Luxemburger Steuerbetrugsskandal erschüttert Europäische Union

Nur eine Woche nachdem Jean-Claude Juncker sein Amt als neuer EU-Kommissionspräsident antrat, ist ein Skandal über massive Steuervermeidung von Großkonzernen ausgebrochen, die in seine Zeit als luxemburgischer Premierminister fällt.

Ans Tageslicht brachte den Skandal das Internationale Konsortium investigativer Journalisten (ICIJ). Es veröffentlichte 28.000 Seiten zu durchgesickerten geheimen Steuerabsprachen und Rückzahlungen sowie weitere Dokumente, aus denen hervorgeht, dass über tausend Konzerne, die ihre Transaktionen über Luxemburg abwickelten, komplexe Vereinbarungen mit dem Großherzogtum trafen, um ihre andernorts angefallenen Steuerverpflichtungen zu reduzieren.

Die Enthüllungen bestätigen ein offenes Geheimnis: Eine umfangreiche Steuervermeidungsindustrie, zusammengesetzt aus Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsfirmen, Juristen und Unternehmenslobbyisten, die aufs Engste mit Regierungen zusammenarbeiten, hat ihren Dreh- und Angelpunkt in Luxemburg genommen, einem Land, das für seine Verschwiegenheit bekannt ist. Die „Einsparungen“ ihrer Klienten, die wenig bis überhaupt keine Steuern zahlen mussten, fließen den Aktienbesitzern zu und wurden Millionen von Arbeitern gestohlen, die mit ansehen mussten, wie öffentliche Dienste und das soziale Sicherheitsnetz ausgeschlachtet wurden.

Obzwar der Gesamtwert dieser Steuersparmodelle unbekannt ist, darf es als fast sicher gelten, dass er sich auf über eine Billion Euro seit dem Jahr 2000 beläuft. Dies ist Diebstahl in großem Maßstab, der an der großen Mehrheit der Weltbevölkerung begangen wird. Insoweit die Finanzoligarchie daran beteiligt ist, suchen die Konzerne sich selbst aus, wo und wie viel sie an Steuern entrichten wollen, wenn sie denn überhaupt welche zahlen.

Die Mehrzahl der Dokumente bezieht sich auf Klienten von PricewaterhouseCoopers’ (PwC). PwC ist eines der größten Steuerberatungsunternehmen der Welt und betätigt sich zugleich als Finanzberater von Regierungen bei Restrukturierungen des öffentlichen Sektors. Große Unternehmen nutzen schwer durchschaubare Netzwerke interner Kredite und Zinszahlungen, um ihre Steuerverpflichtungen zu mindern. Der Umfang dieser „Kredite“ steht in keiner Relation zu den wahren Bedürfnissen der Konzerne. Diese reduzieren darum ihre Steuerverpflichtungen, weil die Zinszahlungen sich im Produktionsland steuermindernd auswirken, während sie in Luxemburg Unternehmenssteuern von bloß einem Prozent entrichten.

Die Dokumente zeigen auf, wie 340 multinationale Gruppen, darunter Pepsi, Ikea, Accent (das globale Finanz- und IT-Dienstleistungsunternehmen, das aus dem Wirtschaftsprüfungsunternehmen Arthur Andersen hervorgegangen ist), Burberry, Procter & Gamble, Heinz, JP Morgan, FedEx, Coach (der amerikanische Luxushandtaschenhersteller), die Drogeriekette Abbott Laboratories, Amazon, die Deutsche Bank sowie die australische Finanz- und Infrastrukturgruppe Macquarie, in speziell dafür geschaffenen komplexen ineinandergreifenden Konzernstrukturen in Übereinstimmung mit den Luxemburger Behörden agieren.

Die Rolle Luxemburgs bestand darin, schriftliche Vereinbarungen anzufertigen, sogenannte Advance Tax Agreements (ATA), die auch als „Komfortbriefe“ bekannt sind, und die Steuerhinterziehungen zu maskieren. Zu den vorliegenden Papieren gehören 548 solcher Komfortbriefe, die von Luxemburg unterzeichnet sind.

Die britische Zeitung Guardian lieferte gründlich ausgearbeitete Analysen zahlreicher dieser Steuersparmodelle, die von bekannten Unternehmen in Anspruch genommen wurden, deren Vorstände regelmäßig in Regierungskommissionen sitzen, um zu Fragen öffentlicher Politik zu dozieren und sich darüber auszulassen, welche „Reformen“ gut für die „Wirtschaft“ seien. Keiner von ihnen geruhte, die Fragen des Guardian zu beantworten. Stattdessen kamen dem Blatt hohle und lügnerische Stellungnahmen zu, die jegliche Beteiligung an Steuerbetrug zurückweisen und behaupten, dass Steuern in den Ländern entrichtet wurden, wo die Profite gemacht wurden.

PwC lehnte es ab, die Fragen von ICIJ zu beantworten. Das Unternehmen behauptete, die Belege der Journalisten seien „veraltete“ und „gestohlene“ Informationen und der „Diebstahl wird von den zuständigen Behörden in die Hand genommen.“ Doch wie der Guardian bemerkt, führte eine Untersuchung in öffentlich zugänglichen Archiven zur Erkenntnis, dass diese Vereinbarungen nach wie vor Gültigkeit haben.

