Der Kampf gegen Krieg und die politischen Aufgaben der Socialist Equality Party

Resolution der SEP (USA) von ihrem dritten nationalen Parteitag

Der dritte nationale Parteitag der Socialist Equality Party der Vereinigten Staaten nahm diese Resolution am 5. August einstimmig an. Der Kongress verabschiedete außerdem die ResolutionenStoppt den Angriff Israels auf Gaza!“ und „Verteidigt die Rechte der Einwanderer! Vereinigt die Arbeiterklasse von Nord-, Mittel- und Südamerika!

* * *

1. Die Socialist Equality Party unterstützt die Resolution “Sozialismus und der Kampf gegen imperialistischen Krieg” des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI). Die Resolution dieses Parteitags baut auf jener IKVI-Resolution auf und wendet sie auf die Arbeit der SEP in den Vereinigten Staaten an.

2. Der Aufruf, das IKVI „zum internationalen Zentrum der revolutionären Opposition gegen das Wiederaufleben von imperialistischer Gewalt und Militarismus“ zu machen, hätte nicht zeitgemäßer sein können. Einhundert Jahre nach Ausbruch des Ersten und fünfundsiebzig Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs führen die imperialistischen Mächte unter der Leitung der Vereinigten Staaten die Menschheit erneut in eine Katastrophe.

3. Seit 1939 und 1914 war die politische Lage in keinem einzigen Sommer derart angespannt wie 2014. Kurz vor Beginn des Parteitags haben das amerikanische politische Establishment und die Medien den Abschuss eines Passagierflugzeugs über der Ostukraine zum willkommenen Anlass genommen, antirussische Stimmungen zu schüren. Mit außerordentlicher Rücksichtslosigkeit setzten die Vereinigten Staaten eine diplomatische Krise in Gang, die schnell zu einem allumfassenden Krieg führen könnte. In der Zwischenzeit hat Israel, mit Unterstützung der Vereinigten Staaten, nach einer lang anhaltenden Bombardierung, der bereits Hunderte Palästinenser zum Opfer fielen, die Gelegenheit zu einer weiterreichenden Offensive im Gaza genutzt. Die Schärfe der internationalen Krise kann man an dem Tempo ermessen, in dem die Ereignisse aufeinander folgen. Allein im vergangenen Jahr fachten die USA den Bürgerkrieg in Syrien an, bedrohten den Iran, organisierten einen rechtsgerichteten Putsch in der Ukraine, stationierten erneut Militär im Irak und weiteten die „Schwerpunktverlagerung auf Asien“ [pivot to Asia] aus, die China umzingeln und isolieren soll. Zwischen den imperialistischen Großmächten beginnen sich offene Konflikte zu entwickeln, insbesondere zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland.

4. Krieg ist keine Ausnahme mehr. Vielmehr ist er zum vorrangigen Instrument des Imperialismus geworden, der damit versucht, seine Interessen zu verfolgen und seine Probleme zu lösen. Der Kampf gegen den Krieg muss, wie es die Resolution erklärt, in das Zentrum der Arbeit der internationalen Bewegung gestellt werden. Da die Vereinigten Staaten den Mittelpunkt des Weltimperialismus und damit die Kommandozentrale der internationalen Kriegsplanung und Konterrevolution bilden, kann ohne das Auftreten einer machtvollen Antikriegsbewegung in diesem Land die Opposition gegen den Krieg auf globaler Ebene nicht mobilisiert werden. Die amerikanische Arbeiterklasse muss ihren Platz in einem Kampf der internationalen Arbeiterklasse zur Beseitigung des Imperialismus und des kapitalistischen Nationalstaatensystems einnehmen.

5. Dies stellt die SEP und alle ihre Mitglieder vor eine große politische Verantwortung. Obwohl latent eine überwältigende Ablehnung von Krieg existiert, fehlen dieser Opposition Programm, Perspektive und Führung. Außerhalb des IKVI und der SEP gibt es keine andere Bewegung, die sich auch nur die Aufgabe stellt, die Arbeiterklasse in einem revolutionären Kampf gegen den Krieg zu führen, oder die dazu in der Lage wäre. Dieser Kampf erfordert sowohl in der Arbeiterklasse als auch innerhalb ihrer Vorhut ein Verständnis des unauflöslichen Zusammenhangs zwischen den auswärtigen Kriegen und der Ausbeutung im eigenen Land – zwischen Imperialismus und Kapitalismus.

Imperialismus und die historische Krise des amerikanischen Kapitalismus

6. In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts entluden sich die geopolitischen Spannungen und interimperialistischen Konflikte in zwei großen Kriegen, die nahezu hundert Millionen Menschenleben kosteten. Diese Kriege ergaben sich aus den Auseinandersetzungen der Großmächte um den Zugang zu Märkten, zu Rohstoffen, zu Arbeitskräften und um Einflussgebiete. Die Wirtschaftskrisen, die wiederholt den Weltkapitalismus während dieser Periode erschütterten, und die militärischen Konflikte zeugten von den grundlegenden Widersprüchen, die dem kapitalistischen System innewohnen: Das ist zum einen der Widerspruch zwischen dem globalen Charakter der Produktion und dem Nationalstaatensystem, zum andern der Widerspruch zwischen der vergesellschafteten Produktion und dem Privatbesitz an Produktionsmitteln.

7. Ein Jahrhundert später treten diese Widersprüche heftiger als jemals zuvor in Erscheinung. Die Globalisierung des Wirtschaftslebens – die weltweite Zusammenlegung der Produktion, das Auftreten transnationaler Konzerne, die Entstehung eines internationalen Finanzsystems, in dem Billionen Dollar täglich auf den Weltmärkten den Besitzer wechseln – hat die imperialistische Kriegsgefahr keineswegs verkleinert, sondern vielmehr gesteigert. Auf der einen Seite erfordert die objektive Logik der wirtschaftlichen Entwicklung einen Zusammenschluss der gesamten Welt auf Basis eines einheitlichen  und rational ausgearbeiteten Plans. Auf der anderen Seite rufen das Privateigentum an der Produktion sowie die Aufteilung der Welt in rivalisierende Nationalstaaten zunehmend Erschütterungen und Konflikte hervor.

8. Die Widersprüche des Weltkapitalismus drücken sich am gefährlichsten und besonders konzentriert in den Vereinigten Staaten aus. Die herrschende Klasse Amerikas hat sich zum Ziel gesetzt, jeden Teil der Weltwirtschaft und die gesamte Weltpolitik ihren Interessen unterzuordnen. Es gibt kein Land, auf welchem Kontinent auch immer, dessen Regierung sie nicht ihrem Willen unterwerfen will, keine Region, die sie nicht ihrer Kontrolle zu unterwerfen versucht, seien es Europa, Asien, der Nahe Osten, Lateinamerika und Afrika, die Arktis, der Cyberspace oder der Weltraum.

