Perspektive

Le Pen im Elysée-Palast

Die Entscheidung des französischen Präsidenten Francois Hollande, Marine Le Pen, die Führerin des neofaschistischen Front National, in den Elysée-Palast einzuladen, um den Terroranschlag auf Charlie Hebdo zu diskutieren, ist ein Wendepunkt in der französischen Politik mit weitreichenden Konsequenzen.

Eine Partei, die seit ihrer Gründung 1972 eng mit den schlimmsten Verbrechen des europäischen Faschismus im 20. Jahrhundert in Verbindung gebracht wird, wird in den Status eines legitimen, um nicht zu sagen unverzichtbaren Bestandteils des politischen Lebens in Frankreich erhoben.

Beim Verlassen des Elysee gestern Morgen sagte Le Pen, dass Hollande zugesagt habe, eine nationale „Debatte“ über islamistischen Fundamentalismus zu führen. Das lässt eine Verschärfung der Kampagne erwarten, die fünf Millionen Muslime in Frankreich schlechtzumachen. Schon am Donnerstag hatte Le Pen die Wiedereinführung der Todesstrafe gefordert, die in Frankreich 1981 abgeschafft wurde.

Auch die rechte UMP (Union für eine Volksbewegung) setzt sich für den FN ein und dringt darauf, ihn an der „Kundgebung für nationale Einheit” teilnehmen zu lassen, zu der Hollandes Sozialistische Partei (PS) und die UMP für Sonntag aufgerufen haben. Nach dem Treffen von UMP-Führer und Ex-Präsident Nicolas Sarkozy am Donnerstag mit Hollande schloss sich das Politische Komitee der UMP Le Pens Forderung an, an der Kundgebung teilnehmen zu dürfen.

„Wir sind einstimmig der Meinung, dass es nicht zu akzeptieren ist, die Nationale Front von einer Demonstration für nationale Einheit auszuschließen“, erklärte Laurent Wauquiez, der Generalsekretär der UMP.

Die Implikationen dieser Erklärung sind besorgniserregend. Jahrzehntelang wurde der FN von UMP und PS (Parti Socialiste) auf nationaler Ebene als Paria behandelt. Er galt als Nachfahre des faschistischen Vichy-Regimes, das Frankreich in Zusammenarbeit mit Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg regiert hatte, und der UntergrundbewegungOAS (Organisation Armée Secrète, Geheime Armeeorganisation), die die französische Kolonialherrschaft in Algerien besonders fanatisch verteidigte. Der OAS war weithin wegen seiner brutalen Angriffe auf Arbeiter und Studenten in Frankreich und seiner Verteidigung der kriminellen Methoden im Algerienkrieg von 1954 bis 1962 verhasst, zu denen Folter und Bombenattentate gehörten.

Der Gründer des FN, Jean-Marie Le Pen, begann seine politische Karriere nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Verbreitung der faschistischen Zeitung Action Française und als Fallschirmjäger-Leutnant, der auch an Folterungen algerischer Unabhängigkeitskämpfer beteiligt war. Er stützte sich auf eine große Gruppe führender ehemaligen Nazi- und Vichy-Kollaborateure in den Reihen des FN, wie Roland Gaucher, einem verurteilten Kollaborateur, der im Zweiten Weltkrieg Jugendführer der National Popular Rally von Vichys Arbeitsminister Marcel Déat war.

Le Pen konnte sich immer auf die finanzielle Unterstützung einer Schicht reicher Förderer und die begrenzte Unterstützung von Leuten wie Präsident Francois Mitterand verlassen. Der Führer der Sozialistischen Partei, Mitterand, selbst ein früherer Vichy-Funktionär, sorgte in den späten 1980er Jahren dafür, dass die Medien dem FN größere Aufmerksamkeit schenkten. Mitterand wollte damit die Wählerbasis der Rechten spalten, um selbst an der Macht bleiben zu können, obwohl seine Sparpolitik außerordentlich unbeliebt war.

