Der Italienische Futurismus 1909-1944:

Rekonstruktion des Universums

Ausstellung im Guggenheim Museum in New York

Italian Futurism, 1909–1944: Reconstructing the Universe [Italienischer Futurismus 1909-1944, Rekonstruktion des Universums], im Solomon R. Guggenheim Museum in New York City, 21.Februar- 1.September, 2014

Die derzeitige Ausstellung in der Hauptrotunde des Guggenheim Museums in New York befasst sich mit einer Kunstrichtung des 20. Jahrhunderts, deren Schicksal letztlich mit dem Verrat an der Arbeiterklasse und dem Aufstieg des Faschismus in Italien nach dem Ersten Weltkrieg verbunden war.

Einige Kommentatoren haben vermutet, dass das Zögern auf Seiten des Museums und der Kuratoren schon früher eine umfassende Übersicht über den italienischen Futurismus zusammenzustellen, auf eine gewisse Überempfindlichkeit zurückzuführen ist, was die Verbindung dieser Kunstrichtung mit dem Faschismus nach der Machtergreifung Benito Mussolinis in Italien 1922 angeht. Wenn dies einmal der Fall gewesen sein sollte, dann scheint das wohl heute nicht mehr so zu sein. Die Ausstellung umfasst 360 Exponate von 80 Künstlern. Sie wurde von Vivien Greene kuratiert und als eine Meisterleistung gepriesen. Die Kunstkritikerin der New York Times Roberta Smith bezeichnete sie als „episch“.

Dieser Enthusiasmus ist jedoch weitgehend unberechtigt. Als Kunstrichtung war der Futurismus nicht viel mehr als eine italienische Variante anderer moderner Kunstbewegungen Europas. Er hatte viele formale Anliegen und Strategien mit dem Kubismus, Dadaismus und dem Divisionismus gemein und nahm viele davon in sich auf. Allenfalls ist das Ergebnis interessant und schlimmstenfalls sekundär.

Die Bewegung gruppierte sich um den Dichter Filippo Tommaso Marinetti (1876-1944). Ihre spätere Entwicklung ist mehr oder weniger gleichbedeutend mit seinem Namen. Marinettis langes Leben und seine Führungsrolle waren entscheidend für den Anschluss eines ursprünglich politisch heterogenen Künstlerkreises an Mussolinis Faschismus. Marinetti hatte seine Ansichten bereits 1909 in dem Gründungsdokument, dem Futuristischen Manifest zusammengefasst.[siehe: https://www.uni-due.de/lyriktheorie/texte/1909_marinetti.html" https://www.uni-due.de/lyriktheorie/texte/1909_marinetti.html] Darin hieß es laut der Titelseite der französischen Zeitung Le Figaro„Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt –, den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.“

Umberto Boccioni, Selbstbildnis

Das Ausmaß, in welchem die anderen italienischen Futuristen Marinettis Begeisterung für den Militarismus teilten, war sicher unterschiedlich, aber ihr kleinbürgerlicher Klassenstandpunkt machte sie unfähig, in den im zweiten und dritten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts stattfindenden italienischen Klassenkämpfen eine unabhängige Rolle zu spielen. Die meisten von ihnen sympathisierten mit den „Irredentisten“, die erreichen wollten, dass Italien am Ersten Weltkrieg teilnehmen sollte, um seine nördlichen Territorien zurückzugewinnen. Nach dem Krieg wurde ihre politische Verwirrung erfolgreich in die Kanäle des nationalistischen Chauvinismus gelenkt, den Mussolini vertrat. Er verfolgte das Ziel, die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse zu beseitigen und sie den Bedürfnissen der italienischen Bourgeoisie unterzuordnen.

Der rechtsgerichtete Kurs der Futuristen spiegelt sich in der Ausstellung zum italienischen Futurismus. Ihre Unterwerfung unter den Faschismus erreichte, dass alles, was auch immer ursprünglich originell und spontan an ihnen gewesen sein mochte, ausgelöscht wurde. Paradoxerweise ging die Kunst nach den Skulpturen von Umberto Boccioni auf der ersten Ebene der Galerie qualitativ „abwärts“, obwohl sie in der Spirale des Guggenheim-Baus nach oben ausgestellt wurde.