9. Seit einem Vierteljahrhundert befinden sich die Vereinigten Staaten praktisch im dauernden Kriegszustand, der sich ständig ausweitet. Die Auflösung der UdSSR im Dezember 1991 markierte einen entscheidenden Wendepunkt. Trotz der tiefen innenpolitischen Probleme im Verlauf der vorhergehenden Jahrzehnte interpretierte die amerikanische herrschende Klasse das Ende der Sowjetunion als das „Ende der Geschichte“ und als den endgültigen Triumph des Kapitalismus. In besonders fataler Weise schloss sie daraus, sie könne nun den Untergang ihres bedeutendsten geopolitischen Gegners ausnutzen und mit Hilfe militärischer Vorherrschaft ihrem langfristigen wirtschaftlichen Niedergang entgegensteuern, der im Zentrum der Krise der Nachkriegsordnung stand. Trotz der Verrätereien des Stalinismus und seiner Politik der „friedlichen Koexistenz“ mit dem Imperialismus stellte die Sowjetunion ein Hindernis bei den Militäroperationen der Vereinigten Staaten dar. Dieses Hindernis bestand nun nicht mehr. Der Zusammenbruch der Sowjetunion wurde als „unipolarer Moment“ oder Beginn einer "unipolaren Welt" beschrieben, der sich durch die unbestrittene amerikanische Übermacht auszeichne.

10. Als im Jahr 1991 die stalinistische Bürokratie den Übergang zum Kapitalismus und zur Liquidierung der verstaatlichten Eigentumsverhältnisse in der UdSSR begann, verkündete der erste amerikanische Präsident Bush eine „neue Weltordnung“, die auf der unumschränkten militärischen Übermacht Amerikas beruhte. Der Charakter dieser neuen Ordnung enthüllte sich in der Entscheidung, den Golfkrieg gegen den Irak zu entfesseln, mit dem die Vereinigten Staaten ihre Ansprüche auf die ölreichen Regionen des Nahen Ostens anmeldeten. Sie planten und provozierten diesen Krieg bewusst, um die Macht des amerikanischen Militärs und Washingtons Bereitschaft zu seinem Einsatz zu demonstrieren. Die primitive Ideologie, die das Denken der Strategen des amerikanischen Imperialismus seitdem beherrschte, wurde inmitten der Invasion vom Wall Street Journal auf den Punkt gebracht: „Gewalt ist ein legitimes Werkzeug der Politik“, schrieb die Zeitung. „Sie wirkt. Für die Eliten selbst heißt die Botschaft: Amerika kann führen. Hört auf zu jammern, denkt kühner. Beginnt jetzt.“

11. Ein Jahr später, im Jahr 1992, gab das Pentagon ein neues Strategiepapier heraus, das eine amerikanische „Grand Strategy“ skizzierte. Sie sollte „entwickelte Industrienationen davon abhalten, unsere führende Position herauszufordern oder gar eine größere regionale oder globale Rolle für sich anzustreben.“ Diese Strategie verpflichtete die Vereinigten Staaten auf einen unaufhörlichen und unnachgiebigen Gebrauch militärischer Macht. Politische Entwicklungen in jedem Teil der Welt wurden vom Standpunkt aus betrachtet, inwieweit sie Auswirkungen auf die amerikanische Dominanz hatten. Die amerikanische herrschende Klasse, die sich selbst zum obersten Schiedsrichter über die Weltereignisse ernannt hatte, sah sich nun zum Eingreifen selbst in den Regionen gezwungen, wo sie keine direkten und unmittelbaren wirtschaftlichen Interessen verfolgte. Jeder Schritt zurück, von einer Niederlage ganz zu schweigen, würde als ein Zeichen der Schwäche gewertet und hätte globale Konsequenzen.

12. Den globalen Charakter der amerikanischen Interessen erklärten politische Strategen der herrschenden Klasse wie der ehemalige Nationale Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski, der an der Organisierung des Stellvertreterkriegs gegen die Sowjetunion in Afghanistan in den 1980er Jahren teilgenommen hatte. In seinem Buch Die einzige Weltmacht (engl. The Grand Chessboard), das 1997 veröffentlicht wurde, forderte Brzezinski die Kontrolle über Eurasien, die riesige Landmasse, die sich von Westeuropa bis Chinas erstreckt und den Nahen Osten, Zentralasien, Russland und den indischen Subkontinent einschließt. „[D]er Fortbestand der globalen Vormachtstellung Amerikas hängt unmittelbar davon ab, wie lange und wie effektiv es sich in Eurasien behaupten kann“[1], schrieb er.

13. Im Einklang mit dieser Strategie führten die Vereinigten Staaten eine Reihe von Militäroperationen durch. Dem Golfkrieg ging die US-Invasion Panamas (1989) voraus, auf ihn folgten Interventionen in Somalia (1992-93) und Haiti (1993-96) sowie der Kosovo-Krieg im Jahr 1999. Der letztgenannte Krieg, den die Clinton-Regierung im Namen der „Menschenrechte“ vom Zaum brach, war der Höhepunkt einer zehn Jahre andauernden Kampagne zur Zerschlagung Jugoslawiens und der Beförderung der amerikanischen Vorherrschaft in Osteuropa und Zentralasien. Ebenso wie der Golfkrieg war er eine Demonstration der amerikanischen Macht und ein Praxistest der Theorie, dass die Militärtechnologie – in diesem Falle die Entwicklung präzisionsgelenkter Munition – den Vereinigten Staaten Kriegführung ohne Bodentruppen gestatten würde. Im Verlauf eines zweimonatigen Bombardements zerstörte das amerikanische Militär Serbiens soziale Infrastruktur und tötete Hunderte Menschen, ohne einen einzigen amerikanischen Verlust zu erleiden.

Der “Krieg gegen den Terror” und der amerikanische Imperialismus

14. Die Strategie der globalen Vormachtstellung stellte die herrschende Klasse vor eine Reihe von Problemen. Erstens verursachte der Plan, ein globales Imperium zu errichten, unglaubliche menschliche, wirtschaftliche und soziale Kosten und traf damit auf öffentlichen Widerstand. Keiner der Kriege, die die Vereinigten Staaten nach dem Zerfall der UdSSR führten, war populär. Der herrschenden Klasse machte das „Vietnamkriegssyndrom“ zu schaffen, die tief verwurzelte Skepsis der amerikanischen Bevölkerung gegenüber militärischen Auslandseinsätzen. Als Brzezinski sein Programm zur Kontrolle Eurasiens und damit der Welt entwarf, machte er die ominöse Bemerkung: „Da Amerika im eigenen Land strikt auf Demokratie hält, kann es sich im Ausland nicht autokratisch gebärden.“ Dies setze „der Anwendung von Gewalt (…) Grenzen, besonders [Amerikas] Fähigkeit zu militärischer Einschüchterung. (…) Das Streben nach Macht wird kein Volk zu Begeisterungsrufen hinreißen, außer in Situationen, in denen nach allgemeinem Empfinden das nationale Wohlergehen bedroht oder gefährdet ist.“[2]

