Perspektive

Die Belagerung von Sydney

Ohne jede Rechtfertigung ergriff die australische Regierung die Gelegenheit eines isolierten Zwischenfalls mit einem zutiefst gestörten Mann im CBD-Bezirk von Sydney, um das ganze Arsenal der „Terrorabwehr“ zu aktivieren und einen Belagerungszustand im Zentrum der größten Stadt des Landes zu verhängen – mit tragischen Konsequenzen.

Was normalerweise als zwar schwerwiegende, aber immerhin reine Polizeiangelegenheit behandelt worden wäre, nämlich der Umgang mit einer Geiselnahme durch einen Bewaffneten in einem Innenstadtcafé, wurde durch die Intervention von Premierminister Tony Abbott zur nationalen Krise aufgebauscht. Er hatte dabei die Unterstützung der oppositionellen Labour Party, der Grünen, der Staatsregierung und der Medien.

Abbott wandte sich nicht nur einmal, sondern zweimal an die Nation und versprach der Regierung und der Polizei von New South Wales (NSW) die volle Unterstützung aller Bundesbehörden, der Polizei, des Militärs und der Geheimdienste. Hunderte Polizisten, darunter auch schwerbewaffnete paramilitärische Polizei des Tactical Assault Teams, überschwemmten das Zentrum von Sydney. Kilometerweit vom Ort des Geschehens entfernte Gebäude wurden gesperrt, der öffentliche Nahverkehr umgeleitet und Polizeipatrouillen verstärkt, selbst in Vororten von Sydney, der Hauptstadt Canberra und anderen australischen Städten.

Für diese umfangreiche Polizeioperation konnte kein vernünftiger Grund angegeben werden. Die Polizei fand ziemlich schnell heraus, dass der Geiselnehmer der iranische Flüchtling Man Haron Monis war, ein alter Bekannter. Das war ein Mann, der keine Verbindung zum Islamischen Staat im Irak und in Syrien (Isis), zu al-Qaida oder anderen islamistischen Extremistenorganisationen hatte, dafür aber große Probleme und eine Geschichte von erratischen Aktionen. Er war nur auf Kaution auf freiem Fuß in einer Sache, bei der es um die angebliche Beteiligung an der Ermordung seiner Ex-Frau ging.

Auch gab es keine sinnvolle Erklärung dafür, dass das Café in den frühen Morgenstunden des Tages gestürmt wurde. Der Polizeichef erklärte anfänglich, Polizisten seien in das Gebäude eingedrungen, weil Schüsse aus dem Inneren zu hören waren. Später lehnte die Polizei es ab, diese Version zu wiederholen. Das Ergebnis ist, dass der Geiselnehmer tot ist, wie auch zwei unschuldige Menschen: der Manager des Cafes und eine Mutter von drei Kindern. Vier weitere Personen wurden verletzt.

Von Anfang an war Abbotts Intervention darauf ausgelegt, die Situation aufzuheizen und ein Klima der Unsicherheit und der Furcht zu schaffen, und nicht etwa, sie zu beruhigen, um eine friedliche Lösung herbeizuführen. Die Polizei verhängte zeitweise eine Nachrichtensperre über die Ereignisse. Das hinderte die Medien nicht daran, sich mit Spekulationen über terroristische Verbindungen geradezu zu überschlagen. Dazu hielten sie sich an einer schwarzen Flagge mit arabischer Aufschrift fest. Fernsehsender unterbrachen ihr normales Programm und ergingen sich in ununterbrochener Berichterstattung über die Ereignisse im Cafe Lindt.

Der einzige Sinn dieser Hysterie besteht darin, Australien als ein Land im Belagerungszustand hinzustellen und den konstruierten “Krieg gegen den Terror” aufzublasen. Abbott nutzte die Gelegenheit, um eine Atmosphäre wie im Krieg zu schaffen, und das wird nun ausgenutzt werden, um eine weitere Eskalation der australischen Beteiligung an amerikanischen Militäroperationen, besonders im Nahen Osten, zu rechtfertigen und Polizeistaatsmaßnahmen im eigenen Land durchzusetzen. Im vergangenen Jahr war Canberra an amerikanischen Unternehmungen immer an vorderster Front beteiligt, sowohl an der Konfrontation mit Russland wegen der Ukraine, am neuen Krieg im Irak und in Syrien und an der „Konzentration auf Asien“ und der militärischen Aufrüstung der Obama-Regierung gegen China.

Im September führte die Polizei die größte “Antiterroroperation” überhaupt durch, an der mehr als achthundert Polizisten und Geheimagenten teilnahmen. Sie führten in Sydney und Brisbane Razzien im Morgengrauen durch. Wohnungen wurden verwüstet, Frauen und Kinder terrorisiert und fünfzehn Personen zu Verhören abgeführt. Nur eine Person wurde wegen eines Vergehens im Zusammenhang mit Terrorismus in Haft genommen, und das mit äußerst zweifelhafter Begründung.

Die Abbott-Regierung machte sich die phantasievolle Behauptung über eine Verschwörung zur Enthauptung eines australischen Bürgers auf offener Straße zu eigen, um die Entsendung von Militär in den Irak zu begründen und weitere undemokratische Antiterrorgesetze zu verabschieden. US-Außenminister John Kerry nutzte die angebliche Verschwörung sofort als Vorwand für den amerikanischen Krieg im Nahen Osten. Er sagte vor einem Kongressausschuss, Isis-Anhänger hätten in Australien eine „außergewöhnliche Brutalität geplant“.

Das Vorgehen der australischen Regierung gestern und heute stimmt mit dem internationalen Modus Operandi überein, der dazu dient, kriminelle Aggressionskriege und den Aufbau eines inländischen Polizeistaatsapparates zu rechtfertigen. Das Muster waren die Anschläge vom 11. September, die die Bush-Regierung ausnutzte, um den „Krieg gegen den Terror“ auszurufen und die Invasionen in Afghanistan und im Irak zu begründen.

Im April letzten Jahres wurde eine ganze amerikanische Großstadt praktisch unter Kriegsrecht gestellt, nachdem beim Boston-Marathon kurz vor dem Zieleinlauf zwei Bomben hochgegangen waren. Die Bevölkerung wurde angewiesen, zu Hause zu bleiben, während schwerbewaffnete Polizei und Nationalgardisten mit Unterstützung gepanzerter Fahrzeuge und von Kampfhubschraubern die Straßen kontrollierten und Häuser ohne Durchsuchungsbefehl durchsuchten.

Im Oktober reagierte die kanadische Regierung auf den Mord an einem Soldaten in der Nähe des Parlamentsgebäudes in Ottawa, indem sie die Innenstadt weiträumig abriegelte. Straßen wurden gesperrt und Tausende Regierungsangestellte, Einkäufer und Touristen ihrer Bewegungsfreiheit beraubt. Auch hier wurde die Tat eines Verwirrten ausgenutzt, um ein Klima der Angst zu schaffen und eine Rechtswende in der Außen- und der Innenpolitik zu bewirken. Kanadas Beteiligung am US-Krieg im Nahen Osten war ein Teil davon.

Die Abbot-Regierung folgt dem gleichen Drehbuch. Angesichts einer schnell vorwärtsschreitenden Wirtschaftskrise versucht sie scharfe soziale Spannungen nach außen abzulenken, indem sie den Vorreiter für die amerikanische Kriegspolitik in Europa, im Nahen Osten und Asien spielt. Gleichzeitig war der Belagerungszustand in Sydney eine Probe für massive Polizeiaktionen, die sich in der Zukunft gegen die Arbeiterklasse richten.

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