Wie die meisten Kunstwerke in Boccionis kurzem Leben – er starb 1916 bei einer Übung im Ersten Weltkrieg – ruft seine Bronzeskulptur Einzigartige Kontinuität der Formen im Raum (Forme uniche della continuità nello spazio) 1913 durch den fragmentarischen Charakter der menschlichen Form visuell beeindruckend ,wenn nicht sogar überwältigend, den Eindruck von Geschwindigkeit hervor.

Boccionis Gemälde, wie Die Stadt erhebt sich (La città che sale), 1910-11 ebenso wie Giacomo Ballas AbstrakteGeschwindigkeit +Geräusch(Velocità astratta + rumore) 1913-14 und Gino Severinis Blaue Tänzerin, 1911sind ähnlich in der lebhaften Farbgebung, den bogenförmigen, frenetisch vervielfältigten Formen, durch die Geschwindigkeit und der Eindruck des Tumults des modernen urbanen Lebens erweckt werden sollen. Carlo Carras Begräbnis des Anarchisten Galli(Funerali dell’anarchico Galli), 1910-11 gehört zu den überzeugenderen unter diesen Bildern, nicht zuletzt wegen seines Sujets.

Außer den Kopien der zahlreichen Manifeste Marinettis umfasst die Ausstellung andere Beispiele von „Worten der Freiheit“-Dichtungen, die oft in experimenteller Typographie gedruckt wurden, was ihre Freiheit der Ideen – oder vielleicht – Freiheit von ihnen ausdrücken sollte. Diese erinnern oberflächlich gesehen an die „Nonsense“-Gedichte und Darbietungen der Dada-Bewegung. Die Gruppe von Bohemien-Künstlern wollte darin ebenso Abscheu und Rebellion ausdrücken. Die Dadaisten, die zuerst in der Schweiz in Zürich und später in Deutschland tätig waren, setzten diese Techniken für andere Zwecke ein und verfolgten zumindest implizit, wenn nicht explizit eine linke Orientierung.

Man kann auch Ähnlichkeiten zwischen Entwürfen des Architekten Antonio Sant’Elia und den Designprinzipien des 1919 von Walter Gropius in Weimar gegründeten Bauhaus finden. Beide hatten die moderne Industrie und Technologie im Blick, um den Bedürfnissen der Massengesellschaft sowohl funktional als auch ästhetisch in Architektur und Möbeldesign gerecht zu werden. Wiederum jedoch war das Bauhaus mit einer allgemein linken Weltanschauung verbunden. Das bedeutete, dass es von den Nazis, nachdem sie 1933 an die Macht gekommen waren, geschlossen wurde und etliche seiner Werke der Zerstörung anheimfielen.

Die Ausstellung zum italienischen Futurismus umfasst die gesamte Periode bis zum Tode Marinettis 1944. Den Abschluss bilden Gemälde aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs – düstere, emotionslose Bilder dichter Reihen von gesichtslosen Soldaten, Panzern und Kanonenrohren. Die interessantesten waren Ansichten von Flugzeugen (aeropittura) wie Tullio Cralis Bevor sich der Fallschirm öffnet (Prima che si apra il paracadute) von 1939.

Den Höhepunkt der Ausstellung bilden die vielgerühmten Fresken vom Palazzo delle Poste (Postamt) in Palermo auf Sizilien. Sie stammen von der einzigen Frau der Gruppe, der Ehefrau Marinettis, Benedetta Cappa. Trotz der Bereitschaft der Futuristen, ihre Kunst der Sache des Faschismus zur Verfügung zu stellen, waren die Synthesen der Kommunikation(1933-34) der einzige öffentliche Auftrag futuristischer Kunst unter Mussolini. Benedettas Fresken waren als Apotheose der Bemühungen der Bewegung um die modernen Mittel der Massenkommunikation gedacht. Mit ihren Pastellfarben und eher farblosem dekorativem Design endet die Ausstellung jedoch nicht mit einem Ausbruch von Energie, sondern eher mit einem Gefühl von Erschöpfung – oder vielleicht auch Erleichterung.