15. Die terroristischen Anschläge vom 11. September 2001, die nie Gegenstand einer unabhängigen Untersuchung waren, wurden als "plötzliche Bedrohung und Kampfansage" benutzt. Unabhängig davon, wie weit Teile des Staatsapparates wohl selbst darin verwickelt waren, dienten die Anschläge der Rechtfertigung einer Politik, die entscheidende strategische Ziele verfolgte. Die zweite Bush-Regierung erklärte einen niemals endenden „Krieg gegen den Terror“. Dieser Krieg war von Anfang an nichts anderes als ein Vorwand, eine gigantische Lüge, um militärische Operationen im Ausland und den Abbau der Demokratie in den Vereinigten Staaten zu rechtfertigen. Die WSWS schrieb am 16. September 2001: „Die Angriffe auf das World Trade Center und auf das Pentagon müssen als Gelegenheit herhalten, weitreichende politische Pläne durchzusetzen, die vom äußersten rechten Flügel der herrschenden Elite bereits seit Jahren lautstark eingefordert werden.“[3]

16. Obwohl die meisten der Flugzeugentführer vom 11. September aus Saudi-Arabien stammten und vom saudischen Königshaus finanziert wurden, wurden die Anschläge zur Grundlage, um sofort Krieg gegen Afghanistan zu beginnen. Das Land hatte eine wichtige geostrategische Lage für Operationen in die energiereiche Region um das Kaspische Meer als auch nach Südasien. Vier Monate nach den Anschlägen weitete Bush die Kriegsdrohungen gegen den Iran, den Irak und Nordkorea aus, die er als „Achse des Bösen“ bezeichnete. Darauf folgte der Bericht zur Nationalen Sicherheitsstrategie von 2002, der das Recht beanspruchte, gegen jedes Land einen „präventiven“ Krieg zu führen, das die USA als eine potenzielle Bedrohung betrachteten. Die Grundlagen des Völkerrechts, die nach dem Zweiten Weltkrieg vereinbart wurden, und die Krieg nur als Selbstverteidigung zuließen, wurden hiermit zurückgewiesen. Die neue Strategie stellte eine Lizenz zur Entfesselung von Angriffskriegen dar und damit des Hauptkriegsverbrechens, das den Naziführern beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess zur Last gelegt worden war.

17. Diese “Präventivkriegs”-Doktrin wurde im Jahr 2003 mit der Invasion des Iraks angewendet, die sich auf Lügen über “Massenvernichtungswaffen” sowie über nichtexistente Verbindungen zwischen der Regierung Saddam Husseins und Al-Qaida stützte. Das wahre Ziel dieses Krieges lag jedoch darin, die Kontrolle über die ölreichen Regionen des Nahen Ostens sicherzustellen und gleichzeitig den Einfluss der anderen Mächte zurückzudrängen. Im Zusammenhang mit den Kriegen in Afghanistan und dem Irak machte die amerikanische Politik die Folter zu ihrem Programm und ließ das Gefangenenlager in der Guantánamo-Bucht sowie Geheimgefängnisse der CIA, „Black Sites“, auf der ganzen Welt errichten.

18. Die Strategie der Vorherrschaft in der Welt war allerdings mit einem zweiten Problem behaftet: Seinem Wesen nach konnte der amerikanische Kapitalismus damit nicht die Widersprüche aufheben, die seiner Krise zugrundeliegen. Im Jahr 1999, nach Beendigung des Balkankrieges, erklärte die SEP, dass der „Kult um die Präzisionswaffen“ die grundlegenderen Tendenzen wirtschaftlicher Entwicklung ignoriere. „Weder dieser Vorteil [innerhalb der Waffenbranche] noch die Produkte dieser Industrie können ihnen die Weltherrschaft sichern,“ schrieben wir. „Ungeachtet ihres ausgefeilten Waffenarsenals basiert die vorherrschende Rolle der USA im Weltkapitalismus heute auf einer weitaus dürftigeren finanziellen und industriellen Grundlage, als vor 50 Jahren.“[4] Im Jahr 2003, zu Beginn der US-Invasion des Iraks, schrieb die WSWS:

„Unabhängig davon, wie die ersten Stadien dieses Konflikts ausgehen werden, steuert der amerikanische Imperialismus auf eine Katastrophe zu. Er kann die Welt nicht erobern. Er kann den Massen des Nahen Ostens keine neuen, kolonialen Fesseln anlegen. Er kann seine inneren Krankheiten nicht mit dem Mittel des Kriegs heilen. Im Gegenteil, vom Krieg hervorgerufene unerwartete Schwierigkeiten und wachsender Widerstand werden alle inneren Widersprüche der amerikanischen Gesellschaft verschärfen.“[5]

19. Diese Prognose wurde vollauf bestätigt. Das Ergebnis aller ihrer Militäraktionen war, wie vom Internationalen Komitee vorhergesehen, katastrophal. Nirgendwo zeigt sich dies klarer als im Irak, wo selbst vom Standpunkt der strategischen Ziele der herrschenden Klasse aus betrachtet die Vereinigten Staaten keine einzige ihrer Absichten verwirklichen konnten. Nach einem Jahrzehnt seit dem illegalen Angriffskrieg der Bush-Regierung, in dem die Regierung von Saddam Hussein gestürzt wurde und in dessen Folge über eine Million Iraker getötet wurden, löst sich das Land in einem Bürgerkrieg auf. Die sektiererischen Konflikte, die Washington durch seine Strategie des Teilens und Herrschens angefacht hat, drohen ein noch größeres Fiasko entstehen zu lassen und den gesamten Nahen Osten in einen regionalen Krieg hineinzuziehen.

20. Die militärische Gewalt im Ausland war nicht in der Lage, die Widersprüche aufzuheben, die der Krise des amerikanischen und des Weltkapitalismus zugrundeliegen. In den beiden vergangenen Jahrzehnten ereignete sich eine Reihe von folgenschweren Finanzzusammenbrüchen: die asiatische Wirtschaftskrise im Jahr 1997, der Zusammenbruch des Investmentunternehmens Long Term Capital Management und die russische Staatsbankrotterklärung (beides 1998), das Platzen der dot.com-Blase im Jahr 2001, der Kollaps des „Subprime“-Hypothekenmarktes sowie die weltweite Finanzkrise von 2008. Die ökonomischen Grundlagen des amerikanischen Kapitalismus zerfallen weiter; seine Weltposition befindet sich im ungebremsten Niedergang. Inmitten der Wirtschafts- und Finanzkrisen enthüllte im Jahr 2005 die Katastrophe des Hurrikans Katrina vor aller Welt, wie weit die Infrastruktur in den Vereinigten Staaten zusammengebrochen ist, und welche Ausmaße die Armut und die soziale Ungleichheit angenommen haben.

