Geistige Mobilmachung für den Ersten Weltkrieg

Die Wiederbelebung des deutschen Militarismus hat im gebildeten Kleinbürgertum begeisterte Anhänger gefunden. Seit der Bundespräsident und die Bundesregierung Anfang des Jahres zum „Ende der militärischen Zurückhaltung“ aufriefen, können es viele Journalisten und akademische „Experten“ kaum abwarten, wieder deutsche Soldaten zu Kampfeinsätzen in die Ostukraine oder in den Nahen Osten zu schicken. Während die Mehrheit der Bevölkerung den Militarismus ablehnt, rühren sie die Kriegstrommel und rufen nach Aufrüstung.

Anlass genug, an das Verhalten der gebildeten Eliten vor hundert Jahren zu erinnern, das erschreckende Parallelen aufweist!

Am 4. Oktober 1914 erschien der „Aufruf an die Kulturwelt“. Darin rechtfertigten 93 Wissenschaftler, Künstler und Literaten die blutigen Verbrechen der deutschen Truppen in Belgien und verherrlichten den Krieg als Kampf für die Kultur. Er erschien zunächst in deutscher Sprache, in den folgenden Tagen auch in zehn Übersetzungen und löste wütende Reaktionen unter Wissenschaftlern in England und Frankreich aus, die ihrerseits heftige Erklärungen gegen die „deutschen Barbaren“ verfassten.

Zu den Unterzeichnern des „Aufrufs an die Kulturwelt“, auch als „Manifest der 93“ bekannt, gehörten zahlreiche herausragende Gelehrte wie Wilhelm Röntgen, Max Planck (der später seine Unterschrift zurückzog), Wilhelm Foerster, Ernst Haeckel, Paul Ehrlich und Emil Fischer, darunter etliche Nobelpreisträger. Unterschrieben hatten auch bekannte Künstler wie Max Liebermann, Max Reinhardt, Engelbert Humperdinck, Gerhart Hauptmann und Max Halbe, der Architekt und Vorläufer des Bauhauses Bruno Paul, der expressionistische Lyriker Richard Dehmel sowie die Wiener Secessionisten Max Klinger und Maximilian Lenz.

Den Text hatten der Bühnenautor Ludwig Fulda und der naturalistische Lyriker und Dramatiker Hermann Sudermann im September verfasst und mit dem Reichsmarineamt und dem Auswärtigen Amt abgestimmt.

Zu diesem Zeitpunkt verübten die deutschen Truppen bereits grausame Verbrechen in Belgien, das sie trotz dessen Neutralität überfallen hatten. Sie zerstörten die alte Stadt Löwen (Leuwen) mitsamt ihrer mittelalterlichen Bibliothek, führten Geiselerschießungen und Strafaktionen gegen die Zivilbevölkerung durch und brannten Dörfer nieder. Allein in dem belgischen Ort Dinant wurden am 23. August 674 Zivilisten ermordet. Insgesamt wurden rund 6.000 Menschen Opfer der deutschen Armee.

Das hinderte die Unterzeichner des Aufrufs nicht, den Krieg als Verteidigung der Kultur zu rühmen. Im Stil der Luther-Thesen schrieben sie:

Es ist nicht wahr, daß unsere Truppen brutal gegen Löwen gewütet haben. An einer rasenden Einwohnerschaft, die sie im Quartier heimtückisch überfiel, haben sie durch Beschießung eines Teils der Stadt schweren Herzens Vergeltung üben müssen.

Es ist nicht wahr, daß unsere Kriegführung die Gesetze des Völkerrechts mißachtet. Sie kennt keine zuchtlose Grausamkeit. Im Osten aber tränkt das Blut der von russischen Horden hingeschlachteten Frauen und Kinder die Erde, und im Westen zerreißen Dumdumgeschosse unseren Kriegern die Brust. Sich als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten das Recht, die sich mit Russen und Serben verbünden und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu hetzen.“

Der Aufruf gipfelte in der Verherrlichung des deutschen Militarismus – „Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt“ – und der Beschwörung der Einheit von Volk und Heer: „Deutsches Heer und deutsches Volk sind eins. Dieses Bewußtsein verbrüdert heute 70 Millionen Deutsche ohne Unterschied der Bildung, des Standes und der Partei.“

Schließlich endet der Aufruf mit dem zynischen Credo, man vertrete „ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven, eines Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle“.

