Bergbaukatastrophe in der Türkei:

Weitere Beweise für kriminelle Fahrlässigkeit

Etwas mehr als eine Woche nach der Katastrophe, bei der 301 Bergarbeiter im Westen der Türkei umkamen, treten immer mehr Beweise für kriminelle Fahrlässigkeit der Mineneigentümer und führender Offizieller der Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan zutage.

EIne Demonstration in Istanbul

Die türkische Regierung heuchelt einerseits Mitleid mit den Opfern und ihren Familien und ordnete die Verhaftung mehrerer Manager und Ingenieure des Unternehmens an. Darunter befindet sich allerdings nicht der Vorstandsvorsitzende des Unternehmens Alp Gürkan. Andererseits ist sie bemüht, die Ursachen der schlimmsten Bergbau- und Industriekatastrophe in der türkischen Geschichte zu verschleiern und die Verantwortlichen zu schützen.

Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) trieb die Privatisierung und Deregulierung des Kohlebergbaus und weiterer Industriezweige maßgeblich voran, um die Voraussetzungen für einen Beitritt zur Europäischen Union zu verbessern und die Forderungen des IWF zu erfüllen. Nachdem die Soma Mine im Jahre 2005 privatisiert worden war, führte Gürkan – mit dem Segen der AKP-Regierung – ein brutales Programm zur Kosteneinsparung durch. Die Leben der Arbeiter wurden geopfert, um die Profite zu erhöhen.

Fast 2.000 Studenten, darunter einige, die Schutzhelme trugen, forderten die Regierung am Montag in der Hauptstadt Ankara, wo Erdoğan eine Rede zur Erinnerung an den türkischen Unabhängigkeitskrieg von 1919 hielt, zum Rücktritt auf. In den letzten Tagen reagierte die Regierung in Soma und den drei größten Städten des Landes – Istanbul, Ankara und Izmir – mit Gewalt auf den verbreiteten Widerstand. Damit sollte ein Signal an die internationalen Investoren ausgesandt werden, dass die Türkei auch weiterhin ein Billiglohnstandort bleiben wird.

Hürriyet, Habertürk und andere türkische Zeitungen berichteten am Montag, Staatsanwälte und Inspektoren hätten Unterlagen beschlagnahmt, die darauf hindeuteten, dass Messgeräte bereits vor der Katastrophe vom 13. Mai gefährlich hohe Werte giftiger Gase angezeigt hätten. Die zuständigen Mitarbeiter des Unternehmens trugen die hohen Werte weder in die Betriebsbücher ein, noch trafen sie Vorsichtsmaßnahmen. Mehrere Überlebende bestätigten dies gegenüber Associated Press, indem sie angaben, die Aufseher hätten die steigenden Gaswerte ignoriert. Es wurden auch steigende Temperaturen aufgezeichnet – ein Zeichen für einen Brand und die Gefahr einer unmittelbar bevorstehenden Methangas- oder Kohlenstaubexplosion. Laut dem Bericht hielten die offiziellen Firmenvertreter dessen ungeachtet den Betrieb der Mine aufrecht.

Staatsanwalt Bekir Şahiner erklärte am Samstag, ein vorläufiger Bericht weise darauf hin, dass glühende Kohle in einem Teil der Mine nach einigen Tagen zum Absturz einer Decke und zur Freisetzung giftiger Gase in der gesamten Mine geführt habe. Am Montag gab er an, die Ursache des Feuers habe – entgegen ursprünglichen Verlautbarungen – nicht in der Explosion einer Stromversorgungseinheit, sondern in dem Einsturz brennender Kohle bestanden.

Das Feuer brach am 13. Mai um 15:10 Uhr aus. Nach den von der Staatsanwaltschaft zusammengetragenen Daten wurde die Feuerwehr indessen erst 57 Minuten später gerufen und der Notrufkanal erst nach 63 Minuten benutzt.

Die Bergarbeiter waren 400 Meter unter Tage eingeschlossen, als die elektrisch betriebenen Aufzüge zur Oberfläche ihren Dienst versagten. Ihre Gasmasken hielten, Berichten zufolge, nur 45 Minuten lang – ein Hinweis darauf, dass die Verzögerung bei der Anforderung von Hilfe verhängnisvoll war. Hinzu kam, dass einige Masken nicht funktionierten. Es heißt, dass die meisten Opfer an einer Kohlenmonoxidvergiftung starben.

Mittlerweile kommen mehr Informationen über die brutalen Arbeitsbedingungen der Bergarbeiter ans Licht, die durchschnittlich gerade einmal 1.200 Türkische Lira (€ 420) verdienen. Am Dienstag veröffentlichte der Guardian ein Interview mit einem Bergarbeiter, der neun Jahre lang in der Zeche Soma gearbeitet hat. Um sich vor Racheakten zu schützen, äußerte er sich unter dem Pseudonym Veli Yilmaz. Er erklärte, die Bergleute arbeiteten in einem Klima der Angst und der Einschüchterung bei regelmäßig stattfindenden, zur Verhaltenskontrolle eingesetzten Bestrafungen und Geldbußen.

„Nach der Schilderung des Bergarbeiters wirken die Eigentümer und die Behörden bei gestellten Sicherheitsinspektionen zusammen, der Belegschaft wird gesagt, wie sie wählen soll, und der Drang nach Profit hat Vorrang vor grundlegenden Sicherheitsbedenken“, schrieb der Guardian.