21. Mit der Verschärfung der Krise des Weltkapitalismus hat sich die Abhängigkeit des amerikanischen Imperialismus von militärischer Gewalt nur weiter vertieft. Bereits 1928 legte Trotzki dar: „Während der Krise wird sich die Hegemonie der Vereinigten Staaten noch viel vollständiger, offener, schärfer und rücksichtsloser auswirken als während der Aufstiegsperiode.“[6] Krieg ist zu einem festen Bestandteil amerikanischer Politik geworden. Unter der Obama-Regierung haben die Vereinigten Staaten den Krieg in Afghanistan intensiviert und nach Pakistan ausgedehnt, Krieg gegen Libyen geführt und schicken jetzt erneut ihre Truppen in den Irak. Die Zahl der Länder, die für Militärinterventionen, Raketen- und Drohnenangriffe oder verdeckte Operationen ausgewählt werden, um Regimewechsel durchzusetzen, wird laufend vergrößert: darunter befinden sich der Sudan, Jemen, Pakistan, Iran, Syrien und die Ukraine. Zu Beginn seiner Amtszeit, in seiner Rede während der Entgegennahme des Friedensnobelpreises, erklärte Obama, das Recht der Vereinigten Staaten zu unilateralen Militäraktionen gehe „über Selbstverteidigung oder die Verteidigung einer Nation gegen einen Aggressor hinaus“. Obama ging noch weiter als seine Vorgänger und erklärte, die Vereinigten Staaten hätten das Recht, überall militärisch einzugreifen, wo ihre „Kernanliegen“ auf dem Spiel stehen.

22. Die Logik dieser Politik zwingt die USA dazu, ihre Aufmerksamkeit verstärkt ihren größten Rivalen zuzuwenden. Diese Wende wird umso dringender, je weiter Amerikas ökonomische Stellung einbricht. Sie liegt auch der „Schwerpunktverlagerung auf Asien“ zugrunde, einer Reihe militärischer Bündnisse und Abkommen, die die Obama-Regierung getroffen hat, um China einzukreisen. Die Strategen des amerikanischen Imperialismus kennen die Prognosen, dass der Umfang der chinesischen Wirtschaft bald denjenigen der amerikanischen überholen werde, und sind entschlossen, diesen Trend aufzuhalten. Der Aufstieg Chinas wird als Bedrohung des amerikanischen Einflusses betrachtet, nicht nur in Asien, sondern in der ganzen Welt. Gleichzeitig wird Russland, auch nach der Auflösung der Sowjetunion, noch als Hindernis für die Vereinigten Staaten wahrgenommen, die Politik in Osteuropa und im Nahen Osten zu diktieren, wie der schmachvolle Rückzug der Obama-Regierung im Sommer 2013 von ihren Angriffsplänen auf Syrien belegt. Um Russland entgegenzuwirken, haben die Vereinigten Staaten und Deutschland im Februar dieses Jahres von Faschisten angeführte Proteste in der Ukraine vorangetrieben und organisiert, um die prorussische Regierung zu stürzen und ein von Washington abhängiges Regime einzusetzen.

23. Die unersättlichen Begierden des amerikanischen Imperialismus führen unausweichlich nicht nur zu Konflikten mit Russland und China – die die Vereinigten Staaten auf einen neokolonialen Status herabdrücken wollen – sondern ebenso zu Konflikten mit den imperialistischen Großmächten in Europa und Asien. Der amerikanische Imperialismus agiert nicht in einem geopolitischen Vakuum. Die Katastrophe im Irak veranlasst die anderen imperialistischen Mächte zu einer Neubewertung ihrer eigenen Strategie und provoziert sie zur Anmeldung eigener unabhängiger Interessen. Welche zeitweiligen Bündnisse die imperialistischen Mächte auch immer geschlossen haben mögen, ihre Interessen stimmen, wie die Resolution des IK darlegt, nicht auf Dauer überein.

24. Diese strategischen Neubewertungen stehen hinter den plötzlich auftretenden Streitigkeiten zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten, ausgelöst durch einen Skandal über amerikanische Spione in Berlin. Der deutsche Imperialismus betrachtet die USA als strategischen Konkurrenten in Osteuropa und der immer wichtigeren Schwarzmeerregion, sowie in Russland und in China. Die Geostrategen der herrschenden Klasse in Deutschland sind immer weniger bereit, die eigenen Interessen den verantwortungslosen und zum Scheitern verurteilten Operationen der Vereinigten Staaten zu sehr unterzuordnen. Je schwächer der amerikanische Imperialismus erscheint, desto stärker treten die anderen imperialistischen Mächte mit einer unabhängigen Strategie hervor. In Asien hat Japan, das mit Unterstützung der Vereinigten Staaten seine Remilitarisierung betreibt, erfolgreich den Pazifismusparagraphen seiner Verfassung getilgt. Doch auch Japan hat seine eigenen unabhängigen Interessen. Die grundlegenden imperialistischen Konflikte, die in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in zwei Weltkriegen geführt haben, sind nicht verschwunden, sie haben bloß neue Formen angenommen.

Finanzkapital, Imperialismus und soziale Konterrevolution

25. Der Niedergang des amerikanischen Kapitalismus geht Hand in Hand mit einer weiteren gesellschaftlichen Veränderung in den Vereinigten Staaten, die direkt mit der zunehmenden imperialistischen Gewalt verbunden ist: die wachsende Dominanz des Finanzkapitals. Um alle historischen Errungenschaften der Arbeiterklasse wieder rückgängig zu machen, hat die amerikanische herrschende Klasse, getrieben von den Weisungen der Wall Street und der Aktienmärkte, eine Orgie von Firmenzusammenschlüssen und Entlassungen durchgesetzt. Während die Produktion in Länder außerhalb der Vereinigten Staaten verlegt wurde, wurde die Akkumulation des Reichtums im Lande immer stärker von Investitionen in die Produktion und in die sogenannte reale Wirtschaft abgekoppelt. Während 1980 nur sechs Prozent der Konzernprofite in der Finanzindustrie realisiert wurden, beträgt diese Ziffer heute über 40 Prozent.

26. „Der Imperialismus oder die Herrschaft des Finanzkapitals“, schrieb Lenin, „ist jene höchste Stufe des Kapitalismus, wo diese Trennung [des Geldkapitals vom produktiven Kapital] gewaltige Ausdehnung erreicht. Das Übergewicht des Finanzkapitals über alle übrigen Formen des Kapitals bedeutet die Vorherrschaft des [Rentiers] und der Finanzoligarchie, bedeutet die Aussonderung weniger Staaten, die finanzielle 'Macht' besitzen. In welchen Ausmaßen dieser Prozess vor sich geht, lässt sich beurteilen an Hand der Statistik der Emissionen, d.h. der Ausgabe von Wertpapieren aller Art.“[7] Diese Analyse Lenins zum Ursprung und Charakter des Ersten Weltkriegs trifft noch mehr auf den gegenwärtigen Zustand des Weltkapitalismus zu, dessen Weltfinanzzentrum sich in den Vereinigten Staaten befindet.