Der Aufruf war der bekannteste einer Vielzahl ähnlicher Aufrufe, Briefe und Reden von Akademikern. Nach der Kriegserklärung des Kaisers setzte eine regelrechte geistige Mobilmachung ein. Die „deutschen Künstler, Schriftsteller, Journalisten und Akademiker gehörten im August 1914 zu den begeistertsten Deutschen“, schreibt der Historiker Jeffrey Verhey.(1) Auch Wolfgang Kruse betont, dass „Theologen, Dichter und Denker in einer wahren Flut von Aufrufen, Predigten, Reden und Schriften den Sinn des Krieges zu bestimmen und die Kriegspolitik der eigenen Nation zu rechtfertigen“ suchten. Besonders heftig habe dies in Deutschland stattgefunden.(2) Ähnlich beschreiben dies Ernst Piper und Volker Ullrich.(3)

Dem „Aufruf an die Kulturwelt“ folgte keine zwei Wochen später die „Erklärung der Hochschullehrer des Deutsches Reiches“ vom 16. Oktober 1914, in der es heißt: „In dem deutschen Heere ist kein anderer Geist als in dem deutschen Volke, denn beide sind eins, und wir gehören auch dazu.“ Für die „ganze Kultur Europas“ hänge „das Heil an dem Siege ..., den der deutsche ‚Militarismus’ erkämpfen wird“. Die vom Berliner Altphilologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff initiierte Erklärung trug die Unterschrift von rund 4.000 Hochschullehrern und damit fast dem gesamten Lehrkörper des deutschen Reiches.

Ein pazifistischer Gegenaufruf, den der Mediziner Georg Friedrich Nicolai im Dezember 1914 unter dem Titel „Aufruf an die Europäer“ verfasste, fand dagegen nur drei Unterzeichner unter deutschen Wissenschaftlern – den Physiker Albert Einstein, den Philosophen Otto Buek und den Astronomen Wilhelm Foerster (der vorher den Aufruf an die Kulturwelt unterschrieben hatte). Er wurde letztlich nicht in deutscher Sprache publiziert.

Albert Einstein bemerkte im Frühjahr 1915 zum Verhalten der Gelehrten zu Beginn des Kriegs: „Sollen wirklich spätere Jahrhunderte unserm Europa nachrühmen, dass drei Jahrhunderte emsiger Kulturarbeit es nicht weiter gefördert hatten als vom religiösen Wahnsinn zum nationalen Wahnsinn? Sogar die Gelehrten der verschiedenen Länder gebärden sich, wie wenn ihnen vor acht Monaten das Großhirn amputiert worden wäre.“

Kampf für „europäische Kultur“

Die pathetische Anrufung der Kultur diente als Deckmantel für die Verteidigung deutscher imperialistischer Interessen. Das zeigte besonders deutlich ein Aufruf Bonner Historiker vom 1. September.

Deutschland sei berufen, für „die edelsten Güter europäischer Kultur zu kämpfen“, heißt es darin, weil in Frankreich die „Prinzipien eines unduldsamen Jakobinertums, die Selbstsucht beutegieriger Parteien und die Beherrschung des politischen Denkens durch eine gewissenlose Presse“ herrschten. Russland wolle die slawischen Völker von germanischer Herrschaft befreien und unter sein Protektorat bringen, das nur „geisttötenden, grausamen und tückischen Despotismus“ biete, und England vertrete den „reinen materiellen Egoismus“. Es wolle die deutsche See- und Handelsmacht vernichten, „damit der Profit des Welthandels den Engländern ungeteilt zufalle“.

Die Universitäten waren Zentren von Kriegskundgebungen und ein Rekrutierungsfeld für Kriegsfreiwillige unter den Studenten und jüngeren Lehrern. Zugleich wurden hier die ideologischen Argumente für den Krieg formuliert. Insbesondere die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, die Vorläuferin der heutigen Humboldt-Universität, tat sich dabei hervor.

So wurde der Text des Aufrufs von Kaiser Wilhelm II. „An das deutsche Volk“ vom 6. August 1914 vom Berliner Theologen Adolf von Harnack gemeinsam mit dem Historiker Reinhold Koser ausgearbeitet. Der Aufruf enthält den berüchtigten Ausspruch: „Ich kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche.“

Zu den geistigen „Exzellenzen“ – wie sich Berliner Professoren gerne titulieren ließen – gehörten auch die Theologen Ernst Troeltsch und Reinhold Seeberg, der Jurist Otto von Gierke und die Historiker Hans Delbrück, Dietrich Schäfer, Otto Hintze und Friedrich Meinecke. Letzterer, der im Verlauf des Krieges zu den eher „liberalen“ Befürwortern eines Verständnisfriedens gehörte, bemerkte 1922 zum Verhalten der Berliner Professoren (einschließlich ihm selbst) zu Kriegsbeginn: „Wir standen mehr in der Front, als vor der Front.“

Selbst als die Kriegseuphorie angesichts der grausamen Menschenschlächterei längst verflogen war, gab die Mehrheit der Berliner Professorenschaft weiterhin Durchhalteparolen aus. So am 27. Juli 1916 im Aufruf „Der Wille zum Sieg“.(4)

Der Mythos von der Einheit des Volks

Das viel beschworene Augusterlebnis 1914, die einheitliche Kriegsbegeisterung des gesamten Volkes, war, wie zahlreiche Studien inzwischen belegen, ein Propagandamärchen. Noch in den letzten Tagen vor der Mobilmachung nahmen rund eine dreiviertel Million Arbeiter an Antikriegskundgebungen der Sozialdemokratie teil. Die Kriegserklärung des Kaisers löste in den Arbeitervierteln und auf dem Lande nicht Begeisterung, sondern Angst und einen Schock aus.