Die Zeitung zitierte den Bergarbeiter mit den Worten: „Arbeitssicherheit? Es gibt keine Arbeitssicherheit. Sie sparen an allen Ecken und Enden. Die Vorarbeiter erhalten einen Bonus, wenn wir mehr Kohle produzieren als geplant. Deshalb geht es ihnen nur darum, dass schneller gearbeitet und mehr Kohle gefördert wird“.

Yilmaz sagte, die Inspektionen würden Wochen vorher angekündigt, damit das Unternehmen offensichtliche Verstöße abstellen, die schlechten Arbeitsbedingungen kaschieren und die Kontrollen bestehen kann. „Wir haben uns auf diese Besuche immer vorbereitet, alles sauber gemacht, gefährliche Schächte vorübergehend geschlossen und defekte Maschinen versteckt. In unserer Grube war es nicht erlaubt, dieselbetriebene Maschinen einzusetzen. Solche Maschinen wurden daher für die Inspektionen versteckt. Wir wurden auch angewiesen, ihnen zu sagen, dass alles in Ordnung sei, und dass wir zufrieden wären“ zitierte der Guardian den Arbeiter.

Der Bergarbeiter sagte, das Unternehmen habe den Arbeitern nach der Katastrophe verboten, mit Journalisten und Außenstehenden über irgendetwas zu sprechen, das mit dem Bergwerk zu tun hat. „Wir sind nur Arbeiter. Und entbehrlich. Diejenigen, die gefeuert werden, finden keine Arbeit in einer Mine in Soma mehr. Ich habe viele Freunde, die aus diesem Grund arbeitslos sind. Es gibt keine Jobs außerhalb der Gruben. Sie sind alles, was wir haben“.

Jede „Untersuchung“ durch die Regierung wird ein Reinwaschen sein. Das Unternehmen und die Regierung setzen unzweifelhaft auf wirtschaftliche Ängste, um Arbeiter einzuschüchtern und die Aufdeckung der Arbeitsbedingungen in der Mine in Grenzen zu halten. Nach Berichten sind 9.000 von 10.0000 Bergarbeitern in Soma verschuldet. Der Spiegel berichtete, dass vielen Frauen in der ländlichen Umgebung, die ihre Ehemänner in der Bergbaukatastrophe von Soma verloren haben, nichts anderes übrig bleibt, als Tagelohnarbeit auf den Feldern anzunehmen, um ihre Kinder zu ernähren. Das Magazin berichtete aus Elmadere, einem abgelegenen Dorf in der bergigen Region von Soma. In der verarmten Ortschaft, die nur aus 120 Häusern besteht, arbeitet mindestens ein männliches Mitglied jeder Familie in den Bergwerken, darunter viele, die unmittelbar mit Erreichen des 18. Lebensjahres angefangen haben.

Alles, was von Asli Yildirims Ehemann geblieben ist, ist eine blaue Mülltüte mit seiner verrauchten Kleidung und seinen Arbeitsschuhen, die ihr nach Hause gebracht wurde. Als der Gouverneur der benachbarten Provinz Izmir zu einem Fototermin erschien, musste er von der Polizei vor den wütenden Einwohnern beschützt werden.

Wütende Einwohner von Elmadere prangerten ihn an, einer sagte: „Wir werden nicht länger schweigen. Ihr könnt mit dieser Sache nur davonkommen, weil wir niemals etwas sagen. Weil wir arm und schwach sind. Aber Erdoğan wird dafür bezahlen“.

Der Versuch von Soma Holding, am Dienstag 3.200 Bergleute zur Wiederaufnahme der Arbeit in ihren drei Minen, unter Einschluss der Katastrophenmine, zu zwingen, rief großen Zorn hervor, der die größte Bergarbeitergewerkschaft in Soma dazu zwang, zur Arbeitsniederlegung aufzurufen, bis alle Minen inspiziert sind. Andere Bergbaubetriebe in der Region wiesen ihre Arbeiter ebenfalls an, an ihre Arbeitsstellen zurückzukehren.

„Wir wollen, dass Inspektoren der Direktion für Bergbauangelegenheiten Inspektionen vornehmen und wir werden solange streiken, bis dies erfolgt ist“, erklärte Tamer Küçükgencay, der Regionalvorsitzende der Bergarbeitergewerkschaft Maden-İş, gegenüber Reportern.

„Nach dem Pressetermin sah sich Küçükgencay selbst den Reaktionen einiger wütender ortsansässiger Demonstranten ausgesetzt und musste im Rathaus Zuflucht suchen“, berichtete Hurriyet .

Eine Gruppe streikender Bergleute der Kohleminen Işıklar und Ata Bacası, die ebenfalls von der Soma Coal Mining Company betrieben werden, unterbrach die Pressekonferenz, die vor dem Büro des Gouverneurs von Soma stattfand. Die Bergarbeiter gaben an, die Arbeitsbedingungen an ihren Minen seien noch viel schlechter als in der Mine, in der sich die Katastrophe ereignete. Sie erklärten, sie würden die Minen nicht wieder betreten, bevor die Arbeitsbedingungen nicht verbessert worden seien.

Arif Karabaca, ein Bergmann, der die Arbeit in der Kohlemine İmbat in der Nähe von Soma aufgegeben hat, sagte, auch an seiner ehemaligen Arbeitsstätte könne eine Katastrophe eintreten. Karabaca erklärte, seine frühere Mine, in der 6.500 Arbeiter beschäftigt sind, sei mit giftigem Gas gefüllt, das sich aus der Mine in Soma verbreitet habe. Falls die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen nicht getroffen würden, könne sich eine weitere Katastrophe ereignen, sagte er.

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