Perspektive

Die verschwundenen mexikanischen Studenten

Es sind fast vier Wochen vergangen, seitdem die Polizei von Iguala in Mexikos verarmtem südlichen Bundesstaats Guerrero gewaltsam eine aus etwa 80 jungen angehenden Lehrern bestehende Gruppe attackierte. Von den Studenten starben mindestens sechs, siebzehn wurden verletzt und 43 sind „verschwunden“.

Die Studenten von der dörflichen „Normal“-Schule in Ayotzinapa protestierten gegen staatliche Kürzungen an ihrer Ausbildungsstätte und sammelten Spenden für eine Demonstration in Mexiko-Stadt, um des Tlatelolco-Massakers von 1968 zu gedenken, das eine der schlimmsten Gräueltaten der modernen Geschichte Mexikos darstellt; hunderte Studenten und Zivilisten wurden damals getötet.

Das jetzige Massaker an den Normalistas (wie die angehenden jungen Dorflehrer genannt werden) in Iguala markiert ein neues historisches Verbrechen, das zu großer öffentlicher Empörung, wütenden Protesten und Studentenstreiks in ganz Mexiko geführt hat.

Das genaue Schicksal der 43 verschwundenen Studenten ist nach wie vor ungeklärt. Einige der Mitstudenten, denen die Flucht gelungen war, berichteten, dass die Polizei sie einer örtlichen Drogenbande übergeben hatte, die als Guerreros Unidos (Vereinigte Krieger) bekannt ist. Alejandro Solalinde, ein mexikanischer Priester und Menschenrechtsaktivist, sagte diese Woche, dass Augenzeugen aufgetaucht seien, welche bekundeten, dass die Gangster mindestens einige der Studenten bei lebendigem Leibe verbrannt hätten.

Dieser schreckliche Vorfall demaskiert, wie staatliche Institutionen und Sicherheitskräfte unter dem Deckmantel des sogenannten „Kriegs gegen den Terror“ sich mit den Drogenkartellen verschmolzen und von diesen übernommen wurden. Mexikaner beschreiben diesen Prozess mit Begriffen wie Narcopolitica und Narcoestada; in ihn sind alle bürgerlichen Parteien involviert, von der Rechten bis hin zur sogenannten Linken.

Das Massaker unterstreicht auch die zunehmende Ungleichheit und barbarische Gewalttätigkeit, die Hand in Hand mit den mexikanischen „Reformen“ in der Marktwirtschaft gingen. Dieser Prozess hat sich in den drei vergangenen Jahrzehnten immer weiter vertieft und erreichte seinen Kulminationspunkt mit dem „Pakt für Mexiko“, den die gegenwärtig regierende PRI (Institutionelle Revolutionspartei) unter Präsident Enrique Peña Nieto mit Unterstützung aller anderen Hauptparteien ausrief.

Dieses Programm sieht unter anderem Maßnahmen vor, mit denen die letzten verbleibenden Errungenschaften aus der mexikanischen Revolution, die vor einem Jahrhundert stattgefunden hatte, ausgemerzt werden sollen, um das Land attraktiver für ausländische Kapitalinvestoren zu gestalten. Zu diesen Maßnahmen zählt auch eine Energie-„Reform“, die die monopolisierte staatliche PEMEX-Ölgesellschaft privatisieren und ausländischen Eignern öffnen soll, außerdem arbeitsrechtliche „Reformen“, die größere „Flexibilität“ bei Ausbeutung und Entlassung der Arbeiter vorsehen.

Der erste Schwerpunkt dieser reaktionären kapitalistischen Agenda, war indessen eine Bildungsmaßnahme, die darauf abzielte, Lehrer zu Sündenböcken zu machen und abzustrafen. Dabei wurde vollständig aus dem Blick genommen, dass die Krise des öffentlichen Bildungssystems lediglich Ausdruck der katastrophalen Infrastruktur und der tiefgreifenden sozialen Probleme ist. Das vergangenen Monat in Kraft getretene Gesetz zielt darauf ab, Bildung den Bedürfnissen des privaten Profits und der Wirtschaft unterzuordnen.

Die Normalistas, Mexikos idealistische zukünftige Lehrer, befinden sich unter den militantesten Gegnern dieser Art kapitalistischer „Reformen“. Es ist schwerlich ein Zufall, dass sie zum Ziel eines unaussprechlichen Gewaltaktes wurden.

Das Massaker von Iguala ist kein vereinzelter Zwischenfall. Seitdem Peña Nietos Vorgänger, Präsident Felipe Calderón, im Jahr 2006 den sogenannten Drogenkrieg ausrief, haben geschätzte 130.000 Mexikaner ihr Leben verloren und (gemäß eigener Zahlen der Regierung) 22.322 „Verschwundene“ werden vermisst.

Erst letzten Juni haben mexikanische Soldaten in der Stadt Tlatlaya 21 unbewaffnete Zivilisten exekutiert, darunter ein 15-jähriges Mädchen. Die Regierung versuchte erfolglos, dieses Massaker zu vertuschen.

