Perspektive

100 Jahre seit dem Attentat von Sarajewo

Am Samstag jährte sich zum hundertsten Mal das Ereignis, das den Ersten Weltkrieg auslöste: Am Vormittag des 28. Juni 1914, einem Sonntag, wurde Erzherzog Franz Ferdinand ermordet. Der Neffe und Thronfolger des österreichisch-ungarischen Kaisers Franz Josef wurde von einem Schuss niedergestreckt, als er am letzten Tag eines Staatsbesuchs in Bosnien mit einer Autokolonne durch Sarajewo fuhr. Auch seine Frau Sophie kam bei dem Anschlag ums Leben. Die Welt war schockiert, aber niemand erwartete, dass der Mord an dem Habsburger weitreichende Konsequenzen haben werde.

Und doch löste das Attentat eine Krise aus, die sich im Juli 1914 stetig zuspitzte. Die Reaktion der großen kapitalistischen Staaten Europas war von Spannungen geprägt, die aus geopolitischen und wirtschaftlichen Interessensgegensätzen herrührten und sich über die vorhergehenden zehn Jahre hinweg aufgebaut hatten. Die reaktionäre Habsburger Monarchie nutzte den Mord als Vorwand für einen Angriff auf Serbien, dessen nationalistische Bestrebungen die Vorherrschaft Österreich-Ungarns auf dem Balkan infrage stellten.

In Berlin gab das Regime von Kaiser Wilhelm II der österreichisch-ungarischen Regierung grünes Licht, den Serben ein völlig unannehmbares Ultimatum zu stellen, das einen Krieg unvermeidbar machte. Es nahm dabei billigend in Kauf, dass ein Einmarsch Österreichs in Serbien zu einer Intervention des russischen Zarenreichs führen würde, das eigene Interessen auf dem Balkan zu wahren hatte. Die Regierung des Deutschen Reichs betrachtete einen großen Krieg gegen Russland als Chance, Deutschland zu einer Vormachtstellung in Osteuropa zu verhelfen und damit das Kräfteverhältnis in ganz Europa zu seinen Gunsten zu verändern.

Diese Aussichten wiederum schreckten die herrschende Klasse in Frankreich auf, die sich mit Russland verbündet hatte, um der wachsenden Macht Deutschlands einen Riegel vorzuschieben. Im Fall eines Kriegs zwischen Deutschland und Russland, davon war die französische Bourgeoise überzeugt, durfte sie nicht abseits stehen und einen Sieg Deutschlands hinnehmen. Die deutsche Regierung ihrerseits hatte einen Angriff auf Frankreich längst in allen Einzelheiten vorbereitet, sollte es zum Krieg mit Russland kommen.

Und so nahm die Katastrophe ihren Lauf. In der ersten Augustwoche befanden sich die europäischen Großmächte im Kriegszustand: Deutschland und Österreich-Ungarn auf der einen Seite und Frankreich, Russland und Großbritannien auf der anderen.

Der Ablauf der Ereignisse, vom Mordanschlag in Sarajewo am 28. Juni bis zum Kriegsbeginn in der ersten Augustwoche, wurde in zahllosen Schriften rekonstruiert. Ein großer Teil dieser Literatur ist der Frage gewidmet, welcher Staat die Hauptschuld am Ausbruch des Kriegs trug. Diese Forschung hat wichtige Erkenntnisse über die Kriegsziele verschiedener Regierungen hervorgebracht, zum Beispiel über die weitreichenden Ambitionen des deutschen Kaiserreichs. Aber ein Verständnis der grundlegenden Kriegsursachen verlangt eine tiefer gehende Analyse.

Der Mordanschlag in Sarajewo war nur der Funke, der die aufs Äußerste angespannte geopolitische Lage in Europa und weltweit zur Explosion brachte. Vielleicht wäre der Krieg nicht im August 1914 ausgebrochen, wäre der Erzherzog nicht ermordet worden. Aber dann hätte ein anderer Vorfall, eher früher als später, zu einem allumfassenden Krieg geführt.

Tatsächlich hatte es in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine ganze Reihe von „Kriegspaniken“ gegeben, die aus Konflikten zwischen den kapitalistischen Großmächten über Kolonial- oder Finanzinteressen entstanden waren. Das politische Klima in Europa war immer angespannter geworden. Die Rüstungsausgaben hatten sich im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts dramatisch erhöht.

Die erstarkende sozialistische Bewegung der Arbeiterklasse unter der Führung der Zweiten Internationale zeigte sich angesichts der Bedrohung durch den kapitalistischen Militarismus in zunehmendem Maße alarmiert. Schon 1902 warnte der marxistische Theoretiker Rudolf Hilferding: „Aber diese Verschärfung des Kampfes um den Weltmarkt kann nicht ohne Folgen für die auswärtige Politik der kapitalistischen Nationen bleiben. (…) Verstärkung der Rüstungen, Vermehrung der Kriegsflotten, Reaktion im Innern, Gewalttätigkeit und Bedrohung des Friedens nach außen, das sind die notwendigen Konsequenzen der neuesten Phase kapitalistischer Handelspolitik.“ (1)