27. Die von der herrschenden Klasse praktizierte Politik des endlosen Kriegs wird nicht nur von ihren geostrategischen Interessen, sondern ebenso von der Furcht vor den Auswirkungen der sozialen und ökonomischen Krise im Innern der USA getrieben. Sie nimmt Zuflucht zu Militarismus und Krieg, um die sozialen Spannungen nach außen abzulenken. Die Finanzaristokratie steht an der Spitze eines sozialen Pulverfasses. Die soziale Ungleichheit hat wieder Ausmaße erreicht, wie seit dem Vorabend der Großen Depression nicht mehr. Laut eines Berichts von Emmanuel Saez and Gabriel Zucman im April hat sich der Vermögensanteil des obersten halben Prozentes der amerikanischen Bevölkerung von knapp 17 Prozent im Jahr 1978 auf gegenwärtig leicht unter 35 Prozent erhöht. Das oberste 0,1 Prozent besitzt schockierende 20 Prozent allen Reichtums.[8] Den größten Teil des Reichtums im Land monopolisieren Banken, Spekulanten und Kaufleuten der Wall Street für sich.

28. Im größten Wirtschaftsland der Welt lebt eine große Bevölkerungsmehrheit unter verheerenden Bedingungen. Die Vereinigten Staaten werden von Wirtschaftsstagnation, Massenarbeitslosigkeit und Armut heimgesucht. In dem Bestreben, alle Ressourcen in die Hände der Wall Street zu kanalisieren, werden sämtliche Errungenschaften der Arbeiterklasse aus früheren Epochen vernichtet. Das Gesundheitsvorsorgeprogramm der Obama-Regierung ist die Speerspitze zur Liquidierung der Arbeitgeberzuschüsse, ebenso wie von Medicare und Medicaid. Die institutionalisierte öffentliche Bildung wird durch profitorientierte Betriebe ersetzt. Detroit, einstmals das Zentrum der Automobilproduktion der USA und der Welt mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen des Landes, wurde in den Bankrott getrieben. Zum Stadtoberhaupt wurde en nicht gewählter, mit allen Machtmitteln ausgestatteter Finanzmanager ernannt. Auf sein Geheiß werden Renten und Gesundheitsleistungen zerstört, das Eigentum der Stadt verkauft und Tausende Betroffene von der lebensnotwendigen Grundversorgung mit Wasser abgeschnitten. Im ganzen Land stehen junge Menschen vor katastrophalen Lebensbedingungen. Einer gesamten Generation wird ein Leben endloser Verschuldung und wirtschaftlicher Unsicherheit zugemutet, in welchem keine Hoffnung darauf besteht, sich einen auskömmlichen Arbeitsplatz zu sichern.

29. Alle Institutionen des Staates sind zutiefst diskreditiert. Eine jüngst veröffentlichte Gallup-Umfrage ergab, dass das öffentliche Vertrauen in die Institution der Präsidentschaft auf 29 Prozent und in den Obersten Gerichtshof auf 30 Prozent gesunken ist. Das Vertrauen in den Kongress ist noch geringer: es liegt bei sieben Prozent, dem historisch niedrigstem Wert. Laut einer weiteren Umfrage vom Juli gab eine Mehrheit unter den 18- bis 29-Jährigen an, hinsichtlich fast jeder bedeutenden politischen Frage keiner Partei zu vertrauen. Die amerikanischen Eliten besitzen nicht mehr ihre traditionellen Werkzeuge, um Klassengegensätze zu überbrücken. Seit fünfzig Jahren wurde keine einzige bedeutende Sozialreform mehr eingeführt. Die Programme des New Deal und der Great Society gehören vergangenen Epochen an, und was von ihnen übrig blieb, wird heute zerschlagen. Die Gewerkschaften haben seit langem aufgehört, Organisationen der Arbeiterklasse zu sein. Heute fungieren sie als Hilfsagenturen der Konzerne und des Staates und sehen ihre Hauptaufgabe darin, die Forderungen der herrschenden Klasse gegen die Arbeiter durchzusetzen. Um soziale Spannungen zu unterdrücken, greift die herrschende Klasse immer häufiger auf Polizei und Gefängnisse zurück, wo etwa zwei Millionen Menschen hinter Gittern schmachten. Sie hält an der barbarischen Praxis der Todesstrafe fest und weitet sie sogar aus. Lokale Polizeiwachen werden in paramilitärische Milizen verwandelt.

30. Imperialistische Aggression und Raubzüge im Ausland sind die außenpolitischen Methoden des Finanzkapitals. Seine Innenpolitik besteht in sozialer Konterrevolution und Diktatur. „Das Finanzkapital will nicht Freiheit, sondern Herrschaft“, bemerkt Lenin, indem er Rudolf Hilferding zitiert. „Politische Reaktion auf der ganzen Linie ist eine Eigenschaft des Imperialismus“, fährt er fort. „Korruption, Bestechung im Riesenausmaß, Panamaskandale jeder Art.“[9]

31. Die Präsidentschaft, der Kongress, die Gerichte und die Medien – sie alle werden von der Finanzaristokratie kontrolliert, und immer breitere Bevölkerungsschichten sehen dies ebenso. Das gesamte Wirtschaftsleben wird den Diktaten der Wall Street und der Aktienmärkte untergeordnet. Diese Situation hat sich seit Beginn der Finanzkrise noch weiter verschärft. Die Finanzoligarchie, die die Wirtschaft ruiniert hat, nutzt die selbst geschaffene Krise, um einen historisch beispiellosen Vermögenstransfer in die eigenen Taschen zu organisieren. Begünstigt durch Billionen Dollar, die die Obama-Regierung und die Federal Reserve freisetzten, fahren die Konzerne höhere Profite ein als jemals zuvor, und an der Wall Street ist man wieder demselben Spekulationsfieber verfallen, das die finanzielle Kernschmelze ursprünglich ausgelöst hatte.

32. Unter diesen Bedingungen nutzt die herrschende Klasse den Krieg als Mechanismus zur Schaffung einer ideologischen Grundlage für den Staat und zugleich zur Rechtfertigung der Kriminalisierung abweichender Meinungen. Die soziale Giftmischung aus militärischer Gewalt und extremer sozialer Ungleichheit drückt sich im Zusammenbruch demokratischen Strukturen in den Vereinigten Staaten aus. Im Verlauf des letzten Jahres half NSA-Whistleblower Edward Snowden, einen illegalen Spionageapparat zu enthüllen, der praktisch die komplette elektronische Kommunikation sammelt, um die politischen und sozialen Aktivitäten der gesamten Bevölkerung zu beobachten. Präsident Obama beansprucht das Recht, amerikanische Bürger ohne Gerichtsprozess hinrichten zu lassen, und gibt auch zu, dies getan zu haben.