Diese Methoden sind eindeutig nicht bloß eine Angelegenheit des Drogenkriegs, sondern erwachsen unweigerlich aus einer Gesellschaft, die durch unhaltbare Ungleichheit gekennzeichnet ist. Mexiko ist das ungleichste Land unter den 34 Mitgliedern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD): die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung haben ein dreißig Mal höheres Durchschnittseinkommen als die untersten zehn Prozent. Mexiko ist gleichermaßen Wohnstatt von Carlos Slim, des reichsten Mannes der Welt, und mindestens von fünfzehn weiteren Milliardären sowie einer Bevölkerung, die etwa zur Hälfte in Armut lebt. Der staatliche Mindestlohn wurde seit 1976 nicht mehr angehoben und hat in der Zwischenzeit 77 Prozent seiner Kaufkraft verloren.

Die offizielle Politik ist vollständig den Interessen der neuen Oligarchie und privilegierten Teilen der gehobenen Mittelklasse untergeordnet, die der Oligarchie am nächsten stehen. Alle Parteien sind in die blutigen Akte in Guerrero einbezogen, am unmittelbarsten die angeblich linken bürgerlichen Parteien, von denen sich verschiedene pseudo-sozialistische Organisationen angezogen fühlen.

Angehörige der von Cuauhtémoc Cárdenas gegründeten PRD (Demokratische Revolutionspartei) sitzen sowohl auf dem Posten des Gouverneurs von Guerrero als auch des Bürgermeisters von Iguala. Der PRD-Bürgermeister Jose Luis Abarca ist seitdem gemeinsam mit seiner Frau untergetaucht, die die Schwester eines der Hauptchefs der Drogenbande „Vereinige Krieger“ ist.

Unterdessen ist auch MORENA (Bewegung für die Nationale Erneuerung), die von Andrés Manuel López Obrador gegründet Partei, zutiefst in dieses System verwickelt. López Obrador, der ehemalige Bürgermeister von Mexiko-Stadt und Präsidentschaftskandidat der PRD, gründete MORENO, nachdem er die PRD „im besten Einvernehmen“, wie er selbst sagte, verlassen hatte. Er unterstützte Abarcas Kandidatur um das Bürgermeisteramt von Iguala auf Anraten von Lázaro Mazón Alonso, dem vormaligen Bürgermeister von Iguala, der ein Freund Abarcas ist und kürzlich seinen Posten als Gesundheitsminister von Guerrero räumen musste. Mazón, ein MORENA-Kandidat um das Gouverneursamt des Bundesstaates, erklärte unlängst, dass er „nicht für seine Freunde zur Verantwortung gezogen“ werden dürfe.

Bemerkenswert schweigsam zum Iguala-Massaker verhält sich die Obama-Regierung in Washington. Der US-Imperialismus hat bedeutende Interessen in Mexiko, das der drittgrößte Handelspartner der Vereinigten Staaten ist. Mexiko liefert amerikanischen Unternehmen umfangreiche Billiglohnarbeit. Die Billiglohnarbeiter, die in den Automontagebetrieben Maquiladora sowie anderen Industrien tätig sind, arbeiten direkt für den US-Markt. Die amerikanischen Finanz- und Ölkonzerne erwarten voller Ungeduld die Privatisierung der mexikanischen Ölindustrie sowie die Profitaussichten, die damit eröffnet werden.

Washington ist aufs Tiefste in die blutgetränkte Repression in Mexiko eingebunden. Es hat anlässlich der sogenannten Merida-Initiative dem Land Waffenlieferungen im Wert von etwa zwei Milliarden Dollar geleistet, Sicherheitskräfte ausgebildet und amerikanische „Berater“ über die Grenze entsandt. Es ist sehr gut möglich, dass die Polizisten, die an dem Iguala-Massaker beteiligt waren, von den Vereinigten Staaten bewaffnet und ausgebildet wurden. Und keineswegs ausgeschlossen ist es, dass diese Hilfslieferungen auch ihren Weg in die Hände der Gangster der „Vereinten Krieger“ fanden.

In den Wochen, die auf das Massaker folgten, bestand die einzige offizielle Stellungnahme Washingtons darin, amerikanischen Touristen zu raten, sich nicht an den Protesten wegen der verschwundenen Normalistas zu beteiligen. Dieses Stillschweigen ist ein klares Zeichen für die direkte Komplizenschaft mit der gewaltsamen Unterdrückung der Kämpfe der mexikanischen Arbeiterklasse.

Arbeiter, Studenten und Jugendliche in den Vereinigten Staaten müssen das Iguala-Massaker als eine ernste Warnung verstehen. Dieselben mörderischen Methoden werden auch nördlich des Rio Grande zur Anwendung kommen, sobald dort Massenkämpfe ausbrechen.

Die im gemeinsamen Produktionsprozess entlang der militarisierten amerikanisch-mexikanischen Grenze tätigen Arbeiter, dazu die Millionen mexikanischer Arbeiter, die in den Vereinigten Staaten selbst beschäftigt sind, bilden eine machtvolle objektive Basis für die Vereinigung der amerikanischen und mexikanischen Arbeiterklasse, welche den gemeinsamen Kampf gegen den gemeinsamen Klassenfeind zu führen haben. Erforderlich ist hierzu der Aufbau einer neuen revolutionären Führung, die auf dem sozialistischen und internationalistischen Programm des Trotzkismus gründet: Sie wird verkörpert durch das Internationale Komitee der Vierten Internationale.

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