident Erdogan gekommen war. Auf der asiatischen Seite des Bosporus, im Stadtteil Kadiköy, skandierten Demonstranten: “Das ist kein Arbeitsunfall, sondern Mord” und “Die Bergarbeiter starben nicht, sie wurden getötet”.

In Ankara versammelten sich rund Tausend Mitglieder mehrerer Gewerkschaften zu einem Marsch zum Arbeitsministerium und riefen: „Das Feuer von Soma wird die AKP verbrennen“ und „AKP, Mörder“.

In Soma selbst versammelten sich Tausende Familienmitglieder und Kollegen der Opfer vor dem Krankenhaus, um Informationen über ihre Angehörigen zu erhalten. Als Erdogan den Ort der Katastrophe besuchte, beschimpften ihn Anwohner als “Mörder” und Dieb” und bewarfen sein Auto mit Steinen. Der Ministerpräsident musste vorübergehend in einem Supermarkt in Sicherheit gebracht werden.

Erdogan hatte die Betroffenen zusätzlich in Wut versetzt, indem er vor der Presse jede Verantwortung abstritt und zynisch erklärte: “Tun wir doch bitte nicht so, als gäbe es keine solchen Unfälle in Bergwerken. Das sind gewöhnliche Ereignisse. Es gibt in der Literatur so etwas wie Arbeitsunfälle. Das gehört zur Natur dieses Geschäfts.”

Einer seiner Berater, Yusuf Yerkel, wurde auf Video festgehalten, als er einen am Boden liegenden, von der Polizei festgehaltenen Demonstranten mehrmals heftig mit dem Fuß trat.

Die Arroganz, mit der Erdogan und sein Umfeld auf den Tod von Hunderten Bergarbeitern reagieren, ist kein Zufall. Die Regierung trägt sowohl die allgemeine politische wie einen großen Teil der unmittelbaren Verantwortung für eine Katastrophe, die leicht zu vermeiden gewesen wäre.

Um ausländische Investoren anzuziehen und die Bereicherung ihrer eigenen Klientel sicherzustellen, ermutigt die AKP-Regierung die Ausbeutung der Arbeiter zu Hungerlöhnen und die Missachtung der elementarsten Sicherheitsbestimmungen. Die technischen Mittel, um eine Brandkatastrophe wie in Soma zu verhindern, sind längst vorhanden, waren dem privaten Bergwerkbetreiber aber offensichtlich zu teuer.

Der Chef des Privatunternehmens Soma Kohle, das das Bergwerk 2012 vom türkischen Staat übernahm, hat sich öffentlich gebrüstet, er habe den Kohlepreis von 140 auf 24 US-Dollar pro Tonne gesenkt. Viele Bergarbeiter werden über Subunternehmer beschäftigt und verdienen für die Schwerstarbeit unter Tage nur 800 bis 1.300 Lira im Monat. Umgerechnet sind das 280 bis 460 Euro. Das reicht kaum zum Leben. Die meisten Bergarbeiter sind deshalb hoch verschuldet.

Soma Holding, die Dachgesellschaft des Bergwerkbetreibers, unterhält enge Beziehungen zur Erdogans AKP. Melike Dogru, die Frau ihres Generaldirektors, sitzt für die AKP im Lokalparlament. Soma Kohle hat auch die Gratiskohle geliefert, die die AKP während der letzten Kommunalwahl verteilte, um arme Wähler zu ködern.

Die Gewinne aus dem Bergbau investiert die Soma Holding in den lukrativen Istanbuler Bau- und Immobilienmarkt. Seit 2006 gehört ihr die Baufirma Tilaga, die in Istanbul zwei große Bauprojekte hochzieht: Den Maslak Spine Tower in Sariyer und ein Einkaufszentrum in Kartal.

Die AKP-Regierung hat die gesetzliche Grundlage dafür geschaffen, dass Privatunternehmen staatliche Bergwerke gegen eine äußerst lukrative Nutzungsgebühr übernehmen können, die sie in Form eines Teils der geförderten Kohle entrichten. Und sie schützt sie gegen die staatliche Überprüfung von Sicherheitsbestimmungen – soweit es diese überhaupt gibt.

So hat die Türkei die Konvention der ILO über Sicherheit und Gesundheit in Bergwerken aus dem Jahr 1995, die minimale Sicherheitsstandards garantiert, bis heute nicht unterzeichnet. Mit durchschnittlich 7,22 tödlichen Unfällen pro Million Tonnen geförderter Kohle gehört der türkische Bergbau zu den gefährlichsten der Welt. In China sterben im Vergleich dazu “nur” 1,27 Bergleute und in den USA 0,02 pro Million Tonnen Kohle.

Erst Ende April schmetterten die AKP-Abgeordneten im Parlament von Ankara einen Antrag von Oppositionsparteien ab, die Sicherheitsbedingungen im Bergwerk Soma zu überprüfen, wo sich zwei Wochen später die Katastrophe ereignete.

Von der Presse in Soma darauf angesprochen, behauptete Erdogan, es sei den Oppositionspolitikern lediglich darum gegangen, den politischen Kurs des Landes zu ändern, Soma sei gar nicht erwähnt worden. Eine Überprüfung des Protokolls ergab, dass Soma 38 Mal erwähnt wurde. “Wir fordern die Bildung einer Untersuchungskommission, die die Ursachen und Gründe der Arbeitsunfälle und Todesfälle im Berwerk Soma untersucht”, hatte ein CHP-Abgeordneter wörtlich erklärt.

Die Kritik der kemalistischen CHP und der anderen Oppositionsparteien an Erdogan ist in dieser Frage allerdings sehr verhalten. Auch sie befürworten eine rücksichtslose Ausbeutung der Arbeiterklasse und befürchten eine revolutionäre Erhebung. Deshalb mahnte CHP-Führer Kemal Kilicdaroglu vor einem Besuch in Soma: „Wir müssen den Vorfall zurückhaltend untersuchen.“

An den brutalen Arbeitsbedingungen und den niedrigen Löhnen wird sich auch nach der Katastrophe von Soma nichts ändern. Erdogan Kaymakci von Ingenieurs- und Architektenkammer kommentierte auf der Website Al-Monitor: „Die Gesunheit und das Wohlergehen der Bergleute ist zweitrangig wenn diese Bergwerke privatisiert oder an Subunternehmen vergeben werden, da es ihnen lediglich um die Erzielung von Profit geht.“ Sie hätten die Behörden immer wieder zu überzeugen versucht, die Arbeitsstandards zu verbessern – ohne Ergebnis.

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