33. Ein massiver und niemandem verantwortlicher Apparat aus Militär, Geheimdiensten und Polizei arbeitet nach eigenem Belieben und saugt einen umfassenden Teil des produktiven Kapitals des Landes ab. Der Umfang der Kriegsindustrie ist heute um vieles größer als vor 53 Jahren, als Präsident Eisenhower vor der Macht des „militärisch-industriellen Komplexes“ warnte. Die Vereinigten Staaten geben annähernd eine Billion Dollar für die Finanzierung des Militär- und Geheimdienstapparates aus. Dies entspricht fast sieben Prozent des gesamten Bruttoinlandprodukts. Diese Ressourcen, die für die Werkzeuge der Zerstörung aufgebracht werden, gehen zu Kosten dringend benötigter Güter der Arbeiterklasse in den Vereinigten Staaten.

Der Aufstieg des “Menschenrechte”-Imperialismus

34. Die amerikanische herrschende Klasse inszenierte ihren “Krieg gegen den Terror” als ideologischen Vorwand, um öffentliche Unterstützung für auswärtige Kriege zu erhalten. Ungeachtet der pausenlosen Kriegspropaganda zeigen indessen alle Umfragewerte, dass Krieg zutiefst unpopulär ist. Der Wahlsieg Obamas im Jahr 2008, der als Kandidat des „Wandels“ propagiert wurde, war größtenteils das Ergebnis der weitverbreiteten Ablehnung der Kriegspolitik der Bush-Regierung. Die sechs vergangenen Jahre haben jedoch unwiderleglich demonstriert, dass es im Rahmen der existierenden politischen Strukturen keine Möglichkeit gibt, wie die Bevölkerung etwas verändern könnte. Demokraten und Republikaner vertreten gleichermaßen die imperialistische Politik der Finanzaristokratie. In den Medien werden die Lügen des politischen Establishments niemals in Frage gestellt oder entlarvt.

35. Bei der Legitimierung von Krieg und der Unterdrückung von Widerstand spielt eine Heerschar pseudolinker Organisationen eine entscheidende Rolle. Viele von ihnen haben ihre Wurzeln in der Antikriegsbewegung der 1960er Jahre. Ihr spezieller Beitrag besteht darin, nackte Aggression als Verteidigung von „Menschenrechten“ zu verbrämen und zu vermarkten. Sie präsentieren den amerikanischen Imperialismus als progressive humanitäre Macht. Vor elf Jahren, als die Irak-Invasion begann, nahmen zig Millionen Menschen auf der ganzen Welt und in den USA an gemeinsamen Massenprotesten in den Großstädten teil. Das vergangene Jahrzehnt erlebte eine scharfe militärische Eskalation. Doch die kleinbürgerlichen Organisationen, die im Februar 2003 die Proteste angeführt hatten, arbeiteten in diesen Jahren systematisch daran, die Antikriegsstimmung zu unterdrücken und dem politischen Establishment unterzuordnen.

36. Die Tatsache, dass diese politischen Tendenzen zum Lager des Imperialismus übergelaufen sind, bringt grundlegende gesellschaftliche Veränderungen zum Ausdruck, die Klassenfragen beinhalten. In den 1960er Jahren war die Antikriegsbewegung dominiert von radikalisierten Mittelschichten. Die Abschaffung des Wehrdienstes im Jahr 1973 war Bestandteil einer weitergehenden Strategie der herrschenden Klasse, die einen Teil der Mittelschichten in das politische Establishment integrieren wollte, um die Proteste zu zerstreuen und direkte Angriffe auf die Arbeiterklasse zu erleichtern. Die Kultivierung der Identitätspolitik spielte in diesem Prozess eine zentrale Rolle. Im Verlauf der folgenden Jahrzehnte gingen die sozialen Schichten, die die Antikriegsbewegung der Mittelklasse angeführt hatten, scharf nach rechts und stellten sich an die Seite der herrschenden Klasse, die sowohl in der Außen- und Innenpolitik eine Rechtswende vollzog.

37. In dieser Periode konnten außer der Konzern- und Finanzaristokratie, die das politische Establishment beherrscht, auch die oberen fünf oder zehn Prozent der privilegierten Mittelschichten einen substanziellen Zuwachs ihres Vermögens verzeichnen, der sich auf Börsengewinne und Immobiliengeschäfte stützte. Die Stärke der amerikanischen Aktienmärkte basiert indessen auf der dominierenden globalen Position des amerikanischen Kapitalismus und einer Intensivierung der Ausbeutung der Arbeiterklasse im eigenen Land. Auf diese Weise erschloss der Imperialismus sich eine neue Gefolgschaft. Ein bedeutsamer Wendepunkt waren die Balkankriege der 1990er Jahre, die von der Clinton-Regierung als Kriege für „Menschenrechte“ angepriesen wurden. Zu dieser Zeit schrieb die WSWS:

“Die objektive Wirkungsweise und die sozialen Folgen des anhaltenden Aktienbooms haben den Imperialismus in die Lage versetzt, unter Teilen der oberen Mittelklasse eine neue, treue Gefolgschaft zu gewinnen. Das reaktionäre, konformistische und zynische geistige Klima, das in den USA und Europa vorherrscht – gefördert von den Medien und abgestimmt auf eine weitgehend servile und korrumpierte akademische Gemeinde – widerspiegelt die gesellschaftliche Einstellung einer äußerst privilegierten Bevölkerungsschicht, die nicht das geringste Interesse daran hat, dass die ökonomischen und politischen Grundlagen ihres neu erworbenen Reichtums kritisch hinterfragt werden.“[10]

38. Die Obama-Regierung und die Identitätspolitik lieferten die Argumente für Teile der gehobenen Mittelklasse und der Akademikerzunft sowie für pseudolinke staatskapitalistische und pablistische Organisationen, mit denen sie sich mit dem Imperialismus nicht bloß aussöhnen konnten, sondern die sie zu den glühendsten Fürsprechern des „Menschenrechte“-Imperialismus wurden.

