Kiew weitet Kämpfe in der Ostukraine aus

Die ukrainische Armee hat am Donnerstag ihre Angriffe auf die von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebiete im Osten des Landes ausgeweitet. Die Großstadt Donezk, in der vor den Kämpfen über eine Millionen Menschen lebten, wurde massiv unter Beschuss genommen.

Dabei setzte das ukrainische Militär Berichten zufolge schwere Artillerie sowie Granat- und möglicherweise Mehrfachraketenwerfer ein. Mehrere Wohnviertel seien beschossen worden. Erstmalig soll auch das Zentrum der Stadt angegriffen worden sein. Eine Reporterin der Nachrichtenagentur AFP berichtet, dass die berühmte polytechnische Universität der Stadt mit Granaten beschossen wurde. Dabei seien zwei Menschen getötet und ein Dozent verletzt worden.

Der Spiegel-Korrespondent Christian Neef berichtet von schweren Angriffen auf die beiden Einkaufszentren Green Plaza und Planeta. „Auf der Straßenkreuzung lagen drei Menschen: eine ältere Frau - beide Beine blutüberströmt - und gegenüber zwei jüngere Männer, von denen einer sofort tot war“, schildert der Reporter.

Der Regionalverwaltung zufolge wurden bei den Kämpfen mindestens fünf Zivilisten getötet. In den vergangenen Tagen seien in der ganzen Region Donezk bereits 74 Zivilisten getötet und 116 weitere verletzt worden. Die Behörden in Luhansk sprachen am Donnerstag von 22 getöteten Einwohnern innerhalb von 24 Stunden. Die Stadt stünde unter anhaltendem Artilleriefeuer. In Luhansk ist seit fast zwei Wochen die Strom und Wasserversorgung zusammengebrochen.

Offenbar versuchen die ukrainischen Streitkräfte auch die Flucht von Zivilisten zu erschweren. Der Berater des ukrainischen Verteidigungsministeriums, Anton Geraschenko, teilte am Donnerstag auf seiner Facebook-Seite mit, dass die Armeeposten rund um die Rebellengebiete mit Videokameras ausgestattet würden, um jeden einzelnen Flüchtling aufzuzeichnen. Zudem würden die Soldaten angewiesen, jedes Autokennzeichen sowie die Namen der Fahrer in einer speziellen Datenbank festzuhalten.

Eine Sprecherin der Separatisten in Luhansk sprach gegenüber der russischen Nachrichtenagentur Ria Novosti davon, dass ukrainische Scharfschützen im Grenzort Iswarino auf Fahrzeuge mit Flüchtlingen schössen, die Richtung Russland führen. Eine unabhängige Bestätigung dieser Angaben gibt es bisher nicht.

Die Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen berichtete Anfang der Woche bereits von 700.000 Menschen, die vor den Kriegshandlungen und dem Terror des Kiewer Regimes nach Russland geflüchtet seien. Russische Behörden erklärten, dass 80.000 dieser Flüchtlinge Asyl beantragt hätten.

Nach wie vor ist offen, ob die ukrainische Regierung einen Hilfskonvoi aus Russland passieren lasen wird. Die 287 Lastwagen, die Regierungsangaben zufolge 2000 Tonnen Lebensmittel, Medikamente und Stromgeneratoren geladen hat, setzten ihre Fahrt an die ukrainische Grenze am Donnerstag nach einer eintägigen Pause in der russischen Stadt Woronesch fort. Sie sollen die Menschen in Luhansk mit dem Nötigsten versorgen.

Unklar ist noch, an welcher Stelle der Grenze der Konvoi in die Ukraine einfahren wird. Zunächst war zwischen Moskau und Kiew vereinbart worden, die Lastwagen in der ukrainischen Stadt Charkiw vom Zoll inspizieren und anschließend von der Hilfsorganisation Rotes Kreuz nach Luhansk bringen zu lassen.

Das Regime in Kiew hatte aber mehrfach damit gedroht, den Konvoi nicht ins Land zu lassen. Zudem müsste der Konvoi in dieser Variante 300 Kilometer innerhalb der Ukraine zurücklegen. Berichten zufolge gab es Befürchtungen eines Überfalls auf die Lastwagen durch rechtsextremistische Kräfte, die von der ukrainischen Regierung im Kampf gegen die Separatisten im ganzen Land eingesetzt werden.

