Massenmorde und Plünderungen bei Rückeroberung von Tikrit

Laut Medienberichten und öffentlicher Kritik von Vertretern der sunnitischen Araber im Irak haben schiitische Milizen seit der Rückeroberung Tikrits von Truppen des Islamischen Staates (IS) letzte Woche Massenhinrichtungen durchgeführt und in großem Stil geplündert und Eigentum zerstört.

Bis zu 76 Menschen wurden von Milizen standrechtlich hingerichtet. Danach schleiften sie deren Leichen durch die Straßen der eroberten Stadt, einer ehemaligen Hochburg des langjährigen Diktators Saddam Hussein. Milizionäre plünderten Läden und zündeten Häuser und Geschäfte an; teilweise erklärten sie, es handele sich um Vorsichtsmaßnahmen für den Fall, dass der IS Bomben zurückgelassen habe.

Die von den USA unterstützten schiitischen Milizen hatten einen Monat lang um Tikrit gekämpft; am 31. März konnten sie die Stadt schließlich vollständig erobern, nachdem sich amerikanische Kampfflugzeuge an den Kämpfen beteiligten und die letzten IS-Stellungen im Stadtzentrum zerstörten.

Ahmed Al Krayam, der Vorsitzende des Provinzrates von Salahuddin, erklärte Reportern: „In Tikrit herrscht das Chaos, die Lage ist außer Kontrolle. Polizei und Behörden könnnen die Milizen nicht aufhalten.“ Al Krayam und der Gouverneur der Provinz Salahuddin hatten die Provinzhauptstadt Tikrit am Freitagabend verlassen, um gegen die Unfähigkeit der irakischen Regierung zu protestieren, Plünderung und Morde einzudämmen.

Krayam äußerte gegenüber Reuters: „Häuser und Läden wurden niedergebrannt, nachdem sie alles daraus gestohlen hatten.“ Weiter erklärte er, hunderte von Gebäuden seien niedergebrannt worden: „Unsere Stadt wurde vor unseren Augen niedergebrannt. Wir können nichts dagegen tun.“

Walid Omar, ein Einwohner von Tikrit, der während der Kämpfe um die Stadt Anfang des Monats geflohen war, sagte in einem Interview mit dem Wall Street Journal: „Diese Geschichten über Plünderungen sind zu 100 Prozent wahr, und es bedeutet noch mehr Leid für die Bewohner von Tikrit. Der Islamische Staat hat die Bevölkerung aus Tikrit vertrieben, nachdem er sie schrecklich misshandelt hatte, und jetzt plündern die Milizen ihre Häuser und zünden sie an.“

Ein Grund für die Brutalität der schiitischen Kräfte war, dass Tikrit lange Zeit die politische Basis von Saddam Hussein war, der 1991 einen schiitischen Aufstand brutal niedergeschlagen hatte. Zudem hatten sunnitische IS-Kämpfer angeblich 1.700 irakische Soldaten in einem nahegelegenen verlassenen US-Militärstützpunkt namens Camp Speicher ermordet: zuerst hatten sie die sunnitischen Gefangenen aussortiert und freigelassen und danach die schiitischen Gefangenen massakriert.

Durch diese Rachemorde droht ein noch viel größeres religiös motiviertes Blutbad, wenn die schiitischen Milizen und das Militär des schiitisch dominierten Bagdader Regimes in hauptsächlich von Sunniten bewohnte Gegenden eindringen. Dazu zählen die Provinzen Anbar im Westen und Nineve im Nordwesten, wo sich Mossul, die zweitgrößte Stadt des Irak, befindet.

Am Freitag ermahnte der Sprecher des irakischen Parlaments, der Sunnit Salim al-Jaburi, die Regierung, gegen diejenigen vorzugehen, die „sich gegen die Sicherheit und Stabilität des Irak verschworen haben.“ Der schiitische Premierminister Haider al-Abadi erklärte, das Militär werde beginnen, in Tikrit Plünderer zu verhaften und vor Gericht zu bringen. Allerdings sind die Milizen in Tikrit den Truppen der regulären Armee zahlenmäßig im Verhältnis Vier zu Eins überlegen und damit in einer viel stärkeren Position.

Amnesty International kündigte am Donnerstag an, Berichte über „zahlreiche Menschenrechtsverletzungen“ durch schiitische Milizionäre während der Eroberung von Tikrit und anderer benachbarter Städte und Dörfer zu untersuchen.