39. Im Verlauf der letzten sechs Jahre unterstützten diese Organisationen immer direkter die Militär- und Geheimdienstoperationen der Vereinigten Staaten. In Ägypten halfen sie, eine revolutionäre Massenbewegung in die Sackgasse zu führen, indem sie zuerst Illusionen in die „demokratische“ Rolle des Militärs schürten, dann die Bewegung der Muslimbruderschaft und schließlich einen Putsch unterordneten, der das Militär direkt zurück an die politische Macht brachte. In Libyen trommelten sie für eine Nato-Intervention zum Sturz der Regierung von Muammar Gaddafi und stellten dies als eine notwendige Maßnahme zur Verteidigung von Menschenrechten dar. In Syrien halfen sie, einen von der CIA gesteuerten Bürgerkrieg als revolutionäre Bewegung für Demokratie zu bemänteln, an dessen Spitze die Al-Qaida und andere fundamentalistische islamistische Organisationen standen. Ein prominenter Anführer einer pseudolinken australischen Organisation brachte die in diesen Schichten vorherrschende Stimmung auf den Punkte: Um seine Unterstützung für die imperialistische Operation in Syrien zu rechtfertigen, verurteilte er den „reflexartigen Antiimperialismus“.

40. Bei dem vom Imperialismus betriebenen Regimewechsel in der Ukraine haben kriegsbegeisterte Akademiker und pseudolinke Organisationen Vasallendienste geleistet, um einen faschistischen Putsch, der von Anfang an von den USA und Deutschland unterstützt wurde, als „Massenrevolte für Demokratie“ (in den Worten der französischen Neuen Antikapitalistischen Partei) oder als „eine Massenbewegung, die das Janukowitsch-Regime stürzte“ (wie es die amerikanische International Socialist Organization ausdrückte) zu verkaufen. Mit ihrer Unterstützung für diese Operation haben sich diese Kräfte direkt an die Seite von faschistischen Gruppen gestellt, zu denen der Rechte Sektor und Swoboda gehören und die die ukrainischen Nationalisten glorifizieren, die im Holocaust mit den Nazis kollaboriert haben. Ilja Budrajzkis, einer der Führer der Russischen Sozialistischen Bewegung, rechtfertigte ausdrücklich die Zusammenarbeit mit den Faschisten und erklärte, dass es ohne sie „nie Barrikaden in der Gruschewskogo-Straße oder besetzte Ministerien gegeben hätte, die in ‘Hauptquartiere der Revolution’ verwandelt wurden.“

41. Ein Mechanismus, dessen sich pseudolinke Kräfte bedienen, um die amerikanische und europäische Aggression zu legitimieren, besteht in der fälschlichen Bezeichnung Russlands und Chinas als „imperialistische“ Länder. Auf diese Weise versuchen sie, die öffentliche Meinung für eine Unterstützung der immer bedrohlicheren Provokationen der imperialistischen Mächte in Asien und Osteuropa zu gewinnen. Ihre Behauptung, bei der sie Russland und China völlig aus dem historischen Zusammenhang lösen, geht auf die Theorie zurück, die Sowjetunion und China (seit der Revolution von 1949) seien „staatskapitalistisch“ gewesen, und die tiefgreifenden Veränderungen, die mit der Restauration des Kapitalismus einhergingen, hätten daher keinen Wandel in den gesellschaftlichen Grundlagen der Regime bedeutet. Die Zerstörung der verstaatlichen Eigentumsverhältnisse ging auf die Bemühungen des Finanzkapitals zurück, beide Länder auf Kolonialstatus herabzudrücken, hatte aber nichts mit einem Aufstieg zu neuen Zentren imperialistischer Macht zu tun.

42. Mit großartiger Voraussicht analysierte Trotzki im Jahr 1929 die sozioökonomischen Konsequenzen einer Restauration des Kapitalismus in der UdSSR. Russland wäre weit entfernt davon, „imperialistisch“ zu werden, stellte er fest. „Ein kapitalistisches Russland könnte nicht einmal die drittrangige Position einnehmen, die dem zaristischen Russland durch den Verlauf des Krieges vorherbestimmt war. Der russische Kapitalismus von heute wäre ein abhängiger, halbkolonialer Kapitalismus ohne jede Perspektive.“[11] Die Socialist Equality Party steht in unerbittlicher Opposition zu den bürgerlichen Regimen in China und Russland. Diese repräsentieren die Interessen einer schmalen Schicht von Kapitalisten und Oligarchen, sind nicht wirklich unabhängig vom Imperialismus und unfähig, prinzipiellen Widerstand gegen die Machenschaften der Vereinigten Staaten und Europas zu leisten. Unsere Opposition zu diesen Regimen wurzelt jedoch in dem Kampf zur Mobilisierung der Arbeiterklasse als unabhängige politische Kraft auf der Grundlage eines sozialistischen Programms.

43. Nur wenn die Arbeiterklasse ihre eigene politische Unabhängigkeit in Opposition zu allen bürgerlichen und kleinbürgerlichen politischen Kräften zum Tragen bringt, indem sie alle Agenturen der herrschenden Klasse einer unerbittlichen Kritik unterzieht, kann sie all jene auf ihre Seite gewinnen, die nach einem Weg im Widerstand gegen den imperialistischen Krieg suchen. Die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse erfordert in den Vereinigten Staaten einen schonungslosen Kampf gegen die Parteien der Demokraten und Republikaner (die beiden ersten Parteien der Wirtschaft) und gegen alle Organisationen im Umkreis dieser Parteien, die ihre politische Vorherrschaft aufrechterhalten wollen.

Baut die Socialist Equality Party auf!

44. Dieselben Widersprüche, die dem imperialistischen Krieg Auftrieb geben, verschärfen den Klassenkampf. Der Imperialismus ist die Antwort von Räubern auf die unlösbare Krise des Weltkapitalismus. Es ist der Versuch der Finanzaristokratie, die Weltwirtschaft unter einem einzigen Hegemon zu vereinen. Es ist der Weg des Kriegs. Die fortschrittliche Antwort auf dieselbe Krise ist die sozialistische Revolution, die Lösung der Arbeiterklasse. Die Frage ist: Welche Lösung wird sich schneller entwickeln, die Tendenz zum Krieg oder die Tendenz zur sozialen Revolution? Die Barbarei der herrschenden Klasse und ihr Gesellschaftssystem oder die unabhängige politische Mobilisierung der Arbeiterklasse? Die Entscheidung über diese Frage wird im Bereich der Politik fallen. Wie Trotzki am Vorabend des Zweiten Weltkriegs schrieb, ist die Krise der Menschheit auf die Krise der revolutionären Führung zurückzuführen. Die Lösung dieser Krise hängt von den Handlungen und Entscheidungen der Partei ab.

45. Die Socialist Equality Party hält unerschütterlich daran fest, dass sich der Kampf gegen den Imperialismus theoretisch, politisch und organisatorisch auf die Arbeiterklasse stützen muss. Es ist die Arbeiterklasse, die die Konsequenzen sowohl der Wirtschaftskrise als auch der Kriegspolitik der herrschenden Klasse erleiden muss. Es ist auch die Arbeiterklasse, deren Interessen sie in Opposition zum kapitalistischen System treibt. Darüber hinaus ist Arbeiterklasse die einzige internationale Klasse, deren Interessen über alle nationalen Grenzen hinausgehen. „Die Arbeiter haben kein Vaterland“, erklärten Marx und Engels vor mehr als 150 Jahren.