Weil Le Pen Faschismus und Massenmord rechtfertigte und den Holocaust als “Detail” der Geschichte verharmloste, nahm die herrschende Elite den FN erst nicht in den politischen Mainstream auf. Stattdessen stützte sie sich auf die PS und ihre pseudolinken Satelliten, von denen einige bemerkenswerte Wahlergebnisse erzielten, um Streikbewegungen und Proteste der Arbeiterklasse gegen Krieg und Sozialabbau zu unterdrücken.

Die aktuelle Wende, den FN zu fördern, ist ein Zeichen für eine tiefe Krise der kapitalistischen Herrschaft in Europa. Unter dem Druck der wirtschaftlichen Krise, internationaler Konflikte und zunehmender Klassenspannungen, für die sie keine Lösung weiß, wendet sich die europäische Bourgeoisie faschistischen Herrschaftsmethoden zu. Sie nutzt den Terroranschlag auf Charlie Hebdo, um den FN und den Faschismus zu legitimieren und den Aufbau eines Polizeistaats möglichst weit voranzutreiben.

Der FN hat vor allem seit dem Sieg der PS bei den Präsidentschaftswahlen 2012 stark an Unterstützung gewonnen. Teilweise hat er davon profitiert, das Jean-Marie Le Pen von seiner Tochter Marine an der Spitze der Partei abgelöst wurde, deren kalkuliertes Schweigen über die Verbrechen des Faschismus den Medien dabei hilft, sie der Öffentlichkeit besser zu verkaufen. Vor allem aber nützt ihr der Ansehensverlust der PS. Hollande ist inzwischen der unbeliebteste Präsident seit dem Zweiten Weltkrieg.

In einem nahtlosen Übergang von seinem konservativen Vorgänger Nicolas Sarkozy hat Hollande die Austeritätsagenda der Europäischen Union uneingeschränkt übernommen und den Lebensstandard der Arbeiterklasse massiv gesenkt. Auch Sarkozys Unterstützung der Kriegspolitik der Nato unter der Führung von Washington gegen muslimische Länder im Nahen Osten und Afrika führt er fort.

Das politische Gleichgewicht Frankreichs ist nachhaltig erschüttert. Die eingewanderten Arbeiter wollen nichts mehr mit dem politischen Establishment zu tun haben. Das macht es für al-Qaida möglich, desorientierte und rückständige Schichten von Einwandererjugendlichen anzuziehen.

Auf der anderen Seite glauben breite Teile der französischen Bevölkerung und der Arbeiterklasse, die über ihre verzweifelte soziale Lage aufgrund der Sparpolitik der PS aufgebracht sind, dass Marine Le Pen noch die beste Alternative für sie ist.

In dieser Lage hat die gesamte französische herrschende Klasse begonnen, die Karte Le Pen zu spielen, wie die deutsche Bourgeoisie mit Hitler gespielt hat, bevor Feldmarschall Paul von Hindenburg ihm im Januar 1933 die Macht übergab. Führende Strategen der französischen Bourgeoisie halten gewaltsame Konflikte mit der muslimischen Bevölkerung Frankreichs mehr und mehr für unvermeidlich.

Der Journalist Eric Zemmour, der zahlreiche Verbindungen zu rechtsextremen und pseudolinken Zirkeln hat, sagte der italienischen Tageszeitung Corriere della Sera letzten Monat, dass “Muslime in der französischen Bevölkerung werden uns Chaos und Bürgerkrieg bescheren”. Auf die Frage, ob er vorschlage, Millionen von Muslimen aus Frankreich zu deportieren, antwortete Zemmour, das sei gegenwärtig „unrealistisch“, fügte aber hinzu: „Die Geschichte nimmt überraschende Wendungen.“

Solche Bemerkungen müssen als Warnung verstanden werden, dass die Krise des europäischen Kapitalismus und auch die Krise der politischen Führung der Arbeiterklasse unmittelbare Bedeutung erlangt haben. Die Arbeiterklasse in Frankreich und in aller Welt muss daraus die angemessene Schlussfolgerung ziehen: Die wichtigste politische Aufgabe besteht darin, das Proletariat für einen revolutionären Kampf für den Sozialismus zu mobilisieren.

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