Die New York Times berichtete am Donnerstag, dass Diplomaten von einem Grenzübertritt bei der ukrainischen Stadt Izvaryne ausgingen. Dieser Abschnitt der Grenze wird überwiegend von den Separatisten kontrolliert.

Ein Reporter der Zeitung berichtete, dass der Konvoi bereits von der Nord-Süd-Autobahn abgefahren sei und nun in Richtung Izvaryne fahre. Einem Agenturfotografen zufolge haben die Lastwagen die Autobahn inzwischen verlassen und parken auf einem Feld in der Nähe der russischen Stadt Donezk. Von dort aus sind es noch etwa 50 Kilometer bis zur ukrainischen Grenze.

Unklar ist zur Zeit, ob dieses Szenario zwischen Russland und der Ukraine abgesprochen ist. Der Europa- und Asien-Beauftragter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), Laurent Corbaz, erklärte, dass er am Donnerstag zu Besuchen nach Kiew und Moskau aufbrechen werde, um die Organisation der Hilfslieferung zu besprechen.

Der Vorsitzende des ukrainischen Rates für nationale Sicherheit und Verteidigung (SNBO), Andrej Lyssenko, erklärte am Donnerstag, dass der Konvoi unverzüglich blockiert würde, falls die von den Kiewer Behörden gestellten Bedingungen für das Überqueren der ukrainisch-russischen Grenze nicht befolgt würden. „In einem solchen Fall wird die Autokolonne gestoppt. Deren Weiterfahrt wird mit allen Kräften verhindert“, sagte Lyssenko.

Zur Ablenkung von diesen Drohungen, schickte die ukrainische Regierung selbst 15 Lastwagen mit Hilfslieferungen nach Luhansk. Das Rote Kreuz werde den Konvoi in der Stadt Starobilsk übernehmen und die 240 Tonnen Hilfsladung unter der Zivilbevölkerung vor Ort verteilen, so ein Regierungsvertreter.

Auch das ukrainische Parlament beschloss ein schärferes Vorgehen gegen Russland. In zweiter Lesung verabschiedete die Werchowna Rada eine Liste von 65 Firmen und 172 Einzelpersonen aus Russland und anderen Staaten, die vom Staatspräsidenten mit Sanktionen belegt werden können. „Unser Land wird sich gegen den Aggressor verteidigen“, twitterte Regierungschef Arsenij Jazenjuk anschließend.

Bisher hält Jazenjuk den Inhalt der Liste geheim. Sollten die Strafmaßnahmen auch die beiden Energieunternehmen Gazprom und Transneft treffen, würde das einem Transitstop für russisches Gas gleichkommen. Vertreter der deutschen Bundesregierung und der EU hatten die Ukraine mehrfach vor einem solchen Schritt gewarnt, weil er die europäische Gasversorgung gefährden könnte.

Der russische Präsident Vladimir Putin äußerte sich bei einem Treffen russischer Parlamentarier und Regierungsvertreter sehr zurückhaltend über den Konflikt. Das Treffen fand auf auf der Halbinsel Krim statt, die als Reaktion auf den faschistischen Putsch in der Ukraine im März dieses Jahres an Russland angeschlossen wurde.

Er werde „alles tun, was von uns abhängt, damit dieser Konflikt möglichst bald beendet wird“, sagte Putin. Trotz der gegenseitigen Wirtschaftssanktionen wolle er die „Beziehungen zu unseren Partnern“ nicht abbrechen. Zugleich werde man nicht akzeptieren, dass man sich „uns gegenüber geringschätzig und schulmeisterhaft verhält“, so der russische Präsident.

Zugleich kündigte Putin an, ein eigenständiges Militärkommando auf der Krim einzurichten. Die russische Regierung berichtete zudem von einem kleineren Militärmanöver ihrer Streitkräfte an der Grenze zum Nato-Mitglied Estland. Daran seien 2600 Soldaten sowie 20 Hubschrauber und Flugzeuge beteiligt gewesen.

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