Neben den Aktienbesitzern sind die Konzernvorstände, deren Bonuszahlungen durch die vergrößerten Nettoprofite in die Höhe getrieben werden, die Nutznießer dieser Schwindelvereinbarungen. Auch die globalen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und ihre Schwestern, die Beratungsfirmen, sind Profiteure dieser Deals. Ihre Legitimität und ihre Profite ergeben sich aus ihrem staatlich garantierten Monopol auf gesetzlich erforderliche Jahresprüfungen der Finanzkonten der Konzerne. Diese gigantischen Firmen dominieren ihrerseits das International Accounting Standards Board (IASB), ein internationales Rechnungslegungsgremium, welches die Regeln bestimmt, die für die Finanz- und Steueroffenlegung verbindlich sind.

Junckers Ernennung zum Präsidenten der EU-Kommission als Nachfolger von Jose Manuel Barroso löste Kontroversen aus, die weitergehende Uneinigkeiten innerhalb der europäischen Mächte reflektierten, welche sich aus ihren widerstreitenden nationalen Interessen ergeben.

Die Opposition führte der britische Premierminister David Cameron an, der in Juncker die Personifizierung der föderalen Tendenzen innerhalb der EU sieht, welchen Großbritannien entschieden entgegentritt und dabei von Ungarn Rückendeckung erhielt. Bundeskanzlerin Angela Merkel, die zwar nicht erfreut darüber war, dass Juncker zum Kandidaten der konservativen Europäischen Volkspartei, dem größten Parteienbündnis auf europäischer Ebene, ernannt wurde, doch sie war angesichts dieser Herausforderung gezwungen, seine Nominierung zu verteidigen. Unterstüzung erhielt sie dabei von der Sozialdemokratischen Parteiengruppe Europas (SPE).

Juncker war während seiner insgesamt fast zwanzigjährigen Amtszeiten als luxemburgischer Premier- und Finanzminister verantwortlich für diese “Komfortbriefe” und Steuerumgehungsmanöver. Er leitete Luxemburgs Verwandlung in ein europäisches Steuerparadies, die das kleine Land, das mit seiner Bevölkerung von 540.000 Menschen kaum mehr als einen Stadtstaat darstellt, auf den zweiten Weltrang, nach Katar, beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf beförderte. Vergangenen Dezember musste er aufgrund seiner Rolle in einem Geheimdienstskandal von seinem Amt zurücktreten.

Seine erste Reaktion bestand darin, jegliches Fehlverhalten auf persönlicher Ebene und von Seiten Luxemburgs abzustreiten. Anschließend versuchte er, die Schuld auf die anderen europäischen Staaten abzuwälzen, weil diese es ablehnen, ihre nationale Steuersouveränität abzugeben, ihr eigenes „Fiskalinstrumentarium“ sowie „Steuersätze, denen es manchmal an Ausgewogenheit mangelt“ aufzugeben und sich nicht auf Gesetze zur Steuerharmonisierung einigen können.

Seine eigennützigen Behauptungen tragen einen wahren Kern in sich. Dies alles gestattete es Luxemburg und den Konzernen, sich in dieser Weise zu verhalten. Zahlreiche andere Staaten versuchen, ähnliche „Komfortbriefe“ auszustellen und einige weitere, wie Großbritannien, sogar mit dem Großherzogtum in Wettbewerb zu treten.

Er erhielt Rücktrittsforderungen vom Bündnis der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke, die aus 52 Mitgliedern in vierzehn Ländern besteht, von verschiedenen britischen Konservativen sowie vom prestigeträchtigen Finanzjournal Bloomberg. „Gerade jetzt kann man die Wichtigkeit nicht überschätzen, die wiederhergestelltes Vertrauen in die EU bedeuten würde,“ schieb Bloomberg in einem Leitartikel. „Die Union ringt darum, sich von der Finanzkrise zu erholen und wird zunehmend als elitär, herumdokternd und für unfähig angesehen, Fairness oder Wachstum hervorzubringen. Dabei kann es ihr kaum hilfreich sein, einen Mann zum Vorsitzenden zu haben, der im Wesentlichen seine gesamte Karriere damit zubrachte, Hinterzimmergeschäfte abzuschließen und auf Kosten anderer europäischer Länder eine internationale Steueroase zu errichten und zu betreiben.“

Darauf sprangen ihm EU-Parlamentarier aus der Europäischen Volkspartei und der sozialdemokratischen SPE zur Seite.

Jetzt hat der Mann, der Konzernen “Komfortbriefe” ausstellte, damit sie vom Bezahlen von Steuern ausgenommen werden, zugesichert, eine Kampagne gegen Steuerhinterziehung anzuführen! Unter dieser Kampagne stellt er sich vor, von Mitgliedsstaaten zu verlangen, gemeinsame Steuerregeln einzuführen und damit Schlupflöcher zu schließen, die es multinationalen Unternehmen gestatten, auf der Suche nach den niedrigsten Steuersätzen Finanzierungsmanöver zu entwickeln.

Diese schädlichen Enthüllungen verstärken nur den zunehmenden Hass auf die wirtschaftsfreundliche EU und die europäischen Regierungen, die regelmäßig blind sind für die ungeheuerlichsten Betrügereien der Konzerne, während sie gleichzeitig Sparhaushalte durchsetzen, die elementare Sozialdienste dem Boden gleich machen. Indem sie aber die normalerweise im Verborgenen stattfindenden Liebesdienste zwischen Regierungen und Konzernen ans Tageslicht zerren, zeigen sie den wahren Grund dafür auf, warum die öffentlichen Dienste und die Sozialausgaben „nicht mehr bezahlbar“ sind: nicht, weil die Bevölkerung älter wird, nicht wegen „Sozialschmarotzern“ oder Immigranten, sondern weil die Konzerne sich weigern, den Staaten, die ihnen hörig sind, Steuern zu entrichten.

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