In Literatur und Revolution (1924) setzte Leo Trotzki die internationalen futuristischen Bewegungen in Beziehung zu den Spannungen und Widersprüchen der Periode vor dem Ersten Weltkrieg. Der „bewaffnete Frieden“ und die Routine und Banalität des bourgeoisen politischen Lebens, so beobachtete er, lastete schwer „auch auf der Dichtkunst, während die in der Luft angestaute Elektrizität mächtige Entladungen entließ [und bevorstehende soziale Explosionen signalisierte.] Trotzki fügte hinzu: „Der Futurismus erwies sich als deren 'Vorahnung' in der Kunst“. Leo Trotzki: Literatur und Revolution, Essen 1994, S. 131 (Der in eckige Klammer gesetzte Halbsatz fehlt in der deutschen Ausgabe)

Er war nicht gerade beeindruckt vom heftigen „oppositionellen Charakter“ des Futurismus und bemerkte, dass seine „stürmischen Proteste gegen den bürgerlichen Alltag und die bürgerliche Kunst“ eine lange Tradition in der französischen Romantik und anderen Strömungen hatten. Darüber hinaus, so betonte er, wäre es naiv, die Dynamik des italienischen Futurismus und seine verbale Sympathie für die „Revolution“ der heruntergekommenen Bourgeoisie entgegenzusetzen. Letztere, so schreibt Trotzki sei „verwegen, elastisch und mit scharfen Krallen versehen“. Sie sei vollständig in der Lage gewesen „mit größtem Schwung die Gefühle und Stimmungen“ für ihre eigenen Zwecke auszunutzen, „die ihrer Natur nach dazu ausersehen waren, den Aufstand zu schüren“. Er erklärte, dass der italienische Faschismus in der Tat „mit 'revolutionären' Methoden zur Macht gekommen“ sei, „indem er die Massen, die Menge, die Millionen in Bewegung setzte, sie stählte und bewaffnete.“ Ebd. S.133

Seine Schlussfolgerung war: “Es ist kein Zufall, und kein Missverständnis, dass der italienische Futurismus im Strom des Faschismus aufgegangen ist.“ Ebd.

Die Guggenheim-Ausstellung zeigt keinerlei Interesse an dieser Geschichte. Weit entfernt davon, die Dynamik zu verstehen, welche die russische Avantgarde zur Revolution führte, während die Italiener mit Mussolinis Faschisten gemeinsame Sache machten, bleibt die Guggenheim-Ausstellung bei einem oberflächlichen Blick darauf stehen, der auf eine Art „Rehabilitation“ des italienischen Futurismus hinauszulaufen scheint. Dafür spricht auch die abgenutzte Gleichsetzung von „linkem“ und „rechtem“ Extremismus.

Auf die Frage, ob sie in Bezug auf den Futurismus meine, dass „es bei ihm um eine Selbstbefreiung für eine bessere Zukunft“ gegangen sei, oder „ob er mehr politisch“ gewesen sei, antwortete die Kuratorin Vivien Greene, die italienischen Futuristen „beginnen als linke revolutionäre Bewegung und dann – wie es so oft geschieht, wenn man sich an einem Extrem eines Totalitarismus befindet – kippt man um in die andere Richtung und endet auf der rechten Seite.“ (Interview mit Karen Day in Culture, 18. Februar 2014, Hervorhebung hinzugefügt.)

Das Argument, dass “Faschismus und Kommunismus” Zwillinge seien, klingt wie eine Warnung an diejenigen Künstler, die heute den Antrieb verspüren, politische Fragen zu untersuchen in einer Atmosphäre nie dagewesener sozialer Ungleichheit und wachsender Kriegsgefahr, die Erinnerungen wachruft an die Periode vor 100 Jahren als der Futurismus entstand.

Es gibt bisher nur wenige Anzeichen für eine Radikalisierung unter Künstlern. Zu ihnen gehören die wöchentlichen “art occupations” („Kunstbesetzungen“), die es anlässlich der Guggenheim Ausstellung gegeben hat, um gegen die Superausbeutung der Arbeiter zu protestieren, die an dem Neubau der Guggenheim Dependance in Abu Dhabi arbeiten.

Nach einer langen Periode die charakterisiert war durch Gleichgültigkeit gegenüber der Politik oder vorrangiger Beschäftigung mit Fragen wie Gender, Hautfarbe und sexueller Orientierung, wendet sich heute eine wachsende Anzahl von Künstlern weiter gefassten politischen Themen zu. Dies ist eine positive Entwicklung, aber die Zielrichtung dieser Kreise wird, wie in der Vergangenheit, von Entwicklungen außerhalb der Welt der Kunst abhängen. Wenn sie die Futuristen des 20. Jahrhunderts studieren und Lehren daraus ziehen, werden sich die ernsthaftesten dieser Künstler der internationalen Arbeiterklasse und dem Kampf für den Sozialismus zuwenden.

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