46. Die SEP muss eine unablässige politische Arbeit leisten, um das Bewusstsein der am weitesten entwickelten Teile der Arbeiterklasse zu entwickeln. Sie muss den endlosen Verfälschungen und Propagandalügen entgegentreten, die von den Medien und den Sprachrohren der herrschenden Klasse ausgehen. Die SEP muss daran arbeiten, dass Arbeiter gegen alle Formen von Nationalismus und Chauvinismus immun werden und Solidarität mit dem Kämpfen der Arbeiter in allen Ländern entwickeln. Den Imperialismus kann nur eine internationale Bewegung besiegen. Aber der Aufbau einer internationalen Partei bedeutet, in jedem Land die Arbeiter für das Programm und die Perspektive der Internationale zu gewinnen.

47. Der Aufbau einer Bewegung innerhalb der Arbeiterklasse erfordert die systematische Entlarvung aller Pseudolinken und, in den Worten der Resolution des IK, der „unzähligen, früheren Pazifisten, Liberalen, Grünen und Anarchisten“, die sich hinter den Krieg gestellt haben. Die Arbeiterklasse muss darüber aufgeklärt werden, auf welche Weise „Menschenrechts-“ und Identitätspolitik zur neuen Rechtfertigung für imperialistische Aggressionen wurden. Der Kampf gegen Imperialismus hat stets die schärfste politische Differenzierung erfordert. „Der Kampf gegen den Imperialismus ist eine hohle, verlogene Phrase, “ schrieb Lenin 1916, „wenn er nicht unlöslich verknüpft ist mit dem Kampf gegen den Opportunismus.“[12] Zu Lenins Zeiten ging es darum, all jene angeblichen „Sozialisten“ zu entlarven und mit ihnen zu brechen, die den Weltkrieg unterstützten, ebenso wie jene, die ihnen einen Deckmantel verschafften. Heute bedeutet dies, den Kampf gegen all jene zu führen, die den Imperialismus unterstützen, und insbesondere gegen die Organisationen im Umkreis der Demokratischen Partei: die Gewerkschaften, das Magazin Nation, die International Socialist Organization, die Sozialistische Alternative und das ganze Spektrum an Organisationen, die für privilegierte Schichten der gehobenen Mittelklasse sprechen.

48. Der Kampf gegen den Krieg ist nicht getrennt, sondern integraler Bestandteil aller anderen Aspekte der Parteiarbeit. Die Socialist Workers Party der Vereinigten Staaten erklärte in einer Resolution des Jahres 1939, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges: „Der Charakter der gegenwärtigen Epoche diktiert der Partei unmissverständlich ihre Hauptaufgabe: den Kampf gegen den Krieg (…) Erforderlich ist nicht eine zeitweilige oder dazwischen geschaltete Kampagne, sondern eine konsequente, bewusste und auf Dauer angelegte Vorgehensweise.“ Das gilt genau so für heute. Der Kampf gegen den Krieg muss mit der Mobilisierung der Arbeiterklasse zur Verteidigung aller ihrer sozialen und politischen Rechte verknüpft sein.

49. Der Kampf gegen den Imperialismus ist ein Kampf gegen den Kapitalismus. Alle grundlegenden Fragen, die mit der Opposition gegen den Krieg verknüpft sind – die Forderung nach der Abschaffung des stehenden Heeres, die Forderung nach dem sofortigen Abzug aller US-Truppen aus dem Ausland, die Forderung nach der Auflösung des militärisch-geheimdienstlichen Apparates –, stellen die Aufgabe der unabhängigen politischen und revolutionären Mobilisierung der Arbeiterklasse ins Zentrum. Ihr Ziel ist es, die politische Macht zu erobern und die Weltwirtschaft auf der Grundlage eines sozialistischen Programms umzugestalten, das eine rationale und demokratische Planung der Produktion zur Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse statt des privaten Profits beinhaltet.

50. Die Stärke des Internationalen Komitees der Vierten Internationale und der Socialist Equality Party entspringt der Tatsache, dass ihr Programm mit der Logik der weltwirtschaftlichen Entwicklung übereinstimmt und die Interessen der Arbeiterklasse formuliert. Das Anwachsen der Partei ist der bewusste Ausdruck dieses objektiven Prozesses. Allerdings folgt dieses Anwachsen nicht automatisch. Es ist erforderlich, den Kampf für das revolutionäre Programm aufzunehmen. Es ist die Aufgabe jedes Mitglieds, im Rahmen der Parteistruktur, die SEP in den wichtigsten Fabriken, Arbeitsstätten, Schulen und Universitäten aufzubauen, um die Keimzellen und die Führung für die künftigen Kämpfe der Arbeiterklasse zu entwickeln. Die IKVI-Resolution schließt mit den Worten: „Der Aufbau der Vierten Internationale unter der Führung des Internationalen Komitees ist die zentrale strategische Aufgabe.“ In den Vereinigten Staaten heißt dies, die Socialist Equality Party aufzubauen.

Anmerkungen:

1) Zbigniew Brzezinski: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Frankfurt am Main 1999, S. 53.

2) Ebd., S. 59f.

3) „Weshalb die Regierung Bush einen Krieg will“ von der WSWS-Redaktion, World Socialist Web Site, 16. September 2001.

4) „Nach der Schlächterei: Politische Lehren aus dem Balkankrieg“ von David North, WSWS, 16. Juni 1999.

5) “Die Krise des amerikanischen Kapitalismus und der Irakkrieg“ von David North, WSWS, 25. März 2003.

6) Leo Trotzki: Der Programmentwurf der Kommunistischen Internationale. Kritik der grundlegenden Thesen (1928), in: Ders.: Die Dritte Internationale nach Lenin, Essen 1993, S. 29.

7) Wladimir Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1917), in: LW, Bd. 22, Berlin 1960, S. 242.

8) Emmanuel Saez and Gabriel Zucman, “The Distribution of US Wealth, Capital Income and Returns since 1913” [Die Verteilung von Vermögen, Kapitaleinkommen und Einnahmen in den Vereinigten Staaten seit 1913], März 2014, (aus dem Englischen)

9) Wladimir Lenin: Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus  (1916), in: LW, Bd. 23, Berlin 1957, S. 103.

10) „Nach der Schlächterei: Politische Lehren aus dem Balkankrieg“ von David North, a. a. O.

11) “Is Parliamentary Democracy Likely to Replace the Soviets?” [Kann parlamentarische Demokratie die Sowjets ersetzen?] Writings of Leon Trotsky (1929), S. 55, (aus dem Englischen).

12) Wladimir Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1917), a. a. O., S. 307.

Loading