Erst der historische Verrat der SPD, die am 4. August 1914 den Kriegskrediten und dem Burgfrieden zustimmte, sowie die permanente Kriegspropaganda, die nun auch von der SPD-Presse betrieben wurde, zeigten Wirkung auch unter Teilen der Arbeiterklasse. Dagegen begrüßten die Mittelklassen, und besonders das Bildungsbürgertum, den Krieg und stellten sich demonstrativ auf die Seite der Monarchie und der Reichsregierung.

Der industrielle Aufstieg Deutschlands am Ende des 19. Jahrhunderts hatte eine extreme Verschärfung der Klassengegensätze mit sich gebracht, und Professoren, Gymnasiallehrer, Pfarrer und andere Akademiker fühlten sich durch das Erstarken der revolutionären Arbeiterbewegung zunehmend bedroht. Dies trieb das Bildungsbürgertum „nach rechts, an die Seite der alten Machteliten, und machte es aufnahmebereit für kompensatorische Ideologien wie Nationalismus und Militarismus“, schreibt Volker Ullrich.

Das Scheitern der Revolution von 1848 und die Einigung Deutschlands mit dem Schwert im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 hatte viele ehemalige Liberale in begeisterte Anhänger Bismarcks verwandelt.

Gegen Ende des Ersten Weltkriegs erklärte der Historiker Friedrich Meinecke rückblickend: „Das akademisch gebildete Bürgertum, einst in der Offensive gegen die alten herrschenden Schichten, dann zu einer gewissen Mitherrschaft mit ihnen vereinigt und zum Teil verschmolzen, fühlt sich nunmehr in der Defensive gegenüber allen Schichten, die durch den Übergang vom Agrarstaat zum Industriestaat entstanden sind – den breiten Massen der Arbeiter und Angestellten.“

Der Adel spielte noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine führende Rolle in Militär, Politik und auch in den akademischen Eliten. Die bildungsbürgerlichen Kreise, die sich als „geistige Aristokratie“ verstanden, bemühten sich, ihren Lebensstil an den der Adligen anzupassen – ihre Kleidung, die schlagenden Studentenverbindungen bis hin zur Übernahme der feudalen Tradition des Duells. Ihre militaristische Haltung paarte sich mit der elitären Ablehnung demokratischer Forderungen wie der Abschaffung des Dreiklassen-Wahlrechts.

Bereits 1895 beklagte sich der Bildungshistoriker Friedrich Paulsen über den grassierenden „inhumanen Hochmut“ der bildungsbürgerlichen Schichten. Er führe „durch Prunksucht und Schneidigkeit den Minderen die eigene Vornehmheit zu Gemüte“, den „lärmenden, phrasenhaften, bornierten Nationaldünkel, der sich für Patriotismus“ ausgebe.

Die Kriegspropaganda heutiger akademischer Eliten ist ebenso von „inhumanem Hochmut“ geprägt. Nur beschwören sie anstelle der „Kultur“ die „Menschenrechte“, um die Wiederkehr des deutschen Militarismus zu rechtfertigen.

Allerdings sind es nicht die Konservativen, die Ewig-Gestrigen, voller Stolz auf ihre Schmisse aus schlagenden Studentenverbindungen, die nun an der Spitze der Kriegspropaganda stehen. Stattdessen geben zahlreiche Veteranen der 68er Studentenrevolte, wie die Grünen Joschka Fischer und Ralf Fücks, den Ton an, die damals gegen den Vietnamkrieg und durch ihre Nazi-Vergangenheit belastete Professoren demonstriert hatten.

Geblieben ist ihr Klassendünkel – ihr „inhumaner Hochmut“ – gegenüber der Arbeiterklasse. 1968 äußerte er sich in einem der Frankfurter Schule entlehnten, tiefen Misstrauen gegen jede Art von Massenbewegung oder in der Schwärmerei für den Stalinismus maoistischer Prägung, heute in der offenen Unterstützung imperialistischer Kriegspolitik.

Der radikale Studentenprotest der 60er und 70er Jahre richtete sich nie gegen die kapitalistischen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft. Als die Arbeiterklasse in Frankreich und anderen Ländern in revolutionäre Kämpfe trat, beendeten die Studenten ihren Protest und integrierten sich in die etablierte Gesellschaft. Die Klassengrundlage ihrer jetzigen hysterischen Kriegskampagne ist dieselbe wie vor hundert Jahren: Feindschaft gegen die Arbeiterklasse, von der sie sich in ihrer privilegierten Stellung bedroht fühlen, und Unterwerfung unter die imperialistischen Interessen der herrschenden Klasse.

Anmerkungen

1) Jeffrey Verhey: Der 'Geist von 1914' und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000

2) Wolfgang Kruse in ders. (Hg.): Eine Welt von Feinden. Der Große Krieg 1914-1918, Frankfurt a.M. 1997

3) Ernst Piper: Nacht über Europa, Berlin 2013; Volker Ullrich: Die nervöse Großmacht 1871-1918, Frankfurt a.M., 1997, 2013

4) Zitate aus Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg, Reclam, 1975, 2014 sowie der Einleitung von Klaus Böhme von 1975.

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