Mit dem Fortschreiten des Jahrzehnts wurden die katastrophalen Folgen des Imperialismus immer deutlicher, und der Kampf gegen Krieg rückte ins Zentrum der Arbeit der Zweiten Internationale. Auf ihrem Kongress 1907 in Stuttgart verurteilte die Zweite Internationale den Kolonialismus. Sie erklärte: „Der Kongress ist der Ansicht, dass die kapitalistische Kolonialpolitik ihrem innersten Wesen nach zur Knechtung, Zwangsarbeit oder Ausrottung der eingeborenen Bevölkerung führen muss. Die zivilisatorische Mission, auf die sich die kapitalistische Gesellschaft beruft, dient ihr nur als Deckmantel für die Eroberungs- und Ausbeutungsgelüste.“ (2)

Fünf Jahre später, 1912, verabschiedete die Zweite Internationale auf ihrem Kongress in Basel ein Manifest, in dem es hieß: „Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind die arbeitenden Klassen und deren parlamentarische Vertretungen in den beteiligten Ländern verpflichtet, unterstützt durch die zusammenfassende Tätigkeit des Internationalen Bureaus, alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung des Klassenkampfes und der Verschärfung der allgemeinen politischen Situation naturgemäß ändern. Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.“ (3)

Aber als der Krieg keine zwei Jahre später tatsächlich ausbrach, wollten die Führer der Zweiten Internationale von ihrem feierlichen Schwur nichts mehr wissen. Am 4. August stimmte die größte und politisch einflussreichste Partei der Internationale, die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), den Kriegskrediten zu und ermöglichte der Regierung dadurch, den Krieg zu führen. Dieser Verrat markierte das Ende der Zweiten Internationale als revolutionäre Kraft. Die Aufgabe, erneut eine revolutionäre Internationale aufzubauen, fiel denen zu, die sich gegen die Kapitulation der Zweiten Internationale vor den nationalen herrschenden Klassen und dem Imperialismus gestellt hatten. In diesem Kampf spielte Wladimir Iljitsch Lenin die führende Rolle. Mit seiner Ablehnung des Kriegs und Verteidigung des sozialistischen Internationalismus legte er die Grundlage für den Sieg der sozialistischen Revolution im Oktober 1917 in Russland.

Im Gegensatz zu den Vertretern der Zweiten Internationale, die zur Rechtfertigung ihres Verrats die jeweils eigene Regierung von der Kriegsschuld freisprachen, betonte Lenin, dass der Krieg eine Folge von Politik und Wirtschaft des Imperialismus sei, und dass alle Regierungen schuldig seien. Spätere Forschungen bestätigten Lenins Urteil. Jede Regierung war entschlossen, die globalen Interessen der kapitalistischen Klasse ihres eigenen Landes zu verteidigen. Ein Historiker schrieb: „Für fast alle war Krieg nicht länger die schlimmste Option.“ (4)

Der Weltkrieg war kein Zufall, kein versehentliches Ergebnis politischer Fehler. Er ergab sich unausweichlich aus den Gegensätzen des Kapitalismus und des Nationalstaatensystems. Kurz nach Beginn des Kriegs erklärte Leo Trotzki, ein weiterer revolutionärer Gegner des Verrats der Zweiten Internationale, seine historische Bedeutung:

„Der Krieg verkündet den Zusammenbruch des nationalen Staates. Doch zugleich auch die Zertrümmerung der kapitalistischen Wirtschaftsform… Der Krieg von 1914 ist der größte Zusammenbruch eines an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde gehenden ökonomischen Systems, den die Geschichte kennt.“ (5)

Aber Krieg war nicht der einzige Ausdruck der Widersprüche des Wirtschaftssystems. Trotzki sah noch eine andere Folge der Krise des Weltkapitalismus voraus:

„Der Kapitalismus schuf die materiellen Voraussetzungen einer neuen sozialistischen Wirtschaft. Der Imperialismus führte die kapitalistischen Völker in historische Wirrsale. Der Krieg von 1914 zeigt den Weg aus diesen Wirrsalen, indem er das Proletariat gewaltsam herausführt auf den Weg der Revolution.“ (6)

Einhundert Jahre sind seit Sarajewo vergangen. Im letzten Jahrhundert hat die Menschheit zwei verheerende Weltkriege durchlitten, die Dutzende Millionen Menschenleben gefordert haben. Auch die zahllosen lokalen Kriege, die der Imperialismus seit den Zweiten Weltkrieg zu verantworten hat, hinterließen Millionen Tote. Und dennoch wird heute erneut ein Weltbrand vorbereitet.

Einen weiteren Weltkrieg, bei dem unweigerlich Atomwaffen zum Einsatz kämen, würde die Menschheit nicht überleben. Eine solche Katastrophe muss verhindert werden.

Das Internationale Komitee der Vierten Internationale ruft an diesem denkwürdigen Jahrestag Arbeiter und Jugendliche in aller Welt auf, den Kampf gegen Imperialismus und Krieg aufzunehmen.

Anmerkungen

1) Rudolf Hilferding: Der Funktionswechsel des Schutzzolles: Tendenz der modernen Handelspolitik, in: Die Neue Zeit, Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie, 21. Jahrgang 1902-1903, 2. Bd. (1903), S. 278.

2) Internationaler Sozialisten-Kongreß Stuttgart 1907 vom 18. bis 24. August, Berlin 1907, S. 25

3) ebd. S. 66

4) The Arming of Europe and the Making of the First World War, von David G. Herrmann (Princeton, 1996), S. 226, aus dem Englischen

5) Leo Trotzki: Der Krieg und die Internationale, in: Ders.: Europa im Krieg, Arbeiterpresse Verlag, Essen 1998, S. 377-378

6) ebd. S. 378

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