Die leitende Krisenreaktionsberaterin von Amnesty International, Donatella Rovera, erklärte: „Wir untersuchen Berichte, laut denen letzten Monat zahllose Einwohner verhaftet wurden, von denen man seither nichts mehr gehört hat“. Sie besagten, dass „Häuser und Geschäfte von Einwohnern von Milizen geplündert und danach gesprengt oder niedergebrannt wurden“. Es gebe „auch Berichte über standrechtliche Hinrichtungen von Männern, die möglicherweise nicht an Kämpfen beteiligt waren, sondern einfach verhaftet und ermordet wurden.“

Die New York Times zitierte in einem Bericht vom 2. April Muen al-Khadimy, einen hohen Vertreter der Badr-Brigade, der stärksten schiitischen Miliz. Er behauptete, seine Gruppe habe in Tikrit keine IS-Kämpfer gefangen genommen. „Ehrlich gesagt, haben wir alle Gefangenen, die wir gemacht haben, getötet, sie waren schließlich der Feind“, erklärte er. Khadimy behauptete außerdem, man habe alle IS-Kämpfer für mögliche Selbstmordattentäter gehalten und daher aus Vorsicht getötet.

Am Freitag gaben auch Vertreter der USA vor Reportern zu, dass es in Tikrit zu standrechtlichen Hinrichtungen und Plünderungen komme. Sie warnten, solche Vorgänge könnten die von den USA angeführte Koalition gegen den IS schwächen, der auch die sunnitischen Monarchien am Persischen Golf angehören.

Ein Vertreter des US-Militärs sagte dem Wall Street Journal: „Es ist übel. Das ist nicht das, was wir wollen. Das ist nicht, was al-Abadi will.“

Frühere Berichte in der amerikanischen Presse hatten jedoch die zunehmende Zusammenarbeit zwischen dem US-Militär und den schiitischen Kämpfern hervorgehoben, die für die jüngste Welle von Gräueltaten im Irak verantwortlich sind. Die New York Times beschrieb „ein Muster für den Kampf gegen den sunnitischen Aufstand in anderen Teilen des Irak: Zuerst amerikanische Luftangriffe, danach vom Iran unterstützte Bodenangriffe. Das irakische Militär wird dabei zum Mittelsmann zwischen zwei internationalen Widersachern, die nicht zugeben wollen, dass sie zusammenarbeiten.“

Weiter hieß es in der Times: „Vertreter der USA erklärten diese Woche inoffiziell, das Muster könnte vor allem bei der bevorstehenden Schlacht um Mossul zum Einsatz kommen, der zweitgrößten Stadt des Irak.“

Dieser Artikel erwähnte auch die Aussage von General Lloyd J. Austin, dem Oberbefehlshaber des US Central Command, der in einer Anhörung vor dem Kongress offen erklärte: „Ich werde mich nicht mit schiitischen Milizen absprechen oder mit ihnen zusammenarbeiten - und ich hoffe, das werden wir nie tun müssen.“ Die Times zitierte die Antwort eines „hochrangigen Vertreters der Obama-Regierung“, der erklärte, Austin sei „etwas zu weit gegangen“.

Die Washington Post veröffentlichte einen Artikel über die Situation im Irak mit der Überschrift: „Nach dem Sieg in Tikrit ist die neue Herausforderung für den Irak, die Sunniten für sich zu gewinnen.“ Die Zeitung ging nicht darauf ein, wie das angesichts von religiös motivierten Massakern an Sunniten möglich sein soll.

Die Presse wiederholt in ihren Kommentaren einfach die Behauptungen der Obama-Regierung. Sie hat die irakische Streitmacht, die Tikrit erobert hat, als „multikonfessionelle Truppe unter Führung des irakischen Militärs“ bezeichnet, obwohl die schiitischen Milizen insgesamt mindestens 20.000 Mann umfassten, die regulären Truppen hingegen nur 4.000 Mann.

Die Berichte über Massenmorde in Tikrit bestätigen, dass der US-Imperialismus nicht in den Irak zurückgekehrt ist, um die Verbrechen und Massenmorde des IS aufzuhalten, sondern um das Marionettenregime zu stützen, welches durch den Einmarsch 2003 und die acht Jahre andauernde Besetzung des ölreichen Landes entstanden war.

Bereits vor dem Fall von Tikrit gab es zahlreiche Berichte über Verbrechen von Einheiten des irakischen Militärs und von den USA ausgebildeten und bewaffneten schiitischen Milizen, die denen des IS in nichts nachstehen. ABC News berichtete letzten Monat, dass bereits Ermittlungen wegen möglicher Kriegsverbrechen stattfinden, unter anderem wegen Folterungen, Hinrichtungen, Enthauptungen und Leichenschändungen. Einige davon sind auf Videos im Internet dokumentiert.

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